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Wirtschaftspolitik im sowjetischen Machtbereich

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Vorkriegspolen, insbesondere aber Ostpolen, war ein landwirtschaftlich geprägtes und industriell unterentwickeltes Land. Daher spielte die Agrarpolitik in den sowjetischen Plänen für Ostpolen eine entscheidende Rolle. Die sowjetische Wirtschaftsordnung sah eine vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft vor. Allerdings wußten die sowjetischen Machthaber aus eigener Erfahrung, daß Bauern, gleich welcher ethnischer Herkunft, an ihrem Grundbesitz hingen. Daher entschloß man sich, in Ostpolen die neuen landwirtschaftlichen Strukturen stufenweise aufzubauen. Zunächst enteignete man die Großgrundbesitzer, zumeist Polen, und die den nichtpolnischen Bauern verhaßten polnischen Siedler. Sie wurden deportiert, inhaftiert oder sogar ermordet, und ihr Eigentum wurde zum Teil an die arme Landbevölkerung verteilt. Damit gewannen die Sowjets viele Anhänger unter den weißrussischen und ukrainischen Bauern und Landarbeitern. Diese Entwicklung fand in einem von brutaler sozialer und ethnischer Rache geprägten Klima statt.54 Im Frühjahr 1940 begannen die sowjetischen Behörden die nächste Etappe, eine breit angelegte Kollektivierungskampagne, die bis zum deutschen Überfall auf die UdSSR intensiviert wurde. Doch trotz der Gründung erster Kolchosen war ihr Ergebnis nach 21 Monaten sowjetischer Herrschaft bescheiden. Die weißrussischen, ukrainischen und polnischen Bauern leisteten passiven, teilweise auch aktiven Widerstand, und die ‚sanften‘ Methoden der Behörden – massiver psychischer und administrativer Druck – konnten ihn nicht brechen. Zu härteren Maßnahmen, zum Massenterror also, wollten die Sowjets offenbar zunächst nicht greifen. Im Juni 1941 waren in den in die Weißrussische Sowjetrepublik eingegliederten Gebieten nur 6,7 % der bäuerlichen Betriebe kollektiviert, in den in die Ukraine eingegliederten Gebieten 13 %.55

Erfolgreicher verlief die Nationalisierung von Industrie-, Handels- und Dienstleistungsbetrieben. Zuerst wurden größere Fabriken und Unternehmen verstaatlicht, im nächsten Schritt Druckereien, Kraftwerke, Hotels, Miethäuser, Kommunalbetriebe, Versicherungen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Apotheken, Banken und Sparkassen, Kurhäuser, kulturelle Einrichtungen wie Theater, Kinos, Bibliotheken und Museen, Sportanlangen sowie größere Handels- und Dienstleistungsbetriebe. Insgesamt wurden 3918 Unternehmen und Institutionen verstaatlicht.56 Das neue System bedeutete auch, daß private Handwerksbetriebe und Genossenschaften allmählich liquidiert wurden. An ihre Stelle traten Produktionsgenossenschaften nach sowjetischem Muster, die das Eigentum der Vorgängerbetriebe übernahmen.57

Wesentlich radikaler gingen die Kommunisten im öffentlichen Sektor vor. Das polnische Justizwesen wurde durch das sowjetische ersetzt und sowjetisches ‚Recht‘ eingeführt. Die neuen Richter und Staatsanwälte kamen aus der UdSSR. Die Aufgaben der polnischen Polizei übernahmen die Miliz, die sich überwiegend aus Einheimischen zusammensetzte, und der NKWD mit aus der UdSSR abgeordnetem Personal. Ähnlich ging man im Gefängniswesen sowie in der Staats- und Kommunalverwaltung vor. Sogar Bahn und Post wurden von den radikalen Veränderungen erfaßt. In all diesen Sektoren wurde die Belegschaft entweder völlig oder wenigstens auf der Führungsebene ausgetauscht, falls es schwierig war, neues qualifiziertes Personal – beispielsweise bei der Bahn oder im Gesundheitswesen – zu finden.58 Wer im Vorkriegspolen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich aktiv gewesen war, wurde aus Führungspositionen entfernt. Die Nachfolger waren in den meisten Fällen aus der Sowjetunion versetzte Kräfte. Für die mittlere und untere Führungsebene stellte man häufig kooperationswillige Einheimische ein, in der Regel jedoch keine Polen.59

Parallel dazu entstanden in fast allen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens massenhaft neue Arbeitsplätze und Leitungsposten. Der Terrorapparat von NKWD und Miliz wurde auf- und ausgebaut, das Gefängniswesen expandierte. Industrie und Handel, handwerkliche Produktionsgenossenschaften und Kolchosen erhielten neue Verwaltungsstrukturen, während die bestehenden erweitert wurden. Und auch in der Kommunistischen Partei mit ihren Ablegern wie Komsomol, Gewerkschaftsorganisationen und Propagandaapparat baute man eine völlig neue Verwaltung auf. All diese Einrichtungen hatten einen enormen Bedarf an Verwaltungs- und Führungskräften, die man unter politisch zuverlässigen und kooperationswilligen Einheimischen rekrutierte. Die wichtigsten Positionen wurden jedoch mit Fachleuten aus der Sowjetunion besetzt.60

Wirtschaftlich wirkte sich die Sowjetisierung verheerend aus. Die alte funktionierende Marktwirtschaft wurde zerstört und durch Planwirtschaft ersetzt. Deren Kennzeichen waren extremer Etatismus und wirtschaftliche Trägheit, Zentralismus und Bürokratismus, Inkompetenz und Verschwendung von Ressourcen, Korruption und Vetternwirtschaft, Versorgungsengpässe und die Vortäuschung von Erfolgen, die nur auf dem Papier existierten.61 Die breite Bevölkerung bekam die sowjetische Mißwirtschaft rasch zu spüren, vor allem in der mangelnden Versorgung mit wichtigen Nahrungsmitteln und Gebrauchsartikeln. Zunächst verursachte das Kriegschaos Versorgungsschwierigkeiten. Im Lauf der Zeit zeigte sich jedoch, daß die neuen Machthaber unfähig waren, mit diesem Problem fertig zu werden. Im Gegenteil, die Lage verschlechterte sich weiter. Vor den Geschäften bildeten sich Schlangen, in denen man tagelang anstehen mußte, um etwas kaufen zu können. Es kam zu Teuerungen, und der Schwarzmarkt blühte.62 Diese Zustände kompromittierten die neuen Machthaber. Sogar unter denen, die das neue System anfangs begrüßt hatten und von den Veränderungen profitierten, wuchs die Unzufriedenheit. Vor allem wegen der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage waren immer mehr von den Kommunisten enttäuscht und sehnten sich nach den ‚alten Zeiten‘ zurück.63

Alle Maßnahmen, die mit der gewaltsamen Sowjetisierung Ostpolens zusammenhingen, und ihre Folgen verschärften die bestehenden Spannungen und schufen zugleich neue Konfliktherde zwischen den Bevölkerungsgruppen. In eine äußerst prekäre Lage geriet dabei die jüdische Bevölkerung. Einerseits wurden ihre Eliten verfolgt und viele Flüchtlinge aus Westpolen nach Sibirien deportiert, so daß die jüdische Bevölkerung ihre traditionelle Führungsschicht verlor. Viele Juden versuchten auch, sich dem Sowjetisierungsprozeß aktiv und passiv zu widersetzen. So bildete sich unter anderem ein jüdischer antisowjetischer Untergrund, der jedoch, ähnlich wie der polnische, relativ schnell vom NKWD zerschlagen wurde. Andererseits bot das sowjetische System vielen Juden eine neue Perspektive. Für viele von ihnen, insbesondere die Jugend, brachte die kommunistische Herrschaft den sozialen Aufstieg mit sich. Dies weckte bei den anderen Bevölkerungsgruppen Neid und Rachegelüste. Viele assoziierten die sowjetische Herrschaft nun mit der sozialen Besserstellung von Juden und ihrer Beteiligung an der Macht, während sie den jüdischen antisowjetischen Widerstand kaum wahrnehmen konnten, was ja in der Natur der Sache lag. Auf diese Weise erhielten die antijüdischen Ressentiments während der bolschewistischen Herrschaft eine neue Dimension. An die Seite der in wirtschaftlichen, religiösen und sozialen Unterschieden und Konflikten wurzelnden traditionellen antisemitischen Vorurteile trat das Bild des Juden als vermeintlicher Nutznießer der Sowjetisierung und Helfershelfer der Besatzer.64

Mit dem Anspruch, eine von Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Altruismus geprägte Gesellschaft aufbauen zu wollen, erreichten die Kommunisten auch in Ostpolen genau das Gegenteil: die Herrschaft von Willkür, Massenterror, Denunziantentum, ethnisch und sozial bedingtem Haß, kollektivem Rachebedürfnis, Mißgunst und Zynismus. Auch wirtschaftlich bedeutete die Besatzung eine weitere Verelendung des ohnehin armen Landes. Der deutsche Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 unterbrach den Sowjetisierungsprozeß jäh. Unter den geschilderten Umständen ist es kaum verwunderlich, daß viele Ukrainer, Polen, Letten oder Litauer die einmarschierenden Truppen als Befreier begrüßten. Eine Ausnahme bildeten die Juden, die etwa 10 % der Gesamtbevölkerung Ostpolens ausmachten, sowie diejenigen, die mit den Kommunisten zusammengearbeitet hatten. Sie fürchteten Repression und Verfolgung. In der Tat kam es nach der Flucht der Sowjets in vielen Orten zu blutigen Ausschreitungen und Pogromen, die gegen die jüdische Bevölkerung insgesamt, aber auch gegen echte und vermeintliche Kollaborateure nichtjüdischer Herkunft gerichtet waren.65

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