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2 Kontexte der Bruder-Motivik

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Die Problematik der Nachfolgeregelung angesichts konkurrierender Thronfolgeansprüche zwischen den Brüdern eines Monarchen diskutiert die Thronfolgeerzählung an den Brüdern Absalom (2 Sam 13–19), Salomo (2 Sam 11–12; 1 Kön 1–2) sowie des nach Absalom geborenen Adonia (1 Kön 1,5–11.41–53).

Regeln innerhalb eines Volkszusammenhanges können als Bruderethik dargestellt werden. Die ethischen Aufrufe zu brüderlicher Solidarität (Gen 13,8; Ps 133,1) und zum Beistand in der Zeit der Not (Spr 17,17; vgl. Spr 18,19; 19,7) sind auf dem Hintergrund der Störungen dieses Zusammenhanges zu sehen, etwa durch Krieg zwischen Israel und Juda als Brüdern, durch den Tod von Brüdern, verursacht durch Geldgier, Gewalt (2 Sam 3,8), Egoismus, Ungerechtigkeit und anderem Fehlverhalten. Wer Streit unter Brüdern anfacht, wird kritisiert (Spr 6,19). Nehemia kritisiert im Rahmen einer Verschuldung die Zinsnahme unter Brüdern im Volk und beruft aus diesem Grund eine Volksversammlung ein, die die Schuldnerverhältnisse klären bzw. aufheben soll (Neh 5,7). Das Verbot der Zinsnahme unter Brüdern spricht Dtn 23,20–21 aus.

In Jer 9,4–6 werden Betrügerei sowie Falschaussage als Fehlverhalten gegenüber dem Nächsten (nicht ausdrücklich des Bruders) gerügt.

In einer Aufzählung von Vergehen, die für das Individuum relevant sind, wird in Ez 18, 10–14 problematisches Verhalten in der Volksgemeinschaft kritisiert, wie die Ausübung physischer Gewalt, Blutvergießen, d.h. vorsätzliche Tötung, (kultische) Mahlzeiten auf den Höhen, die Verunreinigung der Frau des Nachbarn (nicht Bruders), Bedrückung des Armen und Bedürftigen, Menschendiebstahl, Verweigerung der Pfandrückgabe, Verehrung von Götterbildern, Verübung von Gräueln und Zinsnahme.

Im Schuldaufweis einer Gerichtsansage wird im Rückblick in Sach 7,9–10 JHWHs Aufruf an die Volksgenossen formuliert, „(in) Gerechtigkeit (und) Wahrheit zu richten“ sowie, dass „ein Mann seinem Bruder Erbarmenstaten erweise; die Witwe und die fremde Waise und den Armen nicht zu bedrängen, und dass nicht ein Mann in seinem Herzen gegen seinen Bruder Böses plane.“ Die Aussagen weisen auf die problematische übliche Praxis zwischen Volksgenossen („Brüdern“) hin und begründen das göttliche Strafgericht mit der Weigerung des Volkes, zu hören, mit seiner Abweisung sowie dem Nichthören „dieser Worte der Weisung/Tora, sowie die Worte, die JHWH durch die früheren Propheten geredet hatte.“ Erzählkontexte heben positiv die Fürsorge, die Abraham für den Sohn seines Bruders Lot zeigt (Gen 18,23ff.), bzw. Judas Liebe für Benjamin (Gen 44,18–34), hervor.

Die Sprüche Salomos grenzen Freund und Bruder voneinander ab: „Ein Freund liebt immer, aber ein Bruder ist geboren für die Not“ (Spr 17,17), „Es gibt einen Freund, der mehr zu einem steht als ein Bruder“ (Spr 18,24) und „Lieber einen Bewohner in der Nähe als einen Bruder fernab“ (Spr 27,10).

Rechtstexte regeln Fratrizid (Brudermord), Verbot von Geschlechtsverkehr zwischen Bruder und Schwester (Lev 18,9,11; 20,17; Dtn 27,22) sowie das Erbrecht. In Gen 4,1–9 wird das Bruderverhältnis zwischen beiden Protagonisten implizit durch die Angabe der gemeinsamen Mutter, Eva, betont (Gen 4,1) sowie explizit durch die gehäufte Bezeichnung „Bruder“ (Gen 4,2.8.9.10.11, dabei jeweils zweimal in 8 u. 9). Im Bruderzwist zwischen Kain und Abel erschlägt Kain Abel ohne Zeugen auf dem freien Feld. Als JHWH ihn nach Abel fragt, gesteht Kain die Tat zunächst nicht und lehnt es ab, für den Schutz seines Bruders als „Hüter“ zuständig zu sein. JHWH konstatiert als rechtliches Ergebnis der Tötung des Bruders die entstandene Blutschuld Kains („das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde her“) und verflucht folgerichtig Kain zum Dasein als Flüchtling auf der Erde. Kain fürchtet, dass er schutzlos Gewaltverbrechen ausgeliefert sei, da er durch das Totschlagen seines Bruders keinen Angehörigen mehr habe, der ihn rächen könnte. Doch JHWH schützt ihn vor Bluttaten, indem er ihn zeichnet.

Die Josefsgeschichte greift das Motiv des Fratrizids auf: Die Brüder wissen, dass der Vater Fratrizid vermuten könnte und erklären daher mit dem blutgetränkten Mantel als Beweismittel Josefs Tod als Unfall (Gen 37,31–35); vgl. besonders den Charakter des Ruben, der den Brüdern Einhalt gebietet beim Versuch, Josef zu töten (Gen 37,22–24; 29–30; 42,37–38; sowie mögliche Racheversuche Josefs 50,15–21).

Der fiktive Fall der Frau von Tekoa in 2 Sam 14,4–11 thematisiert das Problem der Blutrache innerhalb eines Sippenverbandes im extremen Fall der Tötung des Bruders. Wie in Gen 4 handelt es sich auch hier um eine Tötung „auf dem Feld“, d.h. ohne Zeugen. Die entstandene Blutschuld nach dem Tod des einen der beiden Brüder provoziert die → Rache des Bluträchers. Die Schwere des Falls wird dadurch unterstrichen, dass der verstorbene Vater der beiden Söhne durch die Rache beider Familienverbände gänzlich ohne Nachkommen bliebe (2 Sam 14,5–7). David untersagt die (weitere) Blutrache innerhalb der Sippe im fiktiven Fall (2 Sam 14,11), wird nun aber von der weisen Frau darauf hingewiesen, dass er entsprechend dieses Urteils folgerichtig die Verbannung Absaloms aufheben müsse (2 Sam 14,13). Der fiktive Fall kommentiert in der Tat die in der Erzählung zuvor genannte Exilierung Absaloms in Geschur (2 Sam 13,37), die nötig wurde, nachdem Absalom seinen (Halb-)Bruder Amnon als Rache für dessen Vergewaltigung seiner Schwester Tamar (2 Sam 13,14) und deren anschließender Verstoßung (2 Sam 13,15–17), die David zwar missbilligt, jedoch nicht ahndet (2 Sam 13,21), mit Hilfe einer List (2 Sam 13,23–29) getötet hat. David erlaubt nach dem fiktiven Fall der weisen Frau von Tekoa Absaloms Rückkehr aus dem Exil in Geschur (2 Sam 14,21–23).

Die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Angehörigen desselben Clans, die (zumal im Blick von außen auf eine Gemeinschaft) als Bruderstreit oder als Krieg zwischen Brüdern bezeichnet wird, ist im Alten Orient weit verbreitet. Die Annalen des Muršiliš beschreiben den Krieg zwischen Brüdern als einen durch Treuebruch verursachten kriegerischen Zustand (als Bürgerkrieg oder Streit von Lokalfürsten um politische Autorität?) und als Aufstand gegen die hethitische Vormacht in der Stadt Kalashma, in dem sich der Zorn der Schwurgötter entlädt, den die Stadt heraufbeschworen hat, da sie durch Eid an den hethitischen Herrscher gebunden war: „Ein Bruder betrog den Bruder, ein Freund betrog den Freund und einer tötete den anderen“, bis ein Entsandter des hethitischen Königs einschritt (vgl. GOETZE 1933, 193). Die durch den von Niqmad begangenen Mord an seinem Vater Aitakama, des Königs von Kinza (Kadesch), ausgelösten Thronwirren werden ebenfalls als von den Schwurgöttern ausgelöste Situation beschrieben, in die der hethitische Herrscher nicht eingreifen soll, vielmehr wird ihm geraten, „lass den Sohn den Vater töten, den Bruder seinen Bruder töten (…)“ (GOETZE 1933, 113–115).

Vergleichbar schildert Ex 32,29 Zerwürfnisse zwischen Volksgenossen metaphorisch als „Bruderkrieg“: „Moses sprach: Füllt eure Hände heute für JHWH, – denn jeder (war) gegen seinen Sohn und gegen seinen Bruder, – sodass er euch Segnung geben möge.“ In der Ankündigung an Serubbabel (Hag 2,21f.) heißt es: „(…) Ich werde Wagenlenker gegen Wagenlenker richten, Pferde und ihre Reiter werden untergehen, ein jeder durch die Hand seines Bruders.“ Vgl. Ri 7,21f.; Sach 14,13; sowie – terminologisch abweichend – 1 Sam 14,20 Krieg unter den „Nächsten“.

Erbregelungen und Fratrizid stehen im Kontext rechtlicher Aspekte des Bruderverhältnisses. Erbschaftsregelungen zwischen gemeinsam siedelnden Brüdern sehen im Falle der Verwitwung einer Frau die Bruder- oder Schwagerehe vor (Dtn 25,5–10), die das Erbrecht einer Witwe in einer patrilinearen Erbfolgeregelung sichert; vgl. die späte Revision des patrilinearen Erbrechts in Num 27,36: Der vom Bruder gezeugte Erstgeborene trägt den Namen des verstorbenen Bruders. Er sichert die Kontinuität des Familiennamens in Israel sowie die erbrechtliche Stellung der Frau seines Bruders. Die Witwe kann nach der Weigerung des Bruders die Ältesten bitten einzuschreiten. Falls der Bruder sich weiterhin weigert, vollzieht die Witwe ein gesellschaftliches, von den Ältesten überwachtes Ächtungsritual, in dem sie den Bruder ihres Mannes seiner Sandalen entledigt, ihn ohrfeigt, bespuckt und beschimpft. Die Bruderehe kann nicht erzwungen werden. Die Praxis ist sonst nicht belegt; möglicherweise stellt aber der als „Löser“ bezeichnete Verwandte im Buch Rut 4,6 u. ö. eine Parallele dar.

Gen 38 kritisiert in einer Fallstudie die Verweigerung der Bruderehe durch Onan nach dem Tod Ers, des Ehemannes der Tamar. Der Schwiegervater Juda zwingt die Brüder des verstorbenen Gatten, Onan und Schela, nicht, Tamar Nachkommen zu verschaffen (Gen 38,8f.), sondern versucht Tamar den Witwenstatus innerhalb der Sippe aufzuzwingen (Gen 38,11). Durch eine List – indem Tamar sich als Prostituierte verkleidet – kann sie von ihrem Schwiegervater Juda schwanger werden und aufgrund eines Pfands, das sie von Juda genommen hat, die Identität der Kinder als Nachkommen Judas sichern. Durch die Geburt der Zwillingsbrüder Perez und Serach sichert sich Tamar ihr Erbe.

Eine klassische Blutfehde (→ Blut) verursacht durch Blutschuld an einem Bruder schildern die Erzählungen von den drei Söhnen der Zeruja, Asael, Joab und Abischai. Asaels Tod im Krieg durch Abner (2 Sam 2,18–24) löst Joabs Rache an Abner aus (2 Sam 3,20ff.). Sie stellt neben der Tötung des judäischen Feldherrn Amasa einen Grund für seine Tötung am Altar wegen seiner Blutschuld dar (1 Kön 2,32). Die Brudermetaphorik kann je nach dem Gesamtverständnis der Erzählüberlieferung entweder kollektive Aspekte der israelitisch-judäischen Geschichtsschreibung oder Individualkonflikte bezeichnen (zu Fratrizid und Blutfehde s. oben zu Gen 4 und 2 Sam 14).

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