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Was ist Scham?

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Zunächst möchte ich Ihnen eine Metapher mit auf den Weg geben, sodass wir uns die Scham auch bildlich vorstellen können. Sie geht zurück auf Salman Rushdie. In seinem Roman Scham und Schande schreibt er:

»Stellen Sie sich Scham als eine Flüssigkeit vor, sagen wir, als ein süßes, schäumendes Getränk, das aus Automaten gezogen wird. Sie drücken den richtigen Knopf, und ein Becher plumpst unter einen pissenden Strahl der Flüssigkeit« (Rushdie 2019, S. 145).

So weit, so gut. Aber was ist, wenn zu viel Scham da ist? Was ist, wenn mehr Scham da ist, als das Gefäß aufnehmen kann? Kein Problem, schreibt Rushdie. Viele Kulturen haben Minderheiten ausgewählt, und deren Aufgabe ist es, all die Scham, die zu viel ist, die keiner will, zu der sich keiner bekennt, all diese Scham aufzuwischen, aufzusaugen und zu verkörpern. Und wir haben keine gute Meinung von »diesen Leuten«, zum Beispiel in hinduistischen Gesellschaften sind dies die sogenannten Parias, die Unberührbaren, die so sehr den »Abschaum« einer Gesellschaft verkörpern, dass nicht mal der Schatten eines Parias auf einen »richtigen« Menschen fallen darf.

In Peru, sehr eindrücklich, sind es die Leute von den Anden, die alles Böse, Schlechte in unsere »guten« Städte runterbringen – so die Bewohner der Küstenstädte. Im Nationalsozialismus waren das die Juden, die »Zigeuner«, die Osteuropäer. In dem schwäbischen Dorf, in dem ich aufwuchs, in den 50er-Jahren, gab es auch eine Familie, die galten als »Zigeuner«. Die waren der Schandfleck des Dorfes, mit denen hat keiner geredet. Diese Leute hatten drei Makel. Sie waren arm, sie waren Flüchtlinge, und sie wohnten in einem Holzhaus, während »anständige« Leute »natürlich« in einem Steinhaus lebten.

Bis heute gibt es in vielen Orten so eine Straße oder einen Stadtteil, über deren Bewohner von anderen nur verächtlich geredet wird. Wenn zum Beispiel in Freiburg im Breisgau jemand sagt, er komme aus dem Stadtteil »Weingarten«, folgt sofort eine verächtliche Reaktion.

Für viele Westdeutsche sind dies pauschal »die Ossis.« In vielen Teams beobachte ich die Einstellung: »Wir wären ein ganz tolles Team, wenn nur ›der X‹ nicht wäre.« Irgendwann geht X oder wird gegangen; und dann heißt es: »Wir wären ein super Team, wenn nur ›die Y‹ nicht wäre.«

Viele Schulklassen haben einen Schüler oder eine Schülerin in dieser Rolle. Immer ist es eine Minderheit. Und indem diese Minderheit ausgegrenzt wird, wird das Thema »Scham« sozusagen entsorgt. Das ist wie das alttestamentarische Sündenbockritual: Eine Gemeinschaft bindet symbolisch ihre Sünden einem Ziegenbock auf, dann wird der Ziegenbock in die Wüste gejagt, und damit sind die Sünden entsorgt.

Aber hier geht es um die Entsorgung von Scham, und sie ist viel elementarer, viel schmerzhafter, viel existenzieller als nur Sünde. Auf diese Weise wird Scham zu einem Nicht-Thema gemacht, zu einer tabuisierten Emotion. Sie ist eine Emotion, die wir oft nicht im Bewusstsein haben, obwohl sie so allgegenwärtig, eben in allen zwischenmenschlichen Begegnungen gegenwärtig ist.

Zum Beispiel hat Altenpflege natürlich mit Scham zu tun: Aber ich kenne Pflegeteams, da wird nicht über Scham geredet. Eine Teilnehmerin berichtete zum Beispiel: »Immer wenn ich bei Herrn X. klopfe, um ihn zu pflegen, beginnt er, die Pflegesituation zu sexualisieren. Mit dieser Erfahrung kam ich in eine Teambesprechung und musste mir dann von Kollegen und Leitung anhören: ›Damit muss man halt professionell umgehen.‹« Das heißt, die Kollegin wurde als unprofessionell beschämt, und das Thema war wieder vom Tisch. Anderes Beispiel: Sportlehrer haben natürlich jeden Tag massiv mit Scham zu tun. Doch Scham ist so gut wie kein Thema in der Sportlehrerausbildung.

Auch in der sozialwissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher Prozesse taucht das Thema »Scham« erstaunlich wenig auf, obwohl es so allgegenwärtig ist.

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