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Das Orakel in den Bergen: Delphi
ОглавлениеVEIT ROSENBERGER
Der Parnassos, dessen Hauptgipfel eine Höhe von 2457 Meter erreicht, ist der zweithöchste Berg Mittelgriechenlands. Mehrere Mythen rankten sich in der Antike um den Parnassos: Deukalion soll nach der deukalischen Flut, dem griechischen Analogon zur Sintflut, mit seinem Schiff am Parnassos gelandet sein; da die Musen ihren Sitz auf dem Parnassos hatten, stand der Berg als Metapher für Dichterweihe und dichterisches Schaffen; nach einer antiken Tradition erhielt der Berg seinen Namen von Parnassos, einem Sohn des Poseidon. Parnassos galt als Erfinder der Weissagung aus dem Vogelflug (Pausanias 10,6,1). Dies führt zu dem Aspekt, dem der Berg seinen weit über Mittelgriechenland hinausreichenden Ruhm verdankte: Am Südrand des Parnassos-Massivs erstreckte sich, auf der einen Seite von den Felsen der zweigipfligen Phaidriaden (um 1200 Meter) malerisch eingerahmt, auf einer Höhe von 533 bis 600 Meter Delphi mit seinem weltberühmten Orakel.
Die Erkundung der Zukunft und die Suche nach göttlicher Entscheidungshilfe, wohl ein Grundbedürfnis des Menschen, begegnen in allen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt. Unter den zahlreichen Methoden der Divination sind Orakel Weissagungen, die an bestimmten Orten nach einem festgelegten Ritual und zu festgelegten Zeiten, an denen die Gottheit als anwesend gedacht war, erteilt wurden; zugleich bezeichnet der Begriff „Orakel“ den Ort der Weissagung. In der griechischen Welt lassen sich zahlreiche Orakelstätten nachweisen, von denen Delphi das höchste Ansehen besaß. Während weitere Orakelstätten wie das Apollonorakel in Didyma, das Zeusorakel in Dodona sowie das Orakel des Zeus/Ammon in der Oase Siwa durchaus auch überregionales Ansehen besaßen, existieren Dutzende Orakel mit nur lokaler Bedeutung. Die Befragung von Orakeln war im kulturellen Gedächtnis der Griechen tief verankert. Durch die mündliche Tradition, durch den sich ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. allmählich verbreiternden Strom der literarischen Produktion sowie durch die sich gleichzeitig vollziehende Ausstattung der großen Orakelstätten mit Weihgeschenken festigten sich zunehmend die Vorstellungen über den Umgang mit einem Orakel, deren Grundaussage ebenso banal wie raffniert war: Natürlich kann man zweifeln, ob die Götter den Menschen Antworten erteilen, aber wer zu einem Orakel geht, hat gute Aussichten, die Antwort zu erhalten, die er begehrt.
Orakel stifteten gesellschaftliche Normen und besaßen legitimatorische Qualität. Allenfalls in den oft als dunkel geltenden mythischen und semihistorischen Sprüchen findet sich eine Vorhersagung der Zukunft; in den gut dokumentierten Sprüchen aus historischer Zeit geht es um konkretere Dinge, etwa um kultische und politische Neuerungen in griechischen Städten. Unklar ist die Rolle Delphis bei der Großen Kolonisation (etwa 750–550 v. Chr.). Auch wenn zahlreiche Orakelsprüche den Weg gewiesen haben sollen, ist die tatsächliche Bedeutung Delphis nicht gesichert, da die Sprüche ebenso im Nachhinein erfunden sein können, um die Gründung einer Stadt religiös zu legitimieren. Delphi und die anderen Orakelstätten wurden auch von Privatpersonen konsultiert, etwa anlässlich von Reise, Heirat, Krankheit, Rechtsstreitigkeiten, Statusfragen sowie zur Bewältigung von Unglück, besonders Seuchen und Unfruchtbarkeit (Xenophon, Anabasis 3,1,5–8).
Die Weissagungstechnik in Delphi
Kein Orakel der griechischen Welt wird in der Forschung so kontrovers diskutiert wie Delphi. Gründe dafür sind die unklare Quellenlage, die überragende Bedeutung des Orakels sowie – keineswegs zu unterschätzen – die malerische Lage: Kaum ein Besucher Delphis bleibt unbeeindruckt von der grandiosen Gebirgslandschaft, die offensichtlich immer wieder aufs Neue zu Spekulationen anregt. Als Orakelgeber in Delphi galt Apollon, dem auch in zahlreichen weiteren Orakelstätten diese Funktion zugeschrieben wurde. Seine Attribute waren der Bogen und die Lyra. Als Gott der beherrschten Spannung, die bei beiden Geräten nötig ist, deckte Apollon zwei extreme Positionen ab: einerseits Tod und Schrecken, andererseits unantastbare Reinheit. Apollon galt nicht nur als der Urheber von Seuchen, sondern auch als derjenige, der den Rat gab, wie sie zu überwinden seien.
Wer vom delphischen Orakel eine Antwort suchte, musste sich in der Kastalischen Quelle reinigen und außerhalb des Tempels ein Opfer darbringen. Danach geleitete ein Priester den Klienten in den Tempel, wo die Orakelgebühr, der Pelanos, zu zahlen war. Erst nach einem zweiten Opfer durfte der Klient das Adyton, das Innere des Tempels, betreten. Im Adyton saß auch, möglicherweise von den Klienten durch einen Vorhang getrennt, die Pythia, die prophetische Seherin; sie galt als das Instrument Apollons, durch das er sich den Menschen mitteilte. Die Pythia stammte aus dem Ort Delphi und musste ein keusches Leben führen; da der Andrang bisweilen groß war, fungierten zeitweise zwei Priesterinnen gleichzeitig als Pythia, eine dritte hielt sich als Ersatz bereit. Vor einer Orakelsitzung reinigte sich die Pythia kultisch durch ein Bad in der Kastalischen Quelle sowie durch Trinken vom Wasser der anderen berühmten delphischen Quelle, der Kassotischen Quelle. Im Inneren des Tempels brachte die Priesterin ein Räucheropfer aus Lorbeerzweigen dar und setzte sich auf den Dreifuß. Bis zu diesem Punkt gibt es kaum Probleme bei der Rekonstruktion der Vorgänge. Der eigentliche Akt der Weissagung hingegen ist mit zahlreichen Fragezeichen zu versehen: Kein antiker Autor bietet eine genaue Beschreibung; auch über andere Orakel der griechischen Welt schweigen die Quellen.
Die Vorstellungen über das Orakel von Delphi sind geprägt von Orakelsprüchen, die keine Historizität beanspruchen können. Zu den bekanntesten Orakeln gehören die Sprüche, die der Lyderkönig Kroisos (etwa 560–547 v. Chr.) erhielt. Die Beziehung zwischen Kroisos und Delphi beginnt damit, dass Kroisos herausfinden wollte, welche der zahlreichen Orakelstätten der bekannten Welt zuverlässig seien. Er schickte Gesandtschaften zu den Apollonorakeln von Delphi, Abai und Didyma, zum Zeusorakel von Dodona, zum Ammonorakel der Oase Siwa in Libyen sowie nach Oropos, wo Amphiaraos weissagte, und zum Orakel des Trophonios in Lebadeia. Kroisos wollte von den sieben konkurrierenden Orakelstätten wissen, was er gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt tue; dazu ließ er alle Gesandtschaften am selben Tag und zur selben Stunde dieselbe Frage stellen. Aus Delphi erhielt Kroisos den folgenden Spruch:
Ich kenne die Zahl der Sandkörner und die Menge des Meeres, ich verstehe den Stummen und höre den, der nichts sagt. Den Duft der stark gepanzerten Schildkröte nahm ich wahr, die gekocht wird im Bronzegeschirr zusammen mit Lammfleisch, darunter ist Bronze gebreitet, Bronze liegt oben darauf.
(Herodot 1,47)
Dies war die zutreffende Antwort, da Kroisos im Moment der Anfrage eine Schildkröte und ein Lamm in einem Bronzekessel kochte, den er mit einem Bronzedeckel verschlossen hatte. Neben Delphi lieferte nur das Orakel von Oropos die eine richtige Antwort. Das Verhältnis zwischen Kroisos und Delphi, über das vor allem Herodot berichtet, ist mit märchenhaften Episoden angereichert. Doch wie sieht es mit Orakelsprüchen aus, deren Überlieferung besser gesichert ist? Nehmen wir als Beispiel Xenophon, der auf Anraten seines Lehrers Sokrates 401 v. Chr. in Delphi in einer Privatsache anfragte. Xenophon schrieb selbst darüber, allerdings ohne die geringste Notiz über das Procedere oder die Pythia. Es heißt lediglich – Xenophon schrieb von sich in der dritten Person: „Dort befragte also Xenophon Apollon …“ und „Apollon verkündete ihm …“ (Xenophon, Anabasis 3,1,6). Diese Formulierungen erwecken den Anschein, als wolle Xenophon elegant über die Art und Weise der Befragung hinweggehen. Auch andere Quellen berichten kaum mehr als Xenophon. Was an angeblichen Details über die Vorgänge im Inneren des delphischen Tempels referiert wird, ist meist fragwürdig. So wurde bereits in der Antike die Pythia als Seherin verstanden, die ihre Orakelsprüche in mantischer Trance erteilte. Man vermutete, die Pythia gerate durch das Kauen von Lorbeerblättern in Trance. Befragt man nun ein medizinisches Handbuch, so besitzen weder Blatt noch Frucht des Lorbeers toxische Wirkung. Die Lösung kann nicht in einer naturwissenschaftlichen Erklärung liegen. Vielmehr ist der Lorbeer die Pflanze Apollons. Wenn die Pythia Lorbeer kaut, so wird sie damit von Gott erfüllt, ähnlich wie die Bacchantinnen mit dem Wein den Gott Dionysos selbst aufnehmen.
Pythia in Trance?
In Trancezustände soll die Pythia auch durch Dämpfe geraten sein, welche aus einem Erdspalt strömten, über dem ihr Dreifuß stand. In den letzten Jahren konnten durch geologische Untersuchungen in einer der Quellen in Delphi Spuren von Äthylen nachgewiesen werden, eines Gases, von dem geringste Konzentrationen reichen, um den menschlichen Körper in euphorische Zustände zu versetzen. Diese Entdeckung sowie die Erkenntnis, dass Delphi im Kreuzungsbereich zweier geologischer Verwerfungen liegt, haben die antike These vom Erdspalt im Heiligtum wieder auf leben lassen. Andererseits sollte nicht ignoriert werden, dass frühere archäologische Ausgrabungen keine Erdspalte ans Tageslicht brachten. Wie ist dieses Problem zu lösen? Die Unterwelt und ihre Bewohner galten als Träger mantischen Wissens; bereits Odysseus befragte die Toten über seinen Weg nach Ithaka. Spalten und Höhlen, also Durchgänge zur Unterwelt, gehörten zum Inventar einer griechischen Orakelstätte. In Lebadeia etwa mussten die Klienten sich in eine unterirdische Höhle begeben, wo sie einen Orakelspruch erhielten. Daher liegt es nahe, dass man in der Antike von einem Erdspalt in Delphi sprach, ob es ihn gab oder nicht.
Doch müssen wir von einer Pythia in Trance ausgehen? Trancezustände wären nötig bei den mythischen Orakelsprüchen, wie Kroisos sie erhielt, also bei schwer deutbaren und zugleich zutreffenden Antworten. Ein gänzlich anderes Bild bietet sich bei den Orakelsprüchen, über die wir bessere Nachrichten besitzen. Hier hatte die Pythia lediglich zwischen zwei Optionen zu wählen. Xenophon etwa wollte sich vor dem Auf bruch zu einem Feldzug durch Delphi legitimieren. Er fragte allerdings nicht, ob er am Feldzug teilnehmen solle oder nicht, sondern er wollte wissen, welchen Göttern er opfern solle, damit das Unternehmen gut ausgehe. Das Orakel hatte nur aus der Vielzahl der Götter einige zu nennen. Göttliche Inspiration, mantische Raserei und euphorisierende Gase brauchte man nicht.
Noch besser belegt ist das folgende Beispiel für ein Losverfahren. Im Jahr 352/51 v. Chr. geriet die Heilige Au von Eleusis für die Athener zu einem religiösen Problemfall. Sollte man die Wiese brachliegen lassen oder sollte man sie verpachten, um mit dem Erlös Arbeiten am berühmten Mysterienheiligtum der beiden Göttinnen Demeter und Persephone zu finanzieren? Das Dilemma wurde durch einen Volksbeschluss gelöst. Man schrieb die beiden Möglichkeiten auf zwei identische Zinntäfelchen, rollte diese zusammen, umwickelte sie mit Wollfäden und warf sie vor dem versammelten Volk in ein bronzenes Gefäß. Danach wurden zwei weitere Gefäße in die Versammlung getragen, eines aus Gold und eines aus Silber. Ein Beamter schüttelte das Bronzegefäß und legte dasjenige Täfelchen, das zuerst herausgesprungen war, in die goldene Vase, das zweite in das silberne Gefäß. Danach wurden die Gefäße öffentlich versiegelt und auf der Akropolis deponiert. Die Instruktionen auf der Inschrift lauten weiter:
Wählen soll das Volk drei Männer, einen aus dem Rat, zwei aus allen Athenern, die nach Delphi reisen und den Gott befragen, welche der beiden Schriften die Athener ausführen sollen über die Heilige Au, die aus dem goldenen oder aus dem silbernen Gefäß. Sobald sie aber zurückkehren vom Gott, sollen sie die Gefäße herunterholen, und verlesen sollen werden dem Volk der Orakelspruch und die Schriften von den Zinntäfelchen; welche der beiden Schriften der Gott als günstiger und vorteilhafter für das Volk der Athener bezeichnet hat, zufolge deren soll verfahren werden, damit es sich möglichst gottesfürchtig verhalte gegenüber den beiden Göttinnen und niemals in der künftigen Zeit etwas Unreligiöses geschehe hinsichtlich der Heiligen Au und hinsichtlich der anderen Heiligtümer in Athen.
(Inschrift HGIÜ II 246).
In diesen Fällen ist ein direkter Kontakt der Pythia mit den Klienten vorstellbar. Statt eines Orakelspruches konnte die Pythia auch das inschriftlich belegte Bohnenorakel verwenden, bei dem eine dunkle Bohne Ablehnung, eine helle Bohne die Zustimmung Apollons signalisierten. Ebenso ist es möglich, dass die Sprüche der Pythia durch Vermittlung von Priestern erteilt wurden, wobei sich der Kontakt der Pythia mit den Klienten allenfalls auf ein undeutliches Hören beschränkte. Aus den Quellen sind verschiedene Bezeichnungen für die Priester bekannt: Um 200 v. Chr. gab es zwei als hiereus bezeichnete Priester, einen prophetes und fünf hosioi. Auch wenn wir nicht genau den Aufgabenbereich der Priester kennen und auch wenn ihre Anzahl im Lauf der Jahrhunderte geschwankt haben mag, so standen der Pythia acht männliche Priester gegenüber. Zumindest der prophetes scheint, wie sein Titel „Vor-sprecher“, „Aus-sprecher“ nahe legt, als Vermittler zwischen der Pythia und den Klienten gewirkt zu haben.
Der Nabel der Welt
Für die Griechen lag ihr Land in der Mitte der bewohnten Welt (oikumene). Die Völker des Nordens und Westens galten infolge des kalten und feuchten Klimas als tapfer, aber ohne Klugheit und Kunstfertigkeit; die Völker des Südens und Ostens dagegen betrachtete man aufgrund der dort vorherrschenden Hitze und Trockenheit als träge, dafür aber als klug und kunstfertig. Griechenland dagegen verfügte über die richtige Mischung und wäre, so Aristoteles, in der Lage, die gesamte Welt zu beherrschen, wenn die Griechen nur einig wären (Aristoteles, Politik 1327 b 29–32). Innerhalb der griechischen Welt beanspruchte Delphi die Rolle des Mittelpunktes. In Delphi befand sich der Omphalos, der Nabel der Welt. Es handelt sich dabei um einen abgerundeten kegelförmigen Stein, der mit einem netzartigen Flechtwerk überzogen war. Ein Mythos begründete, warum ausgerechnet in Delphi der Nabel der Welt war: Bei einem Disput zwischen Zeus und Athena, wo die Mitte der Welt sei – Athena favorisierte ihre Lieblingsstadt Athen –, ließ Zeus zwei Adler von den Enden der Welt losfliegen. Die Adler trafen sich in Delphi und bewiesen somit die zentrale Lage des Ortes.
Noch ein weiterer Stein in Delphi war bedeutsam. Als Kronos prophezeit wurde, dass seine Kinder ihn entmachten werden, fraß er sie auf. Statt Zeus, den er zuletzt verspeisen wollte, schob man ihm einen in ein Tuch gewickelten Stein unter, den er verschlang und zusammen mit den gefressenen Kindern wieder ausspie. Zeus setzte seinen Vater als Herrscher ab und stellte den Stein in Delphi aus: Die Macht des Zeus war unverrückbar mit Delphi verbunden (Hesiod, Theogonie 498–500). In historischer Zeit wurde der Stein täglich mit Öl begossen.
Bei der Frage, warum Delphi überhaupt zu einem solchen Zentralort werden konnte, ist die geographische Lage zu beachten. Delphi lag am Schnittpunkt einer Nord-Süd-Route sowie einer Route zwischen Osten und Westen. Diese Routen waren nicht nur Handelswege, sondern auch uralte Fernwege der Wanderweidewirtschaft (Transhumanz), wie sie sich im Mittelmeergebiet häufig nachweisen lassen; bei Delphi befand sich ein Zugang zur Hochebene am Parnassos, die auch heute noch als Sommerweide genutzt wird.
Die Zentralität Delphis wurde durch drei weitere Aspekte noch verstärkt. Erstens die Pythischen Spiele, die alle vier Jahre stattfanden und zahlreiche Zuschauer sowie Athleten anzogen. Zusammen mit den Olympischen Spielen, den Spielen in Korinth und den Nemeischen Spielen gehörten die Spiele in Delphi zu den vier großen panhellenischen Treffen. Im Gegensatz zu den anderen Spielen enthielt das Programm der Pythischen Spiele aufgrund der engen Verbindung Apollons zu den Künsten auch musische Wettkämpfe, beispielsweise das Flötenspiel. Zweitens war Delphi der Sitz der pyläisch-delphischen Amphiktyonie, eines Bundes, dem zahlreiche Staatswesen Mittelgriechenlands angehörten. Zweimal im Jahr versammelten sich die Vertreter dieser Staaten in Delphi und berieten sich. Drittens wirkte das Orakel als starker Anziehungspunkt für Ratsuchende. Keine andere Orakelstätte übertraf Delphis Ruhm; von keiner anderen Orakelstätte sind mehr Sprüche erhalten. Herodot erwähnt 96 Orakelsprüche, von denen mehr als die Hälfte aus Delphi stammten. Die Klienten reisten aus allen Teilen der griechischen Welt an, aber auch aus Lydien, Etrurien und Rom. Regelmäßig zogen Prozessionen von und nach Delphi: Die Boioter stahlen jedes Jahr einen Dreifuß aus Delphi, verhüllten ihn und trugen ihn zum Orakel von Dodona im Nordwesten Griechenlands. Alle neun Jahre wanderten delphische Knaben nach Thessalien ins Tempetal zu einem Altar des Apollon. Der Altar war an der Stelle errichtet, an der Apollon einst selbst den Lorbeer geholt hatte, um sich von der Tötung der Python zu reinigen und nach Delphi zurückzukehren. Von Athen zogen in regelmäßigen Abständen Gesandtschaften nach Delphi.
Daher herrschte in Delphi zu bestimmten Zeiten drangvolle Enge, zu der neben den Ratsuchenden auch Touristen beitrugen. Insgesamt lässt sich eine enge Vernetzung Delphis mit der gesamten griechischen Welt nachweisen. Die Annahme, dass in Delphi die Fäden der griechischen Politik gezogen worden seien, ist allerdings irrig: Wir hören kaum vom Missbrauch des Orakels. Dies ist nicht nur durch die Quellenlage bedingt, sondern gehört, wie der Vergleich mit anderen Kulturen zeigt, zu den Voraussetzungen eines Orakels. Ein Orakel muss ehrlich sein oder zumindest im Ruf der Ehrlichkeit stehen – andernfalls verliert es sehr schnell seine Autorität. Nur in seltenen Fällen wurde das Orakel von Delphi für politische Zwecke manipuliert. Im Jahr 491 v. Chr. erreichte der spartanische König Kleomenes die Absetzung seines Amtskollegen Demaratos, indem er Delphi bestach, soll aber bald danach in Wahnsinn verfallen sein.
Weihgeschenke
Deutliches Zeugnis für das Ansehen des delphischen Orakels legten die zahllosen Weihgeschenke ab, die im Lauf der Jahrhunderte aufgestellt wurden. Pausanias, der im 2. Jahrhundert n. Chr. einen Vorläufer des Baedeker über Griechenland verfasste, bietet uns eine eindrucksvolle Liste der wichtigsten Weihgeschenke (Pausanias 10,9–31): Apollon war gleich in mehreren Statuen präsent, u. a. in einem gigantischen Exemplar von rund 15 Meter Höhe. Kultgerät wie Dreifüße und Mischkessel sowie die Statuen anderer Gottheiten wie Zeus, Athena, Leto und Artemis sowie des Halbgotts Herakles beeindruckten die Besucher. Erfolgreiche Feldherren und Sieger bei den Pythischen Spielen ließen ihr Bild aufstellen. Die meisten dieser Gaben waren aus wertvollem Material, aus Gold, Silber oder Marmor.
Einige Poleis stellten ihre Gaben in einem Schatzhaus (thesauros) auf. Im Lauf der Zeit wuchs die Pracht der Schatzhäuser durch immer neue Stiftungen. Die zahlreichen Gaben machten Delphi zu einer Arena, in welcher der Wettbewerb (agon) um Ruhm vor der gesamten griechischen Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Dabei konnten die Denkmäler in einem kommunikativen Prozess immer wieder neu mit Bedeutung aufgeladen werden, so dass das Heiligtum wie ein Seismograph Erschütterungen in der griechischen Welt registrierte.
Diese Eigenschaft Delphis zeigte sich auch während des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.). Als die Athener 415 v. Chr. über eine Expedition gegen Syrakus debattierten – sie hofften, damit die wichtigste Nachschubbasis ihres Erzfeindes Sparta zu zerstören und gleichzeitig große Reichtümer zu erbeuten –, setzten die Leute um den Kriegstreiber Alkibiades auch Orakelsprüche aus der Oase Siwa ein, in denen dem Vorhaben Erfolg vorhergesagt wurde. Ungünstige Sprüche ließ Alkibiades unterschlagen. Obwohl das delphische Orakel nicht gefragt wurde, wuchs Delphi eine wichtige Rolle zu. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten die Athener nach dem Sieg über die Perser ein goldenes Standbild ihrer Schutz- und Stadtgöttin Athena auf einer bronzenen Palme Delphi gestiftet. An diesem Siegesdenkmal gingen, so wird berichtet, während der Diskussionen in Athen seltsame Dinge vor: Raben hackten tagelang auf das Bildnis ein, bissen von der Palme die goldenen Früchte ab und warfen sie zu Boden (Plutarch, Nikias 13). Die Botschaft des Zeichens ist unmissverständlich: Wenn Raben, die Vögel des Apollon, das Denkmal eines athenischen Sieges beschädigten, so prophezeite der Gott den Athenern eine Niederlage. Sobald die Befürworter des Krieges gegen Syrakus in Athen von diesem schlechten Vorzeichen hörten, taten sie es als eine Erfindung der Delpher ab, die von den Syrakusanern dazu angestachelt worden seien. In Athen entschied man sich für die Expedition gegen Syrakus; sie endete in einer Katastrophe. Diese Episode zeigt, wie in Delphi, dem zentralen Ort der griechischen Welt, zahlreiche Informationsstränge zusammenliefen und unterschiedliche Interessenslinien sich kreuzten: Athener, die den Krieg gegen Syrakus wollten, Athener, die den Frieden mit Syrakus vorzogen sowie die Syrakusaner selbst führten durch das Berichten von Zeichen und ihre Deutung eine Debatte in der griechischen Öffentlichkeit.
Die Perserkriege
Seit der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. standen die Griechen Kleinasiens unter persischer Herrschaft. Als einige Städte des griechischen Mutterlandes den kleinasiatischen Griechen beim Ionischen Aufstand (500–494 v. Chr.) gegen die Perser beistanden, bot sich den Persern der Anlass für ein Eingreifen in Griechenland. Die Perserkriege lassen sich in zwei Phasen einteilen. Zunächst der Zug des Datis (490 v. Chr.), in dem nur einige wenige griechische Städte, u. a. auch Athen, für die Unterstützung des Ionischen Aufstandes bestraft werden sollten. In der Schlacht bei Marathon konnten sich die Athener gegen die Perser behaupten, das persische Expeditionsheer zog sich zurück. An der zweiten Phase der Kämpfe (480–479 v. Chr.) nahm der persische Großkönig Xerxes selbst teil. Die Perser siegten in der Schlacht an den Thermopylen, verloren aber die Seeschlacht bei Salamis (480 v. Chr.) und ein Jahr später die Landschlacht bei Plataiai. Bei den Perserkriegen handelte es sich keinesfalls um einen Konflikt zwischen Griechen und Persern, gar um ein Ringen zwischen Ost und West, Despotie und Demokratie. Vielmehr verliefen tiefe Risse durch die griechische Welt. Nur wenige griechische Gemeinwesen verbündeten sich gegen die Perser, viele machten gemeinsame Sache mit ihnen oder blieben neutral; bei den Schlachten waren stets auf beiden Seiten auch Griechen engagiert. In der Zeit der Perserkriege spielte das Orakel von Delphi eine undurchsichtige Rolle. Zunächst riet es den Griechen zur Unterwerfung, später aber schlug es sich auf die Seite der Persergegner. Als die Athener vor dem drohenden Verlust ihrer Stadt 480 v. Chr. Delphi befragten, wie sie sich verhalten sollten, fiel die Antwort niederschmetternd aus. Die Pythia forderte die Athener zur Flucht auf. Nichts, so weiter die düstere Prophezeiung, würde dem Verderben entgehen, das der Krieg über die Athener bringt; die Zerstörung von Festung und Tempeln wurde vorhergesagt. Als die athenischen Gesandten an diesem Spruch verzweifelten und ihre Stadt schon aufgaben, riet ihnen ein angesehener Delpher, das Orakel abermals zu befragen. Dankbar befolgten die Athener den Rat und forderten einen günstigeren Orakelspruch, andernfalls würden sie als Asylsuchende bis zu ihrem Lebensende in Delphi bleiben. Solch ein Vorgehen war im Umgang mit Orakeln nicht unüblich und lässt sich auch in anderen Kulturen beobachten. Die Pythia gewährte den Athenern nochmals eine Antwort, die Hoffnung auf keimen ließ: Wenn die Athener ihr gesamtes Land an die Perser verlören, bleibe alleine eine Mauer aus Holz als Schutz für die Athener. In Athen beschäftigte man sich vor allem mit der Frage, wie die „Mauer aus Holz“ zu interpretieren sei. Während die einen darunter die Akropolis verstanden, da sie von einer Dornenhecke umwachsen war, glaubten die anderen, mit den hölzernen Mauern seien die Schiffe gemeint. Zu dieser Gruppe gehörte auch Themistokles, der in den Jahren zuvor ein gewaltiges Flottenbauprogramm aufgelegt hatte (Herodot 7,140–144). Themistokles setzte sich schließlich durch. Die Bevölkerung wurde evakuiert und die Stadt den Persern kampf los preisgegeben. Diese Entscheidung sollte sich als richtig erweisen. Zwar zerstörten die Perser Athen und machten reiche Beute, doch die Niederlage bei Salamis brachte ihren Feldzug zum Stehen.
Noch vor der Schlacht bei Salamis standen, zumindest in der Darstellung bei Herodot, die Bürger von Delphi auf der Seite der verbündeten Griechen. Die Delpher befragten selbst das Orakel, weil sie um ihr eigenes Schicksal fürchteten. Sie erhielten die Antwort, sie sollten zu den Winden beten; die Winde würden mächtige Bundesgenossen der Griechen sein. Diese Auskunft schickten die Delpher an die verbündeten Griechen. In Athen erzählte man sich eine eigene Version, nach der die Athener selbst einen Orakelspruch erhalten hätten, den stürmischen Nordostwind Boreas herbeizurufen. Boreas war nach dem Mythos mit einer Athenerin verheiratet und hatte den Athenern aufgrund der Verwandtschaft schon zuvor geholfen. Immerhin ließ ein Sturm 400 Schiffe der persischen Flotte sinken (Herodot 7,178–191). Ob das Orakel, das den Athenern empfahl, sich an Boreas zu wenden, auch aus Delphi stammte, ist fraglich; zur Zeit der Perserkriege kursierten auch Sprüche aus Orakelsammlungen, die zwar nicht mit einer bestimmten Orakelstätte verbunden waren, aber dennoch als zuverlässig galten.
Obgleich sich das Orakel von Delphi als wankelmütig erwiesen hatte, kann von einem Vertrauensverlust – wie bisweilen in der Forschung zu lesen ist – keine Rede sein. Erstens wurde Delphi in der Zeit danach häufig befragt. Zweitens hatte Delphi am Beginn der Konflikte die Meinung der Mehrheit der Griechen repräsentiert, da sich nur ein geringer Teil der Griechen gegen die Perser verschworen hatte. Drittens stellten die Sieger nach dem Krieg Weihgeschenke in Delphi auf. Dem athenischen Feldherrn Themistokles, der bald nach dem Krieg auf die persische Seite wechselte, soll das Orakel verboten haben, ein Weihgeschenk aus der Beute von der Schlacht bei Salamis in Delphi aufzustellen (Pausanias 10,14). Nach der Schlacht bei Plataiai nahmen die verbündeten Griechen den zehnten Teil der Beute, ließen daraus einen goldenen Dreifuß auf einer erzenen Schlangensäule schmieden und stellten das Werk als Dank an Apollon in Delphi auf. Allerdings wurde das Denkmal gleich zu Beginn missbraucht. Der spartanische König Pausanias (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Schriftsteller) ließ eine eigenartige Inschrift auf das Weihgeschenk eingravieren:
Der Heerführer der Hellenen, der das Heer der Meder vernichtete,
Pausanias hat dem Phoibos das Denkmal errichtet.
(Thukydides 1,132)
Pausanias reklamierte den Ruhm für sich allein, ein klarer Affront gegen die anderen Griechen, die ebenfalls gegen die Perser – bisweilen auch Meder genannt – gekämpft hatten. Nach dem Sturz des Pausanias ließen die Spartaner die Inschrift tilgen und stattdessen die Namen aller mitkämpfenden Städte eintragen. Mehr als 600 Jahre später ließ Kaiser Konstantin die Säule in seine 324 n. Chr. neu gegründete Hauptstadt Konstantinopolis transportieren. Doch nicht nur die Sieger sollten in Delphi präsent sein. So besagt der Eid der Hellenen, die sich 480 v. Chr. gegen die Perser verschworen, dass diejenigen griechischen Gemeinwesen, die sich ohne Not den Persern ergeben hatten, an den delphischen Apollon den Zehnten entrichten sollten (Herodot 7,132). Damit wäre die Buße für den Verrat an der Sache der Griechen an einen neutralen Ort, nicht an einen der führenden Staaten wie Sparta oder Athen, zu leisten gewesen. Ob diese Strafgelder allerdings je bezahlt wurden, ist nicht festzustellen. Viertens kursierte nach den Perserkriegen eine Erzählung, welche die Verteidigung Delphis durch Apollon selbst propagieren sollte. Als im Jahr 480 v. Chr. ein persischer Stoßtrupp Delphi erreichte, um das für seine Schätze berühmte Heiligtum zu plündern, sollen sich laut Herodot unerhörte Dinge ereignet haben. Blitze zuckten auf die Perser herab, zwei Bergspitzen des Parnassos fielen in die Tiefe, stürzten mit mächtigem Getöse auf die frevlerischen Angreifer und erschlugen viele von ihnen. Die Perser gaben auf und zogen ab. Man sah in den Vorgängen das Eingreifen Apollons, der es nicht zuließ, dass sein Heiligtum von den Persern beraubt wurde (Herodot 8,36f.). Unklar ist allerdings, ob die Perser wirklich Delphi plündern wollten, oder ob diese Episode konstruiert wurde, um Delphi als treuen Verbündeten der griechischen Sache gegen die Perser auszuweisen. In Delphi jedenfalls sah man sich als Opfer der Perser und bedankte sich bei Apollon mit einem Denkmal für den Schutz (Diodor 11,14).
Ein kurzer historischer Abriss
Aus der Geschichte Delphis sind die folgenden Punkte hervorzuheben: Im so genannten 1. Heiligen Krieg, über den unsere Quellen nur spärlich fließen, befreiten um 591 v. Chr. die verbündeten Athener, Thessaler und Sikyonier Delphi; die Hafenstadt Kirrha, in der die Pilger auf dem Weg nach Delphi landeten, hatten sich Übergriffe gegen die Reisenden zuschulden kommen lassen und wurden streng bestraft. Als 2. Heiliger Krieg firmiert eine Aktion der Spartaner, welche 449/48 v. Chr. Delphi von der Bevormundung durch die mit Athen sympathisierenden Phoker befreiten; der 3. Heilige Krieg (356–346 v. Chr.) wurde ebenfalls von den Phokern ausgelöst, die sich zehn Jahre lang in Delphi verschanzten und von den Weihgeschenken ein Söldnerheer finanzierten. Diese Versuche einer Einflussnahme in Delphi belegen die ungebrochene Bedeutung des Orakels und stellen lediglich kurze Episoden in der weitgehend von Neutralität geprägten Geschichte Delphis dar.
Römische Kaiser, die für ihre philhellenische Haltung bekannt waren, wie Nero (54–68 n. Chr.) und Hadrian (117–138 n. Chr.), engagierten sich für Delphi. Ohnehin lässt sich ein Aufschwung der Orakelstätten im 2. nachchristlichen Jahrhundert feststellen. Erst die Maßnahmen des christlichen Kaisers Theodosius I. in der Zeit nach 391 n. Chr. bewirkten, dass Delphi geschlossen wurde. Neben dem Christentum, das langfristig keine anderen Kulte dulden konnte und das in den Orakelstätten einen Hort des Widerstands gegen die Christianisierung erkannte, ist auf den Herrschaftsanspruch der spätantiken Kaiser zu verweisen, die jegliches Wissen um die Zukunft für sich beanspruchten und alle, die selbständig Weissagung betrieben, mit Strafe, Folter und Tod verfolgten.
In der Antike hob sich Delphi durch sein berühmtes Orakel, die prachtvollen Weihgeschenke und seine Funktion als Zentralort von allen anderen Stätten der Mittelmeerwelt ab. Die einzigartige Lage am Berghang prägte den Ort. So betonte auch Pausanias, wie beschwerlich der Weg nach Delphi war (Pausanias 10,5,5). Von den steil aufragenden Felsen der Phaidriaden stürzten mehrfach Felsbrocken in das Areal des Heiligtums; möglicherweise reflektieren die Mythen über den Omphalos und den Stein, den Kronos ausgespien hatte, das Erlebnis eines Felsabgangs. Suchen wir nach anderen berühmten Bergen des antiken Griechenland, so ist zum einen der mit 2911 Meter höchste Berg Griechenlands zu nennen, der Olymp, zum anderen der Berg Ida auf Kreta, an dem Zeus seine Kindheit verbracht haben soll; mit einer Höhe von 2456 Meter ist der Berg Ida genau um einen Meter niedriger als der Parnassos. Delphi war nicht nur die bedeutendste Orakelstätte der griechischen Welt, sondern dürfte auch das am höchsten gelegene Orakel gewesen sein: In religiöser, kultureller, politischer und nicht zuletzt auch geographischer Hinsicht war Delphi einer der Höhepunkte der Antike.