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Vom Areopag zur Agora: Die Entstehung der Demokratie

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CHARLOTTE HUBERT

Diese Geschichte fängt am Ende der Adelszeit Athens an. Die Stadt wurde in jener Epoche von einer Tyrannenfamilie beherrscht, die herkömmlichen Institutionen wie Volksversammlung, Ämter und Adelsrat (Areopag) existierten noch, wurden aber von der Tyrannenfamilie kontrolliert.

Griechische Helden

Die Hauptfiguren auf dem Weg, der die Athener von der Tyrannis zur Demokratie führte, zeigen ein klassisches Muster: Die Athener glaubten nämlich, dass ihre Demokratie dem heroischen Akt eines Liebespaares zu verdanken sei. Ein älterer Liebhaber namens Aristogeiton und sein jüngerer Gefährte Harmodios, beide aus hochadligem Geschlecht, auf der einen Seite und Hipparchos, einer der attischen Tyrannen, ebenfalls verliebt in den jungen Harmodios, auf der anderen Seite. Aristogeiton fürchtete, seinen Geliebten an den Tyrannen zu verlieren und zettelte zusammen mit seinen Freunden eine Verschwörung gegen die Tyrannen an. Ziel war die Ermordung des Hipparchos, aber auch die seines älteren Bruders Hippias. Das große Stadtfest zu Ehren der Göttin Athena, das so genannte Panathenäenfest, bot eine günstige Gelegenheit zum Losschlagen. Wie oft bei solchen Aktionen wurden die Freunde verraten. Der Tyrann Hipparchos wurde zwar noch mit einem Dolch erstochen, doch sein Bruder Hippias blieb am Leben und rächte sich grausam an den Verschwörern. Erst einige Jahre später, als die Spartaner mehrmals eine militärische Invasion nach Attika führten, konnte das Tyrannenregime gestürzt werden (510/09 v. Chr.). Obwohl so eigentlich die Spartaner die Entwicklung ins Rollen brachten, die Athen dann zur Demokratie führte, glaubten die Athener selbst, dass das Liebespaar Harmodios und Aristogeiton ihnen die Demokratie gebracht habe: Sie ehrten sie in Trinkversen, die Nachkommen genossen noch Verehrung und vor allem errichtete man den beiden – die man dann die Tyrannentöter nannte – verschiedene Denkmäler. Das berühmteste ist die von den Bildhauern Kritias und Nesiotes 477/76 v. Chr. errichtete, in römischen Marmorkopien erhaltene Statuengruppe. Sie wurde auf der Agora aufgestellt, jenem zentralen Wohnort und Marktplatz am Fuße des Burgbergs Akropolis und des Areshügels, dem Sitz des Areopags. Seit dem Sturz der Tyrannen verlagerten sich die bürgerlichen und politischen Tätigkeiten der Athener: Auf der Agora versammelte sich der Rat der Fünf hundert, das zentrale Regierungsorgan der Demokratie, dort fanden die zahlreichen Gerichtsverhandlungen statt, die die Zeitgenossen später als das Kernstück des demokratischen Lebens in Athen betrachteten.

Es war den Athenern sicher nicht angenehm, dass sie ihre Tyrannen nicht aus eigener Kraft verjagt hatten, sondern vielmehr erst die Spartaner zu Hilfe kommen mussten, um dies zu vollbringen. Ein romantisches Liebespaar, unglücklich und grausam ermordet, befriedigte demgegenüber die antike Sehnsucht nach Helden, nach heroischem Mut, und so kamen Harmodios und Aristogeiton den Athenern sehr zupass. Überhaupt ist die athenische Geschichte in der Epoche ihrer Höhepunkte – gemeinhin Klassik genannt – erstaunlich voll von unglücklichen Helden. Es sind die großen Figuren, die erfolgreichen Feldherren und Politiker, die stürzen, die zu Verrätern und Abtrünnigen werden und sich mit dieser Ambivalenz durch die Geschichten und Geschichtsbücher quälen: Kleisthenes, der große Reformer, sehr schnell von der politischen Bühne verschwunden, vielleicht sogar ein Kollaborateur des persischen Feindes. Miltiades, Retter der Athener in der Schlacht bei Marathon, stirbt elendiglich in einem attischen Kerker. Themistokles, der mit Genie und List bei Salamis nicht nur das Volk von Athen, sondern alle Griechen vor der barbarischen Knechtschaft bewahrt hatte, wird als vogelfreier Verräter von seinen Mitbürgern durch ganz Griechenland gejagt, bis er bei dem persischen Erzfeind wohlwollende Aufnahme findet. Themistokles, Aristeides, Perikles, Alkibiades – früher oder später sind alle diese glanzvollen Herren von ihren Feinden und Neidern, am Ende aber doch vor allem von der breiten Masse des attischen Volkes in der Volksversammlung und vor Gerichten als Verräter und Betrüger verurteilt und verbannt worden.

Trotzdem treten gerade sie als die Protagonisten in unseren Quellen auf, die die attischen Bürger aus einer aristokratisch geprägten Lebenswelt in die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, führen. Am Anfang gab es alles andere als die Aussicht auf Erfolg: Sparta lauerte auf der einen Seite, die Perser auf der anderen. Die Schnelligkeit war damals wie heute in der Rückschau der Historiker atemberaubend: Vom Sturz der Tyrannis bis zur unumschränkten Herrschaft der Athener in und um die gesamte Ägäis, von den ersten Schritten der Demokratie bis zur voll entwickelten Herrschaft der Masse vergingen gerade einmal fünfzig Jahre!

Die eigentlichen Umwälzungen, die Athen so nachhaltig veränderten, begannen erst in den Jahren, als die Spartaner die Tyrannen zum Abzug aus Athen gezwungen hatten und anfingen, sich in Athen festzusetzen. Der Kopf der Reformen war Kleisthenes, ein Adliger aus der uralten Familie der Alkmeoniden, einer der ältesten attischen Adelsfamilien. Diese Familie hatte seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. immer wieder die Geschicke Athens bestimmt und auch Kleisthenes selbst hatte schon lange eine maßgebliche Rolle in Athen gespielt, sei es in Kooperation mit den Tyrannen, sei in Gegnerschaft zu ihnen. Er hatte die Spartaner zu ihren Aktionen veranlasst und versuchte nun, seine Führerschaft in Athen fest zu etablieren. Dies gelang ihm nicht, er unterlag bei der Wahl zum höchsten Amt, dem Archontat, einem adligen Mitbewerber, dem ansonsten völlig unbekannten Isagoras. In diesem Moment wird ein entscheidender Wendepunkt in der athenischen Geschichte sichtbar: Kleisthenes hat diese Niederlage nicht hingenommen, sondern – wie es in den Quellen heißt – sich mit dem attischen Volk verbündet. Das politische Programm, das er in dieser Auseinandersetzung präsentierte und das in den folgenden Jahren zügig realisiert wurde, war die so genannte Kleisthenische Phylenreform.

Isagoras versuchte offensichtlich eine Art elitärer Adelsherrschaft einzurichten mit einer Begrenzung aller politischen Privilegien auf 300 seiner Anhänger. Die Tendenz dieser Politik wurde besonders deutlich, als Isagoras sich während der Auseinandersetzung zusammen mit den Spartanern auf der Akropolis verschanzte und in bewährter Manier versuchte, wie die Tyrannen sein Regime von dieser Burgfestung aus aufrechtzuerhalten.

Die Reform des Kleisthenes

Es war Kleisthenes, der, nachdem er in dem politischen Wettkampf schon unterlegen war, die überaus folgenreiche Wendung in seiner Politik vollzog. Er versuchte mit einer neuen Konzeption das Volk von Athen im Machtkampf mit Isagoras auf seine Seite zu ziehen. Ziel dieser neuen Konzeption, die man als isonomia bezeichnete, war eine gerechte Verteilung der politischen Macht, d. h. eine Verteilung auf alle Bürger. Konkret bedeutete dies wohl eher auf eine größere Menge der Bürger als bis dahin. Allerdings wurde die gesamte Bürgerschaft grundlegend neu organisiert. Dies führte vor allem zu einer neuen politischen Geographie Athens. Kleisthenes richtete zehn Phylen ein, Bezirke, die man mit Landkreisen vergleichen könnte – der Vergleich hinkt etwas; es wird gleich gesagt werden, warum – und die nun nicht mehr von den alten Adelsgeschlechtern dominiert wurden.

Die Basis und kleinste Einheit bildete die Gemeinde, die Deme, – demos bedeutet im Griechischen sowohl Volk als Gesamtvolk als auch Dorf bzw. Gemeinde – kleine, lokale Einheiten, Dörfer, von unterschiedlicher Größe. Diese Einteilung in Demen betraf die Stadt Athen und das umliegende Land von Attika gleichermaßen. Wir wissen nicht, wie viele solcher Dörfer es zu Kleisthenes’ Zeiten in Attika gegeben hat. Jedenfalls hatten sie eigene Versammlungsorgane und Beamte und konnten sich somit in unabhängiger Eigenregie verwalten.

Diese Dörfer wurden in den Phylen zusammengefasst. Weiterhin schuf Kleisthenes dreißig Unterabteilungen, die so genannten Trittyen („Drittel“), von denen jeweils drei einer Phyle zugeordnet waren. Wie viele Demen auf eine Trittys/ein Drittel kamen, war unterschiedlich und hing wohl von der Größe der Demen ab. An dieser Zusammensetzung der Trittyen zeigt sich, warum der Vergleich mit den Landkreisen hinkt: Eine Phyle setzte sich nämlich aus drei Trittyen, drei Teilen zusammen, wobei jedes Drittel zu einer anderen geographischen Region Attikas gehörte. Diese drei Regionen waren die Stadt, die Küste und das Landesinnere. Die Drittel lagen z. T. weit auseinander, manche durch Bergzüge getrennt. Es wäre etwa so, wenn man einen Landkreis aus einem Stadtteil Münchens, einer Region Oberbayerns und einer Region Niederbayerns zusammensetzen würde oder auch: aus einer Region Oberbayerns, einer hessischen und einer brandenburgischen. Daran ist gut zu erkennen, warum der Begriff Landkreis, also der rein regional abgegrenzte Bezirk, nicht auf die Phyle zutrifft. Diese Zusammensetzung aus Phylen und Trittyen war ein hochkompliziertes, organisatorisch die Regionen nach einem Zahlprinzip vermischendes Gebilde, das die politischen Formen der attischen Demokratie für die folgenden Jahrhunderte entscheidend prägen sollte.

Die Wahlen zu dem politischen Zentralorgan, dem Rat der Fünf hundert, liefen entsprechend nach repräsentativem Grundsatz von unten nach oben: über eine Vorwahl der zehnfachen Zahl der benötigten Ratsmitglieder in den Demen (nach Trittyen zusammengefasst) und eine Auslosung der eigentlichen Zahl aus den Vorgewählten nach Phylen. Am Ende dieses Auswahlverfahrens stellte jede der zehn Phylen fünfzig Ratsmitglieder. Da sich die fünfzig aber nicht nur aus den Demen, sondern aus den Demen innerhalb der Trittyen rekrutierten, also aus den Dritteln der drei Regionen, waren immer auch die Regionen Stadt, Binnenland und Küste gleichmäßig in das repräsentative System integriert.

Die attischen Bürger waren so einerseits fest an ihre Demen gebunden – im Gegensatz zur früheren Bindung an Abstammung und Adelsherren. Andererseits verhinderte die Vermischung der Regionen in den Phylen eine Ausprägung politischer Parteien, die sich auf bestimmte ökonomische, geographische oder aristokratische Privilegien stützen konnten.

Die soziale und regionale Bindung des Einzelnen lag ausschließlich in seiner Gemeinde, demgegenüber wird die Stadt zum politischen Zentrum. Die Zentralorgane befinden sich dort, die politischen Entscheidungen werden dort getroffen, auch die religiösen Akte, soweit sie die politische Gesamtheit der Bürger betreffen, werden dort durchgeführt, genauer gesagt: auf der Agora. Während die Akropolis zunehmend auf religiöse Festakte reduziert wird, konzentrieren sich die neuen Aktivitäten der attischen Bürger auf der Agora. Neben anderen Gebäuden errichtet man nun zum ersten Mal regelrechte Amtsgebäude: einen Versammlungsort für den Rat der Fünf hundert und die so genannte Königliche Stoa (Stoa Basileios) für die Amtshandlungen des höchsten Archonten (Archon Basileus). Die Ausstattung dieser Gebäude lässt einen neuen Anspruch erkennen: Für beide Gebäude werden dorische Säulen verwendet, eine Säulenform, die bis dahin den sakralen Bauten vorbehalten war. Wir sehen hier die ersten einer langen Reihe von grandiosen Bauten einer spezifischen, öffentlichen Architektur in Athen, die nur noch öffentlich-politische Funktionen haben (Dionysos-Theater, Odeion, Parthenon, Propyläen). Der religiöse Kontext wird nicht ganz aufgelöst, denn die rituell-kultische Einbindung der Politik blieb in der gesamten Antike bestehen. Aber es entsteht nicht nur politisch und ideell ein neues Zentrum: Mit dem Haus für den Rat der Fünf hundert ist auch ein Gravitationszentrum der Demokratie geschaffen worden.

Athenische Sieger und weibliche Perser

Man sieht in der politischen Entwicklung Athens deutlich, wie zunehmend die Frage nach der Macht innerhalb der Polis-Bürgerschaft hervortritt. Die große Auseinandersetzung mit den Persern, die unter der Führung von Athen und Sparta zurückgeschlagene Invasion des Perserheeres in Griechenland, brachte hier die entscheidende Wende. Der Sieg bei Marathon 490 v. Chr. wurde von den Athenern allein gewonnen. In offener Feldschlacht stürzten die bronzegepanzerten attischen Soldaten (Hopliten) unter der Führung des Miltiades gegen die persischen Truppen, metzelten sie nieder und drängten den Rest ins Meer. Danach erst – einen Tag zu spät – kamen die Spartaner zu Hilfe: vergebens, denn Athen hatte aus eigener Kraft einen der ruhmreichsten Siege der Antike errungen.

Danach zeigten sich in Athen innen- und außenpolitisch neue Tendenzen. Wahrscheinlich schon vor der Schlacht bei Marathon, ganz sicher aber danach haben die Athener mit einem gewaltigen Flottenbauprogramm begonnen, um sich für den erwarteten, erneuten Großangriff der Perser zu rüsten. Als dieser dann zehn Jahre nach Marathon tatsächlich erfolgte, war die gewaltige attische Flotte, 200 Schiffe, die regulär eine Besatzung von etwa 40 000 Ruderern erforderte – eine für damalige griechische Verhältnisse nie da gewesene Größe –, die Grundlage für den berühmten Seesieg bei Salamis über die persische Flotte. Die Initiative hierzu, nicht nur für das Flottenbauprogramm, sondern für die Gesamtstrategie der Ausrichtung auf eine Seemachtspolitik, ging auf Themistokles zurück. Man kann in ihm gut den Vertreter eines neuen Selbstbewusstseins sehen: ganz eng gebunden an die hervorragende Rolle Athens bzw. seiner Flotte in dem Kampf gegen die Perser, nicht nur 480 v. Chr. bei Salamis, sondern auch und vor allem in der folgenden Zurückdrängung der Perser aus der Ägäis und den ionischen Griechenstädten in Kleinasien.

Der Kontrast zu den Persern – öfter als verweichlichte, weibische Asiaten und Barbaren bezeichnet und gern in Frauenkleidung dargestellt – diente zur Herausarbeitung dieser spezifischen Eigenschaften: Der Kampf gegen die Tyrannis, die Bewährung im Krieg trotz der schlechteren Voraussetzungen, das mannhafte Ertragen von Armut und Härten sind die Charakteristika dieses neuen Selbstbewusstseins in Athen, das sich in der erfolgreichen Abwehr und Bekämpfung der Perser entwickelt und bestätigt hat. Die Auseinandersetzung mit den Persern war das entscheidende Moment in der Entwicklung der demokratischen Ideologie Athens. Einerseits war die persische Tyrannis das perfekte Gegenbild, an dem sich das neue Selbstbewusstsein des attischen Volkes hochstilisieren konnte, andererseits gaben die Siege über die Perser den Athenern und ihrer im griechischen Raum recht neuartigen Verfassung die entscheidende Legitimation. Innenpolitik wurde durch Außenpolitik bestätigt.

Eine besondere Wendung nimmt dabei das Schicksal des Themistokles. Er hatte die Grundlagen für den Sieg bei Salamis gelegt, ja wahrscheinlich geht der Plan auf ihn zurück, die Perser mit ihrer Flotte in den Sund zwischen der Insel Salamis und dem attischen Festland zu locken, wo man die persische Flotte vernichtend schlug. Einige Jahre nachdem er von allen Griechen triumphal gefeiert worden war, verbannten ihn seine Mitbürger allerdings. Durch weitere Missgunst verfolgt, musste er schließlich nach einer abenteuerlichen Flucht quer durch Griechenland bei dem Sohn und Nachfolger des von ihm geschlagenen Perserkönigs um Asyl bitten. In Magnesia am Mäander verbrachte er schließlich, hoch geehrt von seinen ehemaligen Feinden, seinen Lebensabend.

Scherben als politisches Mittel

Der neue Zusammenschluss Athens mit den Inselstaaten der Ägäis und kleinasiatischen Griechenstädten (mit dem modernen Namen delischattischer Seebund bezeichnet) wird für Athen zur Machtbasis. Die attische Flotte stellt dabei die Hauptstreitmacht, ein Teil der Bundesgenossen unterstützt sie mit eigenen Schiffen, andere Bündner zahlten jedoch stattdessen einen finanziellen Beitrag. In Delos, dem Zentrum des Bundes, wurde das Geld im Tempel des Apollon deponiert und die Bundesversammlung der Bündner abgehalten. Diesen Zusammenschluss entwickelte Athen zu einem hegemonialen Machtinstrument, das fast alle Ägäis-Inseln, Städte an der thrakischen Küste, auf der Chalkidike, am Hellespont, fast alle Städte an der Küste Kleinasiens, auf Kreta und Zypern sowie am Schwarzen Meer umfasste. Schnell wurden aber aus gleichberechtigten Bündnern Untertanen, die an jedem Versuch, den Bund zu verlassen, mit roher Gewalt gehindert wurden. Jeder Abfallversuch wurde mit Enteignung, Versklavung und hohen Reparationen bestraft. Die Herrschaft des Volkes wurde so zu einer Herrschaft über Völker.

Eine solche Zuspitzung auf die Machtfrage ist besonders in der inneren Entwicklung Athens zu erkennen. Es entsteht eine politische Praxis, die typisch für die attische Demokratie werden sollte: die konsequente Beseitigung der eigenen, erfolgreichen Anführer. Zuerst ist es der so genannte „Ostrakismos“, das Scherbengericht (von griechisch ostrakon, „Scherbe“), mit dem die Athener die Machtfrage im Inneren beantworten. Die moderne Bezeichnung als ,Gericht‘ ist eher irreführend, denn bei diesem Verfahren gab es weder Ankläger noch Verteidiger oder etwa überhaupt einen geregelten Prozess. Vielmehr wurde ohne Verfahren, d. h. ohne irgendeine Form der Anhörung möglicher Betroffener oder Ankläger, eine Bürgerabstimmung durchgeführt. Auf jeweils eine Tonscherbe schrieb ein attischer Bürger den Namen desjenigen Politikers, den er gern in der Verbannung sehen wollte. Auf wen auch immer die Mehrheit der Namensnennungen entfiel – es traf nämlich manchmal sogar Philosophen oder Künstler –, er hatte umgehend Attika zu verlassen und durfte für zehn Jahre nicht zurückkehren. Zwar blieben ihm Bürgerrecht und Vermögen erhalten, aber politische Karrieren wurden auf diese Weise sehr plötzlich beendet.

Wann man in Athen begann, mit dieser Methode missliebige Politiker auszuschalten, ist strittig. Möglicherweise ist Kleisthenes selbst – dem die Einführung dieses Verfahrens zugeschrieben wird – bereits das erste Opfer gewesen. Unwahrscheinlich ist es nicht, denn nach seiner großen Reform ist er offenbar von der politischen Bühne Athens verschwunden. Er soll noch um 506 v. Chr. eine Gesandtschaft an den Hof des Perserkönigs geführt haben, die in einem Vertragsabschluss mündete. Da aber ein Vertrag mit dem Perserkönig immer eine Unterwerfung erforderte, ist die Nachricht entweder falsch oder die Athener wollten nach seiner Rückkehr davon nichts wissen. Das würde nicht nur sein Verschwinden, sondern auch einen erfolgreichen Ostrakismos gegen ihn erklären. In jedem Fall war aber seine lange politische Karriere, die in der erfolgreichen Grundlegung der Demokratie in Athen mündete, sehr unvermittelt beendet. Die erste sicher überlieferte Durchführung eines Ostrakismos gehört in das Jahr 487 v. Chr. Und erst seit diesem Jahr entfaltete er seine eigentliche politische Sprengkraft. Hauptvorwurf war stereotyp Medismos (Perserfreundlichkeit), d. h. der Verdacht auf Verrat. Doch die hinter den Jahr für Jahr durchgeführten Exilierungen adliger Politiker stehende Intention war die Entmachtung der einst herrschenden Aristokratie. In einer kleinen Schrift über die attische Verfassung benennt Aristoteles die Gründe: Gestiegenes Selbstbewusstsein des Volkes nach dem großen Sieg über die Perser bei Marathon, gleichzeitig jedoch auch anwachsendes Misstrauen gegenüber den adligen Führern. Genauso beschreibt Plutarch in einer Biographie des Aristeides, wie dieser erfolgreiche Feldherr, der schon an der Seite des Miltiades bei Marathon gekämpft und später den Beinamen der ,Gerechte‘ hatte, durch die eifersüchtige Missgunst seiner Mitbürger zu Fall kam: Wie jedes Jahr seien die Athener zu ihrem routinemäßig veranstalteten Ostrakismos zusammengekommen. Ein unbeholfener Bürger, der selbst nicht schreiben konnte, bat Aristeides, den er nicht persönlich kannte bzw. erkannte, den Namen ,Aristeides‘ auf seine Scherbe zu schreiben. Aristeides fragte ihn, was dieser Aristeides ihm denn für ein Übel angetan hätte. „Keines!“ war die Antwort. „Ich kenne ihn gar nicht! Aber ich kann es nicht mehr hören, dass er überall der ,Gerechte‘ genannt wird.“ Aristeides soll darauf hin wortlos seinen eigenen Namen aufgeschrieben und anschließend in das zehnjährige Exil gegangen sein (Plutarch, Aristeides 7,5–6). Allerdings ist er der wohl ausnahmslos einzige Fall, der aufgrund einer kurz danach erfolgten, allgemeinen Amnestie zurückkehren und seine Karriere als der ,Gerechte‘ fortsetzen konnte.

Gleichzeitig mit dem Einsatz des Ostrakismos durch die Volksversammlung zur Entmachtung der aristokratischen Führer ist eine Maßnahme, die ähnliches politisches Gewicht hatte: Seit 487 v. Chr. wurden die Archonten, die höchsten Beamten Athens, durch das Los bestimmt, während sie bis dahin immer direkt gewählt worden waren. Diese politische Entwertung des Archontats hatte zur Folge, dass seitdem kein attischer Politiker als Archon hervortrat. An diese Stelle trat das Strategenamt, ursprünglich ein rein militärisches Amt. Seit 487 v. Chr. waren die zehn Strategen nun die Einzigen, die jährlich aus den zehn Phylen direkt gewählt wurden. Diese Form der direkten Volkswahl gab ihnen so viel Prestige, dass politische Führerschaft von da ab in Athen ausschließlich über dieses Amt existierte.

Die Rolle des Areopags

Die unauf haltsame Aufstieg der attischen Bürger zu einer auf allen Ebenen wirklichen Herrschaft des Volkes scheint – wenn man einigen Quellen Glauben schenken darf – aber ein paar Jahre später, nach dem großen Sieg der Griechen über die Perser bei Salamis (480 v. Chr.), unsanft unterbrochen worden zu sein. Jedenfalls behauptet die kleine Studie des Aristoteles über die attische Verfassung, dass nach dieser Schlacht eine der ältesten und ehrwürdigsten Institutionen der Athener das Ruder des Staatsschiffes ergriffen habe. Nach diesem epochalen Sieg sei nicht etwa wie nach Marathon ein weiteres Erstarken des Volkes zu beobachten gewesen, sondern der Rat des Areopags habe die führende Rolle in Athen übernommen. Er setzte sich aus ehemaligen Archonten zusammen, den obersten Beamten Athens, die aber zu dieser Zeit auch schon nicht mehr aus den allerreichsten Kreisen, sondern nur noch aus denjenigen der Wohlhabenden stammen mussten. Man sollte aber bedenken, dass die Reichen und Wohlhabenden in dieser Zeit nicht alle mit vierzig oder fünfzig Jahren starben, sondern ein durchaus beträchtliches Alter erreichen konnten. So ist anzunehmen, dass dieser Rat des Areopags doch noch ein Reservat der Reichen und Adligen war, der seine Prägung in der Zeit vor dem Erstarken der Demokratie erfahren hatte. Sinn macht die Geschichte von der ‚Machtergreifung‘ des Areopags allerdings nur, wenn man damit das Bild des Wiederaufstiegs der Aristokratie und ihrer institutionellen Dominanz verbinden kann. Von späteren Quellen wird der Areopag gern als Hüter des Gesetzes, als Wächter über die Beamten Athens, ja als Wächter der Verfassung bezeichnet, ihm wird auch eine allgemeine Sittenaufsicht zugeschrieben. Vor dem Hintergrund der alles durchdringenden Institutionen der Demokratie scheint hier wohl eher die Sehnsucht nach guten alten Zeiten durch.

Folgerichtig soll dann aber auch 17 Jahre später ebendiese Herrschaft des Areopags wieder gestürzt worden sein: Ein gewisser Ephialtes, tatkräftig unterstützt von Themistokles, soll die Areopagiten mit einer Serie von Prozessen überzogen haben, diesem altehrwürdigen Rat sämtliche Befugnisse geraubt und ihn auf einen simplen Gerichtshof für Mordprozesse reduziert haben. Seine politischen Machtbefugnisse seien dann auf den Rat der Fünf hundert, die Volksversammlung und die Volksgerichte übergegangen.

Diese Überlieferung ist nun allerdings eher fragwürdig und es steht ihr entgegen, dass für die Zeit vor und nach Salamis weder etwas von einer Verschiebung der politischen Gewichte innerhalb des politischen Gefüges in Athen bekannt ist, noch die einzelnen Ereignisse selbst in den anderen Überlieferungen eine Spur dieser Vorrangstellung des Areopags zeigen. So belegt die Darstellung, die der zeitgenössische Geschichtsschreiber Herodot von den Ereignissen im Umfeld der Schlacht von Salamis gibt, zwar eine aktive Rolle des Areopags bei der Evakuierung Athens, die der Seeschlacht von Salamis vorausging, doch war gleichzeitig die Flotte unter den Strategen in vollem, gut organisiertem Einsatz. Auch die Taten des Themistokles sowie der anderen athenischen Politiker geben keine Hinweise auf eine Dominanz des Areopags in diesen Jahren.

Wenn es nun aber keinen Aufstieg des Areopags und somit keine Wiederauferstehung des alten aristokratischen Einflusses gegeben hat, dann fällt eine andere, lieb gewordene Figur in sich zusammen: ohne Aufstieg kein Fall! So kann es also auch den berühmten Sturz des Areopags nicht gegeben haben, den die ansonsten eher verschwommen bleibende Gestalt des Ephialtes verursacht haben soll. Wenn man an Aufstieg und Sturz des Areopags glauben will, dann kann man Ephialtes wohl die Rolle des Vollstreckers geben, der den Athenern endlich zum Durchbruch einer radikalen Volksherrschaft verhalf. Da er einige Jahre später einem heimtückischen Mordanschlag zum Opfer fiel, reiht er sich nahtlos in die Zahl der gescheiterten oder gestürzten Helden ein. Jedenfalls konnte er sein vermeintlich großes Werk der radikalen Demokratie nicht zu Ende führen und musste die Bühne dem nächsten dieser typisch attischen Helden, nämlich Perikles, überlassen.

Andererseits beschreibt eines der Tragödienstücke des attischen Dichters Aischylos aus einer zeitgenössischen Perspektive genau eine solche dominante Phase des Areopags. Im letzten Stück einer Trilogie, den Eumeniden, steht der Muttermörder Orest vor einem Gericht, nämlich vor dem von der Göttin Athena in Athen neu eingesetzten Areopag. Das alte Vergeltungsrecht soll durch ein förmlich eingesetztes Gericht abgelöst und das Urteil durch eine von diesem Gericht durchgeführte Abstimmung gesprochen werden. Bei der Abstimmung entsteht jedoch Stimmengleichheit. Athena hatte ihr Votum zusätzlich zu den Stimmen der menschlichen Richter abgegeben. So konnte Athena den Ausschlag zugunsten von Orests Freispruch geben. Die Einsetzung des Areopags und die Abstimmungsszene, die das ganze Drama hindurch erkennbare Spannung zwischen Altem und Neuem, der Sieg des Rechtsprinzips über die alte Blutrache, das Prinzip der Entscheidung durch Verfahren, der grundsätzliche Wandel in der Politik, wird als Ausdruck einer Wendung zur neuen Ordnung in der Polis Athen verstanden. In der dramatischen Darstellung ist immer wieder ein Bezug auf den historischen Areopag gesucht worden. Die Tragödie ist 458 v. Chr. in Athen aufgeführt worden. Der so genannte Sturz des Areopags soll 461/60 v. Chr. stattgefunden haben – es würde sich im Zeitbezug alles gut fügen.

Es gibt jedoch einige widerständige Aspekte: Im Unterschied zum Drama weist die historische Situation auf „Entmachtung“ des Areopags, während der Dichter die förmliche Einsetzung, ja Neueinrichtung des Areopags als Institution mit neuer Satzung für die Bürgerschaft durch die Göttin Athena beschreibt. Steht der Areopag bei Aischylos für eine neue Ordnung, für die Zukunft, so ist er im historischen Kontext Sinnbild des Alten, das beseitigt wird. Zu allem Überfluss gibt es in der Überlieferung mehrere Helden, denen die Großtat zugeschrieben wird: Neben Ephialtes hat Aristoteles noch Themistokles, Plutarch wiederum meint, dass Perikles der eigentliche spiritus rector gewesen sei. Themistokles war aber zu dem Zeitpunkt, an dem der Sturz sich zugetragen haben soll, längst im persischen Exil und Perikles noch eine Randfigur.

Wahrscheinlich führt ein anderer Faden aus diesem Labyrinth: Die vielen gescheiterten und gestürzten Helden verdecken eher die Sicht auf die Entwicklung, als dass die Betrachtung ihres Schicksals auf dem Weg der attischen Demokratie vom Areopag zur Agora Klarheit herstellen könnte. Die Veränderungen, die sich aus der Geschichte des Rates der Fünf hundert und der Volksgerichte erkennen lassen, weisen auf eine eher undramatische Neuordnung der Gerichtsbarkeit, die zwischen 470 und 450 v. Chr., wahrscheinlich in mehreren Stufen, durchgeführt wurde. Offenbar verband man damit eine neue Ordnung der politischen Gerichtsbarkeit, die die ständige Überprüfung aller Funktionsträger dem Rat der Fünf hundert und den Volksgerichten zuordnete. Vielleicht hat eine solche Aufsicht früher einmal beim Areopag gelegen, aber seit Kleisthenes wird die Stellung des Rates der Fünf hundert ausgebaut und seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. erkennt man in den Volksgerichten die andere große politische Kraft. Wie wichtig den Athenern ihre Volksgerichte waren, zeigen die vielen Witze, die später in der attischen Komödie die zahlreichen Gerichtshöfe als das Merkmal der Stadt Athen nennen. Die Richtertätigkeit war offenbar die Lieblingsbeschäftigung der Athener Bürger, sicher nicht nur, um einem Zug zur Prozesswütigkeit nachzugeben, sondern auch, weil so die engmaschigste Kontrolle der Politiker möglich war.

Kontrolle über die Politiker

Die in Athen übliche Form der Rechenschaftslegung für Politiker und alle anderen Funktionsträger war die euthyna. Sie wurde extensiv betrieben: Alle Priester, Gesandten, militärischen Befehlshaber, Finanzbeamte, Aufsichtspersonen, Mitglieder des Areopags, alle 500 Ratsmitglieder mussten am Ende ihrer meist einjährigen Amtszeit sämtliche Abrechnungen zur Revision vorlegen. Während dieser Prüfung lud man sie vor einen der zahlreichen Gerichtshöfe. Diese bestanden alle aus Laienrichtern, die über ein Losverfahren bestimmt wurden. Bei einer solchen Gerichtsverhandlung konnte jeder Bürger hervortreten und den jeweiligen Amtsträger anklagen. Selbst wenn die Abrechnungen gebilligt und als korrekt erwiesen worden waren, musste immer noch einmal ausdrücklich gefragt werden, ob nicht doch noch jemand eine Anklage erheben wolle. Dann erst stimmten die Richter – üblicherweise waren es 501 – ab; es folgte noch eine zweite Stufe der Überprüfung. Dabei mussten sich die jeweiligen Amtsinhaber für alle anderen Vergehen verantworten, die sie begangen haben könnten. In diesen Verfahren war sogar die Todesstrafe möglich.

Neben einer Überprüfung vor dem Amtsantritt war auch während der Amtszeit eine engmaschige Kontrolle üblich. Darüber hinaus konnte ein attischer Funktionsträger, aber vor allem die attischen Politiker jederzeit ganz allgemein wegen Verrats angeklagt werden (eisangelia). Gerade diese allgemeinen Anklagen wurden gern gegen die höchsten Funktionsträger gerichtet, so dass sich später der berühmte Redner Demosthenes in seiner Ersten Philippika beklagte:

Jetzt dagegen ist es zu dem schändlichen Zustand gekommen, dass jeder der Strategen zwei- oder dreimal vor euren Gerichten auf Leben und Tod angeklagt wird, dass aber keiner von ihnen auch nur einmal im Kampf gegen die Feinde sein Leben einzusetzen wagt. Vielmehr ziehen sie den Tod des Räubers und Diebes einem Ende, das ihnen angemessen ist, vor. Denn der Verbrecher soll gemäß richterlicher Entscheidung sterben, der Stratege aber im Kampf gegen die Feinde.

(Demosthenes, I. Philippika 47)

Wie konnte es zu diesem Zustand kommen, der nicht nur in der Antike als Höhepunkt in der Entwicklung der attischen Demokratie betrachtet wurde? Interesse der Öffentlichkeit an Recht und Gesetz ist für die griechischen Poleis natürlich ein geläufiges Phänomen. In Athen jedoch hatten die Gerichte einen ganz besonderen Stellenwert. Ausschlaggebend hierfür war ein Gesetz des Perikles, das in den 60er-Jahren des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Besoldung attischer Richter einführte. Grundsätzlich gab es eine Besoldung aus öffentlichen Geldern bis dahin nur für militärische Tätigkeiten. Eine weitergehende Besoldung für andere Tätigkeiten stellte eine Neuheit dar und rückte damit das Richteramt in einen eindeutig politischen Kontext. Die Bezahlung von politischer Aktivität ermöglichte für wirtschaftlich abhängige Bevölkerungsschichten eine unabhängige politische Betätigung, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Damit war auch für einfache Bürger, die als Tagelöhner oder Handwerker ihren Lebensunterhalt verdienten, erstmals das Fundament für eine wirklich breite politische Aktivität gegeben. Die Tätigkeit als Richter, wahrscheinlich noch viel mehr als die Teilnahme an den Entscheidungen in der Volksversammlung, hat ganz wesentlich zur Ausbildung der politischen Identität der Athener in ihrer Demokratie beigetragen.

Dieser ganze, eher Schritt für Schritt als durch eine einzige Reform oder gar einen dramatischen ,Sturz‘ vollzogene Prozess lässt mit dem Bürgerrechtsgesetz des Perikles einen gewissen Abschluss erkennen. Nach dem Antrag des Perikles ging es darum, festzulegen, wer von den in Attika Lebenden ursprünglich Zugang zur Bürgerschaft haben sollte: Wegen der großen Anzahl wollte man offensichtlich den Kreis derjenigen, die an der Bürgergemeinschaft teilhaben konnten, beschränken. Perikles brachte 451/50 v. Chr. ein Bürgerrechtsgesetz in Athen ein, das eindeutig festlegte, wie der Status eines Bürgers zu definieren war. In einer für antike Verhältnisse sehr restriktiven Weise ließ man nur noch diejenigen zum Bürgerrecht zu, deren beide Elternteile attische Vollbürgerschaft besaßen. Eine solche Forderung war in der Antike ausgesprochen unüblich, in der Regel reichte die Bürgermitgliedschaft eines Elternteils bzw. meist des Vaters. Perikles selbst wurde übrigens Opfer seines eigenen Gesetzes. Nachdem seine beiden Söhne zu Beginn des Peloponnesischen Kriegs gestorben waren, musste er, selbst schon schwerkrank, demütigst von der Volksversammlung das Privileg erbitten, seinem dritten Sohn, dessen Mutter keine Athenerin war, das attische Bürgerrecht zu verleihen.

Offenbar wurde aber die Teilhabe an der Bürgerschaft in Athen als ein Privileg betrachtet, dessen Ausdehnung reduziert werden sollte. Kurze Zeit nach der Einführung des Gesetzes erhielten die Athener von dem Ägypter Psammetich eine großzügige Getreideschenkung. Man überprüfte die Berechtigung der Empfänger, d. h. man kontrollierte die Bürgerlisten auf der Grundlage des neuen Gesetzes. Angeblich sollen von 19 000 insgesamt 4760 aus der Liste gestrichen worden sein, die demnach gar kein Recht mehr hatten, sich Bürger zu nennen. Hinter solchen Geschichten, deren Wahrheitswert nicht zu überprüfen ist, lässt sich allerdings deutlich erkennen, wie man sich die Bürgerschaft vorstellte: als homogen, einheitlich und geschlossen, in jedem Fall abgegrenzt, um Privilegien nicht teilen oder schmälern zu müssen.

Das Ratsgebäude auf der Agora

Das Gesetz markiert eine Entwicklung, die die Regularien und Kriterien für Zugang und Ausführung von Teilhabe und Aktivität im gesellschaftlich-politischen Raum des Bürgers definiert, aber vor allem kontrolliert. Tradition, Gewohnheit und Herkommen werden immer weiter ersetzt durch Bestimmungen, Gesetze, Kontrolle. Gleichzeitig ist darin eine klare Konzeption vom Wert des Bürger-Seins zu erkennen, die auf der Gleichheit aller Bürger basiert, aber eben auch keinerlei Ungleichheit akzeptiert – nicht einmal die Ungleichheit des politischen oder militärischen Erfolgs zugunsten aller Bürger!

Die symbolisch-visuelle Krönung dieser Machtverteilung findet sich in der Errichtung eines kleinen, runden Tagungsgebäudes neben dem großen Beratungshaus für den Rat der Fünf hundert. Dieses sehr große Gremium von 500 Personen erhält in den Jahren zwischen Salamis und dem in den 60er-Jahren des 5. Jahrhunderts v. Chr. errichteten kleineren Rundbau eine ganz neue interne Struktur. Diese Struktur ermöglichte erst die wirkliche Arbeitsfähigkeit und damit ganz sicher auch die politische Bedeutung und Schlagkraft des Rates. Entsprechend der Zusammensetzung aus zehn Phylen wurde der Rat in zehn geschäftsführende Ausschüsse (Prytanien) unterteilt, deren Mitglieder jeweils die fünfzig Mitglieder einer Phyle waren und die jeweils einen Vorsitzenden hatten. Die jährliche Amtszeit aller Ratsherren wiederum wurde ebenfalls in zehn Perioden zu 37 bzw. 36 Tagen eingeteilt, so dass jeder geschäftsführende Ausschuss für ein Zehntel des Jahres die Geschäfte führte und alle in dieser Zeit beschlossenen Dekrete des Rates im Namen der Prytanie der jeweiligen Phyle gefasst wurden.

Zu der Amtsführung einer Phyle gehörte die konstante Präsenz auf der Agora: Ein Drittel des jeweiligen Ausschusses hatte zusammen mit dem Vorsitzenden für die Dauer der Amtszeit der Prytanie in dem Gebäude zu wohnen, die gesamte Prytanie jeweils vor den täglichen Versammlungen des Rates und den etwa wöchentlich stattfindenden Volksversammlungen dort zu speisen. Für diese Aufenthalts- und Beratungszeit ist ein Rundbau südlich des großen Amtsgebäudes für den Rat der Fünf hundert errichtet worden. Das wegen seiner Form als Tholos (Kuppelgebäude) bezeichnete Haus ist gleichzeitig mit der Einrichtung des Ausschuss-Systems gebaut worden. Die Tholos selbst symbolisiert in verschiedener Hinsicht die neue Demokratie. In ihr war der gemeinsame Herd, die hestia koine, untergebracht. So wie der private Herd das Zentrum des Hauses war, an dem der Hauskult durchgeführt, Kinder und Sklaven in die Familiengemeinschaft aufgenommen wurden, so war der Herd in der Tholos gemeinschaftlich und öffentlich. Er stellte den Mittelpunkt der Bürgerschaft, ja eigentlich die Gesamtheit aller Häuser der Bürger dar. So visualisiert dieser gemeinsame Herd nicht nur den Familienherd, sondern gleichzeitig auch die politische Gemeinschaft der Bürger auf der Agora, dem Zentrum ihrer politischen Aktivität. Symbolisch betrachtet ist damit ein neuer Mittelpunkt der Polis geschaffen worden, der weniger religiös als politisch ist. Man kann noch weiter gehen: Der gemeinsame Herd ist örtlicher Mittelpunkt des bürgerlichen Raumes und wie auf einen Symmetriepunkt sind alle Bürger ohne Unterschied und ohne Hierarchien auf diesen Punkt bezogen.

Die Abstraktheit dieses politischen Symbolismus findet ihren besonderen Ausdruck in der Verwendung eines neuen, politischen Kalenders, der mit der Einführung des Prytanie-Systems einherging. Der Prytanie-Kalender, der auf einer Einteilung des Jahres in zehn Prytanien entsprechend dem dezimalen Einteilungssystem der Phylenordnung beruhte, unterschied sich deutlich von dem altüberkommenen, religiösen Kalender mit der Jahreseinteilung in zwölf Monate. Er bildet in seiner Systematik die politische Struktur der Bürgerschaft ab. Jede Phyle hat den gleichen Anteil am politischen Jahr, hat die gleiche Zeit am gemeinsamen Herd, dem Mittelpunkt der Polis, ihre Funktion auszuüben. Die Gleichförmigkeit und dezimale Regelmäßigkeit unterscheidet dieses Einteilungssystem von dem religiösen Kalender, der das Jahr in unregelmäßigen Abständen nach Festen gliederte, die mit keinerlei mathematischen Regeln verbunden waren.

So zeigt sich der Weg, auf dem die Athener zu ihrer Demokratie gekommen sind, wirklich als der Weg vom Areopag zur Agora: von der Adelszeit mit ihren altehrwürdigen Traditionen und aristokratischen Führern zu einer breiten Herrschaft des Volkes. Auf der Agora findet diese Herrschaft ihren neuen Mittelpunkt: Dort berät der Rat der Fünfhundert, das eigentliche Regierungsgremium und dort finden die vielen Sitzungen der Volksgerichte statt, in denen eine sehr große Zahl der attischen Bürger ihre ständige Kontrollfunktion über alle politischen Tätigkeiten wahrnahm.

Höhepunkte der Antike

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