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II. Der den Backstein mit sich trug

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Das wohl bekannteste exilbezogene Gedicht von Brecht Über die Bezeichnung Emigranten spiegelt die zentrale Bedeutung der Grenze nicht nur in ihrer Überschreitung, sondern vorrangig als kollektive Positionsbestimmung des „wir“ im Exil wider: „möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste / Veränderung / Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling / Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend“.1 Es gilt, die Grenze scharf im Auge zu behalten, da sie dem Exilanten als Seismograf dient, dessen akribische Aufzeichnungen aufschlussreich sowohl für die Lage in der Heimat als auch für die Dauer des eigenen Verbleibs im Exil sind. Die Grenze wird somit zum erkenntniserweiternden Instrument, in dem jeder Grenzgänger zum Datenträger wird, dessen Informationen sofort eingeholt und sorgfältig ausgelotet werden. Doch bereits der Grenzgang selbst, als exilinitiierende Handlung, ist bedeutungsschwer und lässt sich in die Semiotik des Exils einfügen: „Sind wir doch selber / Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen / Über die Grenzen. Jeder von uns / Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht / Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt“.2

Im „Nichts“, das den Exilanten nach der Flucht über die Grenze erwartet, lässt es sich nicht leben, doch ist die Grenze nicht an erster Stelle eine Trennlinie zwischen „sein“ oder „nicht sein“, sondern vielmehr zwischen „haben“ und „nicht haben“, wobei das „nicht länger haben“, der materielle Verlust, für die Missstände im eigenen Lande steht. Das materielle Besitztum ist bei Brecht jedoch nicht neutral, sondern weist über das Dingliche hinaus auf die ökonomischen und politischen Zustände im Land. Auf das „Haben“ hatte er ein Recht, es stand ihm zu. Das Exil bedeutet materielle Entbehrung durch Diebstahl, was dem Verlust des Materiellen eine moralische Dimension verleiht. Die Dinge, die einem im Exil abhanden gekommen sind, zeugen auf beiden Seiten der Grenze von Verbrechen: in ihrem enteigneten kontinuierlichen Dasein wie auch in ihrer Abwesenheit. So auch in Brechts Gedicht Ich habe lange die Wahrheit gesucht:

Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich:

Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit.

Aber ich brauche auch mein Haus. Und seitdem

Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen.

Und man hat sie genommen.3

Die Wahrheit ist in den Dingen: in ihrer Brauchbarkeit und im Besitzverhältnis zu ihnen. „Die Wahrheit ist konkret“, heißt es auch im Gedicht An die dänische Zufluchtsstätte.4 Umso schwerwiegender ist der Akt des „Nehmens“, der Enteignung, die paradigmatisch für Rechtsverstoß, Verlust, Ausgrenzung und Exil steht. Im Exil werden die Dinge in ein neues Licht gerückt und das Verlorengegangene, dessen Fortbestehen jenseits der Grenze umso mehr schmerzt, wird wahrheitsstiftend. „Dem gleich ich“, schreibt Brecht 1938 im Motto zur Steffinischen Sammlung, „der den Backstein mit sich trug / Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah“.5 Dieses Haus findet sich immer wieder in den Exilgedichten zurück und gestaltet sich mitunter als ein paradiesischer Ort, aus dem man verstoßen wurde. Brechts Gedicht Zeit meines Reichtums schildert das Haus in bewusst idyllischen Tönen, insbesondere den umringenden Garten mit Teich, weißen Rhododendrenbüschen und alten Bäumen. „Wir sahen uns um: von keiner Stelle aus / Sah man dieses Gartens Grenzen alle“.6 Das Gedicht ist eine Elegie auf das verlorene Paradies, wobei auch hier das Besitzverhältnis hervorgehoben wird: „Vom Ertrag eines Stückes erwarb ich / Ein Haus in einem großen Garten“.7 Doch ihm sind nur sieben Wochen in diesem Paradies gegeben: Eine runde, biblische Zahl, die gleichzeitig die Zeit unmittelbar vor dem Exil festhält. Der Vertreibung aus dem Paradies und der Trennung von Hab und Gut folgt der Eintritt in das – materielle – „Nichts“. Der Kontrast zwischen „haben“ und „nicht (mehr) haben“ könnte stärker nicht sein: „Nach sieben Wochen echten Reichtums verließen wir das / Besitztum, bald / Flohen wir über die Grenze“.8 Die Schlusszeile des Gedichts, insbesondere die Verwendung des Verbs „fliehen“, betont das jähe Ende der paradiesischen Zustände und die Unabdingbarkeit des bevorstehenden Exils. Haften dem „Tritt“ des Geretteten ins Exil und der „Fahrt“ über die Grenze noch eine gewisse Autonomie an, deuten „Flucht“ und „Entkommen“ auf den Zwang, dem der Exilant zur Rettung der eigenen Haut nachgeben muss.

Grenze als Erfahrung und Diskurs

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