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4 Sinnlich berühren: der nackte Leib
Оглавление„Der Mensch lebt Leib an Leib, berührt den Leib des anderen,
lebt mit ihm seine Verspieltheit aus, spielt ein Spiel oder treibt sein Spiel mit ihm,
liebt, zeugt und gebiert, um schließlich zu sterben.“41
Kein buntes Federkleid, kein warmer Pelz umhüllt unseren Leib. Unser Leib ist von Natur aus ein nackter Leib. Die Nacktheit verweist auf unsere Bedürftigkeit. Mein Leib ist immer schon auf den Leib anderer angewiesen, ist Leib mit anderen.42
Da der Andere auch einen Leib hat, kann ich ihm begegnen. Nicht einer Sache, sondern einem leiblichen Gegenüber. Der Leib ist die Brücke zum Anderen, die Kommunikation überhaupt erst möglich macht. Wir können anderen begegnen und Welt erschließen, nur weil wir leibliche Wesen sind. In der leiblichen Vereinigung wird dies besonders deutlich. Der Leib ermöglicht Gemeinschaft und personale Hingabe. Liebende können sich leiblich erkennen, sich ganz unverhüllt einander geben. Der nackte Leib wird so zum Ort der liebenden Selbstmitteilung von geistigen Personen. Bei Jean-Luc Marion ist zu lesen: „Der Mensch offenbart sich vielmehr selbst erst in der ursprünglichen und radikalen Modalität des Erotischen. Der Mensch liebt – was ihn übrigens von allen anderen endlichen Seienden unterscheidet, wenn nicht gar von den Engeln.“43 Lieben meint, den Anderen am Eigensten teilhaben zu lassen. „Jeder Akt der Liebe schreibt sich auf immer in mich ein und verleiht mir eine definitive Gestalt. Ich liebe nicht in Vertretung von, noch durch eine dazwischengeschaltete Person, sondern mit Fleisch und Blut.“44
Leiblich zu sein heißt, sich berühren lassen zu können: von der Welt, vom Anderen, durch und in sich selbst. Das Berühren eröffnet einen Zugang zur Umwelt, zum Anderen, zu mir selbst: Hier bin ich, da bist du und dies und jenes bin weder ich noch bist du es! Leiblich zu lieben heißt, sich vom Anderen in seiner Leiblichkeit anrühren, berühren, ertasten und erkunden zu lassen. Erregt sind dabei nicht nur bestimmte Hirnareale oder Merkmale der Geschlechtlichkeit: Der ganze Leib schwingt in Erregung, Spannung und Schwellung.
Der eigene Leib, die eigene Geschlechtlichkeit, das eigene Spüren, wird in einem Karussell von Präsenz und Schwindel am Leib des Anderen, an seinem Geschlecht, seinem Spüren erfahren: Ich berühre und taste den Anderen und spüre mich als Berührenden. Ich spüre, wie ich von einem Du gespürt werde. Der Andere spürt mich, ihn spürend, und dabei sich als tastend und spürend. Sich leiblich einander hingeben heißt: Erspüren, wie das Du spürt. Beide begreifen sich: nicht wie objektivierbare Dinge unter Dingen, sondern als leiblich-lebendige Person, als Du. Sie erkennen sich, dringen ineinander ein, werden ein Fleisch. Das ist nicht so zu verstehen, als ob Ich und Du ausgelöscht würden. Vielmehr sind sie im Wir höchst lebendig.45
Durch das Eindringen in den Anderen kann die personale Gemeinschaft tiefer werden. In ihrer Einmaligkeit und Bedürftigkeit können sich geistige Personen einander schenken und leiblich hingeben. Leibliche Liebe ist wechselseitiges Genießen. Es ist ein Einverleiben, ein lebendiges Wechselspiel von Empfangen und Geben, in dem sich beide als Beschenkte erfahren können.46 Die erotische Zeit lässt sich nicht einfach einfangen und quantifizieren. Sie wird am eigenen Leib und am Leib des Anderen als erfüllt erlebt. Auch ein erotisches Erlebnis, das schon längere Zeit zurückliegt, kann durch ein bestimmtes Ereignis, ein Wort, eine Berührung, plötzlich neu aufsteigen, eine neue Bedeutung bekommen, neu lebendig werden.
Gerade der nackte Leib wird als im Leben Gegebenes, ein religiöser Mensch würde vielleicht sagen: als Gabe, erfahren. Unsere Lebensgeschichte schreibt sich in unseren Leib ein: Narben und Falten, Haltungen und Bewegungen eines Menschen sprechen eine ganz eigene Sprache, offenbaren uns etwas über diese konkrete Person in ihrer Einmaligkeit.
Die Erhabenheit, Offenheit, Unverhülltheit und Verletzlichkeit des nackten Leibes werden vom liebenden Blick wahrgenommen, nicht von einem, dem es nur um die eigene Genussmaximierung oder gar die Vernichtung des Anderen47 geht. Der liebende Blick vermag den Anderen als Anderen zu genießen und ihn nicht nur zu gebrauchen.48 Er schnürt nicht die Luft zum Atmen ab, sondern macht frei. Er macht nicht klein, sondern richtet auf. Er schaut nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Er erdrückt nicht, sondern trägt. Es ist kein anonymer Blick, sondern einer, der mich meint. Der liebende Blick kann den Anderen berühren, anrühren, in seiner Andersheit an-erkennen. So geschieht Begegnung im Innersten und das ist es wohl, was den Menschen als Person in seiner Leiblichkeit von anderen Tieren, von Engeln und von Maschinen unterscheidet.