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Gewalt gegen Zivilisten
ОглавлениеDie vor dem Angriff erlassenen Warnungen schienen sich für die einmarschierenden Soldaten bereits am ersten Tag des deutschen Überfalls als begründet zu erweisen: Aus allen Einsatzgebieten wurden Überfälle durch die Zivilbevölkerung gemeldet. Im Kriegstagebuch des Infanterieregiments 41 hielt man bereits am Morgen des 1. September fest: „Der Widerstand […] wird am raschesten durch rücksichtsloses Vorgehen und brutales Niederknüppeln der sich am Kampf beteiligenden Landeseinwohner gebrochen.“30 Nachdem es in der Nacht vom 1. auf den 2. September in der kleinen Ortschaft Torzeniec – wenige Kilometer östlich der an der Reichsgrenze gelegenen Kleinstadt Schildberg (Ostrzeszów) – zu einer nächtlichen Schießerei gekommen war, deren Ursache im Dunkeln blieb, ließ der Kommandeur dieses Regiments am Morgen des 2. September sämtliche männlichen Einwohner von Torzeniec zum Tode verurteilen und das Urteil sofort an jedem zweiten Mann vollstrecken.31 Direkt nach ihrem Abzug aus Torzeniec legte die Einheit die Nachbarortschaft Węglewice in Schutt und Asche.32
In Tschenstochau (Częstochowa) ereignete sich am Nachmittag des 4. September im Hof einer Gewerbeschule ebenfalls eine Schießerei unter ungeklärten Umständen, der acht deutsche Soldaten zum Opfer fielen.33 Die direkt anschließend eingeleitete Durchsuchung der benachbarten Grundstücke und Häuser nach Verdächtigen und Waffen blieb ergebnislos. Eine von Soldaten des betroffenen Infanterieregiments 42 sofort eingeleitete Vergeltungsaktion kostete nach deutschen Angaben drei Frauen und 96 Männern aus Tschenstochau, unter ihnen viele Juden, das Leben.34 Im Zuge einer vom deutschen Stadthauptmann angeordneten Exhumierung wurden im Frühjahr 1940 an verschiedenen Stellen der Stadt allerdings die Leichen von insgesamt 227 Männern, Frauen und Kindern geborgen.35
Manche Ereignisse während des Septemberfeldzuges belegen weiterhin, daß es auf der unteren Ebene weniger Spannungen zwischen Einsatzgruppen und Wehrmachtseinheiten gab, als es die Proteste hochrangiger Offiziere nach Abklingen der Kampfhandlungen vermuten ließen. In Bromberg (Bydgoszcz) war es am 3. September und in den Tagen danach – noch vor dem Einmarsch der Wehrmacht – zu Massakern durch polnische Soldaten und Zivilisten an Angehörigen der deutschen Minderheit gekommen.36 Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch am 5. September ermordeten darum Wehrmachtseinheiten im Schulterschluß mit der Einsatzgruppe IV dort Hunderte polnische Zivilisten. Der Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes 580, Generalmajor Braemer, zog am 8. September eine erste Bilanz: „Bisherige Säuberungsaktionen, von den einzelnen Truppenteilen angesetzt, ergaben folgendes: Erschossen 200–300 polnische Zivilisten. Mitteilung stammt von der Ortskommandantur Bromberg. Kommissarischer Oberbürgermeister Kampe schätzt Zahl der Erschossenen auf mindestens 400. Genaue Zahlen sind nicht zu ermitteln. Durchgeführt von Polizei, SDEinsatzgruppe und Truppen, vornehmlich Flieger-Nachrichtenregiment 1.“37
So wie in Torzeniec, Tschenstochau und Bromberg liefen deutsche Soldaten in Hunderten polnischen Dörfern und Städten Amok. Nach Schätzungen der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen forderten die Exekutionen allein im September mindestens 16000 Todesopfer.38 Während die von ihnen verwendeten Quellen und Untersuchungen keinen Zweifel daran lassen, daß solcherart Übergriffe in den ersten Wochen des Krieges in allen Landesteilen stattfanden, zeichnet sich in der deutschen Überlieferung im Bundesarchiv-Militärarchiv ein deutliches Übergewicht an verzeichneten Vorfällen in den südlichen Landesteilen – dem Operationsgebiet der Heeresgruppe Süd – ab. Dies ist jedoch vermutlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß bei einem Brand im Heeresarchiv Potsdam 1942 etliche Akten aus dem Zeitraum der Militärverwaltung in Polen verloren gegangen sind. Denn auch bei der Heeresgruppe Nord sah man sich zu äußerst rücksichtslosen Direktiven veranlaßt, wie ein Tagesbefehl ihres Oberbefehlshabers, General Fedor von Bock, belegt: „Wird hinter der Front aus einem Haus geschossen, so wird das Haus niedergebrannt. […] Wird aus einem Dorf hinter der Front geschossen und ist das Haus, aus dem das Feuer kam, nicht festzustellen, so wird das ganze Dorf niedergebrannt, sofern es zur Unterbringung der Truppe nicht gebraucht wird.“39 Ebenfalls am 10. September schrieb ein Soldat der 2. motorisierten Infanteriedivision in die Heimat: „Der Krieg ist hart und wird von den Polen mit der größten Gemeinheit geführt. Wir sind selbst von Franktireurs angeschossen worden und sind endlich zu der Überzeugung gekommen, daß unsere Gutmütigkeit zu groß ist. […] Der reguläre Kampf mit der polnischen Armee ist ja bald vorbei, aber der Krieg gegen die Banden, der nicht weniger blutig und vor allen Dingen abscheulich ist, weil es hier oft Frauen und Kinder trifft, kann noch etwas dauern.“40
Ein Großteil der Erschießungen von polnischen Zivilisten durch deutsche Soldaten ist darauf zurückzuführen, daß die Truppe die Einwohner der Ortschaften kollektiv der Partisanentätigkeit verdächtigte.41 Tatsächlich kämpfte die Wehrmacht dort jedoch nicht gegen einen realen Gegner, sondern gegen eine Schimäre. Eine Partisanenbewegung, an der sich große Teile der Bevölkerung beteiligten, hat es in Polen in jenem Herbst nicht gegeben.42 Die Partisanengefahr, der sich die deutschen Truppen ausgesetzt fühlten, basierte vielmehr auf einer „Psychose“, die sich der Soldaten bemächtigt habe, wie man bei der 10. Infanteriedivision feststellte.43 Wie es zu einer solchen Massensuggestion kommen konnte, läßt sich recht klar nachzeichnen: Die Wehrmachtsangehörigen rechneten durch die vor dem Angriff verlesenen Direktiven bereits mit Überfällen von heimtükkischen Zivilisten, noch bevor sie überhaupt polnischen Boden betreten hatten. Dazu kam der Umstand, daß die meisten eingesetzten Soldaten nie zuvor in einer realen Kampfsituation gewesen waren. Ihre Unerfahrenheit ließ sie unübersichtliche Situationen falsch einschätzen. Vielerorts kam es in den ersten Tagen daher zu unkontrollierten Schußwechseln, die aus der Nervosität der jungen Rekruten resultierten. Nach Abklingen der Kampfhandlungen resümierte man etwa bei der 30. Infanteriedivision, daß die meisten „Zwischenfälle“ in ihrem Einsatzgebiet auf friendly fire zurückzuführen gewesen seien; „ob Landeseinwohner geschossen hatten, konnte nirgends mit Sicherheit festgestellt werden.“44
Kriegsgerichtliche Untersuchungen, die direkt vor Ort hätten eingeleitet werden müssen, um den verdächtigten Zivilisten zumindest einen fairen Prozeß zu garantieren, sucht man in den Heeresakten vergeblich. Lediglich ein Standgerichtsurteil gegen Zivilisten ist aus dem September 1939 im Wortlaut überliefert: das der bereits erwähnten Exekution polnischer Männer in der Ortschaft Torzeniec am 2. September. In einer bundesdeutschen Nachkriegsuntersuchung wurde dem Dokument allerdings jegliche Rechtsgültigkeit abgesprochen: „Die Verurteilten waren vor Urteilserlaß nicht gehört worden; ihnen wurden erst hinterher […] angeblich der Grund ihrer Festnahme und die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe bekanntgemacht und, nachdem behauptetermaßen eine Gegenäußerung der Verurteilten nicht erfolgte, jeder zweite männliche Einwohner erschossen. […] Die im Vorstehenden wiedergegebene Entscheidung des ‚kommissarischen Kriegsgerichts IR 41‘ ist rechtlich gesehen ein Nichturteil, denn sie kam unter grundlegenden und schwerwiegenden Verstößen gegen damals geltendes Recht zustande.“45 Der verantwortliche ehemalige Kommandeur des Infanterieregiments 41, zum Zeitpunkt der Ermittlungen Bundeswehrgeneral a.D., mußte sich dennoch nie vor einem deutschen Gericht verantworten.