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„Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ – Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg
ОглавлениеBirthe Hoffmann
Ausgehend von einer Aufdeckung überraschender Affinitäten zwischen Büchners Dantons Tod und der ebenfalls deutlich postidealistischen Geschichtsdramatik Grillparzers, wird in Ein Bruderzwist in Habsburg Grillparzers Reflexion geschichtlicher Prozesse nach der Französischen Revolution angesichts des gespaltenen, unkoordinierten Charakters des metaphysisch heimatlosen Subjekts herausgearbeitet. In Grillparzers nüchterner Analyse der Dialektik von Ordnung und Chaos wird die Autonomie der Dramenfiguren aufgelöst zugunsten einer polyphonen, transpersonalen Reflexion von Fragen der Identität, Recht, Wahrheit, Erkenntnis und persönlicher Verantwortung angesichts einer allumfassenden Krise. Die widersprüchliche und offene Dramenstruktur erlaubt dem Zuschauer somit keinerlei Fixpunkte, und statt als tragisches Sinnangebot des individuellen Opfers an eine ideale Ordnung, erscheint der geopferte und vom Vater verneinte Menschensohn Don Cäsar lediglich als Stellvertreter künftigen Massentötens im Namen der Ordnung – ein Scheitern der Humanität, das nur noch mit einer grotesken Mischung aus Grauen und Lachen in die Zukunft blicken lässt.
Die Französische Revolution ist das Paradigma der Dialektik der Aufklärung, der Idee der Machbarkeit von Geschichte im Namen der Emanzipation, die sich vom Menschen als handelndes Subjekt verselbständigt und in totalitären Terror umschlägt. Sie markiert eine Schwelle in einem Modernisierungsprozess, der alle Aspekte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens umfasst, und löst somit nicht nur eine Krise monarchischer und republikanischer Gesellschaftskonzepte aus, sondern fügt sich zu den Erschütterungen erkenntnistheoretischer und metaphysischer Art, bei denen „Immanuel Kant, der große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“, wie Heinrich Heine 1834 bemerkte.1 Diese Krise koinzidiert außerdem mit dem dialektischen Umschlag der Anthropologie der Aufklärung, die nun der ‚dunklen‘ Seite des Menschen zunehmend Platz einräumen muss.
Indem aber Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis des Individuums in Frage gestellt wird, wird auch das handlungsmächtige, mit sich selbst identische Subjekt als Voraussetzung des klassischen Tragödienkonzepts, wie es seit Lessing in Deutschland entwickelt worden war, zunehmend fragwürdig. Die ästhetischen Konsequenzen dieser Krise wurde in den Geschichtstragödien Goethes und Schillers, deren idealistische Sinnangebote dem bürgerlichen Publikum des 19. Jahrhunderts die zunehmende Erfahrung von Kontingenz überbrücken halfen, erst ansatzweise gezogen.2 Dieser Beitrag soll zeigen, dass Grillparzer – wie sein Zeitgenosse Büchner – im Hinblick auf Personengestaltung, Sprache und Dramaturgie eine deutlich postidealistische Dramenästhetik entwickelt hat. Zwischen dem revolutionären Büchner und dem konservativen Grillparzer können überraschende Affinitäten beobachtet werden in Bezug auf die dramaturgische Umsetzung ihrer Reflexionen über die Dialektik von Chaos und Ordnung, Freiheit und Ohnmacht des Individuums in politischen Krisen, in denen auch Begriffe wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung zum Problem werden.
Wie Helmut J. Schneider dargelegt hat, hat Büchner in Dantons Tod (1835) – in direkter Anspielung auf Goethes Egmont – den ästhetischen Bruch mit der klassischen Tragödie der Goethezeit vollzogen, die „den tragischen Tod als Opfer an eine ideale Ordnung in geschichtsphilosophischer Perspektive (Familie, Menschheit, Gesellschaft, Nation)“3 verstand. Dass der König in der modernen, demokratischen Tötungsmaschine seinen Kopf verliert, ist auch ideengeschichtlich ein Schnitt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist:
Der König des Ancien Régime hatte dem Staat eine lebendige und überdauernde Gestalt gegeben; weit mehr als bloß eine politische Herrschaftsform nach Art der ihr folgenden, repräsentierte das Königtum – selbst in seiner durch das aufgeklärte Jahrhundert geschmälerten Geltung – eine kosmische Ordnung, in der der Mensch sich wiedererkennen und aufgehoben fühlen konnte. Dieser mythischen Ordnung stellte die Republik in einem gewalttätigen Schnitt die rationale Herrschaft des Gesetzes und der anonymen Institution entgegen. Sie setzte den Einzelnen in die Freiheit zur autonomen Selbstentfaltung – die politische Bedingung für das ‚moderne Individuum‘ – doch entzog sie ihm andererseits die Repräsentanz in einem übergeordneten gesellschaftlichen Gefüge. Umgekehrt verlor das staatlich-politische Handeln seine konkrete – personale Gestalt.4
Büchner habe „dem Königsmord der Revolution den Todesstoß gegen die klassische Dramaturgie hinzugefügt“, […] jenen „Darstellungsmodus historischen Geschehens, das in handlungsmächtigen und repräsentativen Individuen verkörpert und für die Zuschauer zum Leben gebracht wird.“5 Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Konsequenzen dieses Schnitts für die Dramenstruktur und Personengestaltung in Dantons Tod dargelegt werden, um anschließend die ungleichzeitige Modernität von Ein Bruderzwist in Habsburg deutlicher herausstellen zu können.6 Somit soll gezeigt werden, wie das um 1848 vollendete, 1872 posthum uraufgeführte Stück Grillparzers aus rezeptionsästhetischer Sicht Herausforderungen darstellt, die die Rezeption des Stückes bis ins späte 20. Jahrhundert erschwert haben7 und es an manchen Stellen in die Nähe des absurden Theaters nach 1945 rücken. Der Status als Klassiker, der Büchners Dantons Tod erst im 20. Jahrhundert zuteilwurde, sollte im Falle Grillparzers entsprechend revidiert werden: Nicht im Sinne des identitätsstiftenden Klassikerkults des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, der in unterschiedlichen politischen Konstellationen und geschichtlichen Kontexten immer wieder zur Stabilisierung nationaler Identität(en) eingesetzt wurde, sondern als Klassiker gemessen an der Fähigkeit des Werks, dank seiner Komplexität und Gestaltungskraft immer wieder neue Perspektiven für die Gegenwart zu eröffnen.