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Geleitwort:
Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft
ОглавлениеInterdisziplinarität ist kein unverbindlicher Wunsch für akademische Festreden. Im weltweiten Wettbewerb globaler Märkte sind besonders hoch entwickelte Gesellschaften wie diejenige der Bundesrepublik Deutschland auf die Innovationsdynamik ihrer Menschen angewiesen. Innovation setzt Kreativität voraus, die sich zunehmend in interdisziplinären Forschungsclustern bündelt. Innovationen entstehen heute vorwiegend fachübergreifend an den Schnittstellen traditioneller Fächergrenzen. Die Probleme dieser Welt kümmern sich nämlich nicht um traditionelle Organisationsstrukturen von Disziplinen und Fakultäten. Umwelt, Klimawandel, Energie, Materialforschung, Life Science und Gesundheit, um nur einige zu nennen, sind problemorientierte Forschungsgebiete, die viele Fächer interdisziplinär verbinden, über traditionelle Fächergrenzen hinausgehen und in neuen Forschungsclustern zusammenwachsen.
Man spricht daher auch von transdisziplinärer Forschung. Damit erlebt der traditionelle Begriff der Interdisziplinarität einen Bedeutungswandel. In der Vergangenheit wurden Plattformen für interdisziplinäre Dialoge geschaffen, um den Erkenntnisgewinn durch den Austausch von Wissen zwischen den Disziplinen zu fördern. Heute zielt problemorientierte („transdisziplinäre“) Forschung darauf ab, aus der Grundlagen- und angewandten Forschung zur Gestaltung neuer Produkte und neuer Handlungskompetenz zu kommen. Sie wird damit zu einem entscheidenden Faktor für die Sicherung zukünftiger Märkte und der Lebensqualität einer Gesellschaft.
Diese Entwicklung hat wiederum Konsequenzen für unser Bildungssystem, für die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit in Unternehmen wie auch für die öffentlich getragene Forschung. Kurzum: Inter- und transdisziplinäre Forschung führt heute zu Innovation und neuen Märkten. Ausbildung hat diesem Anforderungsprofil Rechnung zu tragen. Inter- und Transdisziplinarität werden zur Schlüsselqualifikation.
In einer komplexen und globalen Welt reicht eine hoch spezialisierte Fachausbildung mit regionaler Orientierung nicht aus. Strategische Voraussetzung sind vielmehr Interdisziplinarität und Interkulturalität. Im Rahmen der Bologna-Vorgaben sind in jedem Studiengang bestimmte Creditpoints für fachübergreifende Veranstaltungen vorgesehen. Hier muss sich die Philosophie neu aufstellen. Sie ist seit der Antike der Ursprung der Wissenschaften, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter spezialisiert haben. Noch Newton als Begründer der neuzeitlichen Physik hatte einen Lehrstuhl für Naturphilosophie (natural philosophy) inne, während sein Landsmann Adam Smith als Begründer der Wirtschaftswissenschaften einen Lehrstuhl für Moralphilosophie (moral philosophy) besaß. Philosophie fragt auch heute noch nach den Prinzipien (Ursprüngen) unseres Wissens und seinen fachübergreifenden (interdisziplinären) Zusammenhängen in den verschiedenen Disziplinen, um so verantwortungsvoll entscheiden und handeln zu können. Daher gehören Logik, Grundlagen der Wissenschaften und Ethik seit der Antike in der Philosophie zusammen. Problem- und praxisorientierte interdisziplinäre Vernetzung mit den Wissenschaften macht das besondere Profil der Philosophie in der globalisierten Wissensgesellschaft aus.
Entscheidend dabei ist, dass Philosophie und Wissenschaftstheorie in den einzelnen Fächern der Ingenieur-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verankert sind. Nur durch den ständigen Forschungs- und Lehrkontakt wird nämlich verhindert, dass Philosophen in den Wolken der Abstraktion abheben, sich in der Historie der Disziplin verkriechen und den Kontakt zur Wissenschaft verlieren. Nur so wird aber auch die notwendige Grundlagendiskussion in den Wissenschaften von Seiten der Philosophie angeregt. Das setzt allerdings in z.B. Mathematik, Informatik, Physik, Biologie, Soziologie und BWL entsprechend ausgebildete Philosophen voraus, die in diesen Disziplinen als kompetent akzeptiert werden (was in der deutschen Berufungspraxis der Philosophie leider zu wenig berücksichtigt wird).
Ein aktuelles Beispiel für ein interdisziplinäres und interkulturelles Zentralinstitut ist die Carl von Linde-Akademie der Technischen Universität München, die in der Forschung eng mit dem Institute of Advanced Study (IAS) zusammenarbeitet. Dabei werden Philosophen mit methodisch-erkenntnistheoretischen und/oder ethischen Fragen in Exzellenzcluster der interdisziplinären Forschung eingebunden. Damit eröffnet sich eine neue Qualität der Kooperation von Philosophie und Wissenschaft. Traditionell arbeitete z.B. ein physikalisch kompetenter Philosoph über Interpretationen der Quantenmechanik oder Grundlagen der Mathematik. Diese Aufgaben bleiben natürlich auf hohem Niveau bestehen. In interdisziplinären Forschungsclustern der Medizin (z.B. Aging Society), Life Sciences (z.B. Systembiologie), Robotik (z.B. Cognition in Technical Systems), Neurowissenschaften (z.B. Theory of Mind), Umwelt- und Innovationsforschung (z.B. Innovation und Nachhaltigkeit), Risiko- und Komplexitätsforschung etc. sind Philosophen aber teilweise selber an der Theorieentwicklung oder an Strategiedebatten über Ausrichtung von Forschung beteiligt oder in Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz oder in der ethischen Beratung gefordert.
In diesen interdisziplinären Forschungsclustern zeichnet sich die Universität von morgen ab. Sie liegen quer zu den traditionellen Fakultätsunterscheidungen von Technik-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Hinter diesen veralteten Fakultätsgrenzen stehen häufig überholte Begriffsunterscheidungen aus früheren Jahrhunderten wie z.B. „Geist“ und „Materie“, „Materialismus“ und „Idealismus“, die diffus und leer wurden und den Kontakt zur Forschungsrealität längst verloren haben. Weder ist „Materie“ ein Grundbegriff z.B. der Physik (bestenfalls „Masse“), noch wird „Geist“ in den Neuro- und Kognitionswissenschaften untersucht (bestenfalls durch Beobachtung, Experiment und Messtechnik bestimmte kognitive Prozesse). Zudem entstammt diese metaphysische Unterscheidung der abendländischen Tradition und wurde in anderen Erdteilen keineswegs geteilt. Hier kommt eine immense Arbeit auf Philosophie und Wissenschaftstheorie zu, damit ihre Begriffsanalyse auch in der modernen Forschung greift.
Der vorliegende Sammelband möchte Theorie, Praxis und Probleme der Interdisziplinarität behandeln und sich dadurch dieser Herausforderung auf angemessene Weise stellen: Er beschäftigt sich mit grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Themen, der Bedeutung unterschiedlicher Interdisziplinaritätsbegriffe oder adäquaten Modellen interdisziplinärer Beziehungen. Zudem greift er konkrete interdisziplinäre Forschungsfragen auf, etwa nach der Rolle der Philosophie in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien oder nach Möglichkeiten und Limitationen einer naturalistischen Wissenschaftstheorie. Im „Problemteil“ gilt es, die spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen interdisziplinärer Kooperation zu beleuchten und dadurch zu einer Sensibilisierung für entsprechende Probleme beizutragen. All dies findet in der bisherigen wissenschaftstheoretischen Literatur vergleichsweise wenig Berücksichtigung; die folgenden Beiträge sind Schritte auf dem Weg, diese Lücke zu schließen.
München im November 2009
Klaus Mainzer