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Einleitung

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Durch die hier abgedruckten, meist anonymen Texte soll die Entwicklung einer spezifisch mittelalterlichen Vers-Satire aus der entsprechenden römischen Textsorte illustriert werden.

Den Kern dieser Auswahl bilden diejenigen metrischen und rhythmischen mittelalterlichen Gedichte in lateinischer Sprache, die von sich selbst sagen oder die zumindest zu erkennen geben, dass sie sich als Satiren verstehen. Diesem Kern werden weitere Gedichte angelagert, die von einer anderen mittelalterlichen Quelle als Satiren eingeschätzt werden, sowie solche Gedichte, die mit den ersten eine unterschiedlich ausgeprägte Familienähnlichkeit verbindet. Letztlich bestimmt und beschränkt also eine schon antik präformierte mittelalterliche Begrifflichkeit die Auswahl; sie könnte daher nicht als Basis einer formal sauberen induktiven Gewinnung eines ohnehin allenfalls fiktiven mittelalterlichen Satireverständnisses dienen. Sie schließt ferner u.a. satirische Prosatexte aus und auch Texte ganz unterschiedlicher Textsorten, bei denen lediglich ihre Stilhöhe mit dem homonymen mittelalterlichen Stilhöhen-Begriff satira (= mittleres Stilniveau) bezeichnet wurde.

Es sei darauf hingewiesen, dass die für römische Satiren heute vielfach als konstitutiv angesehene, in der Antike besonders bei Horaz zu beobachtende Indirektheit des Tadelns von Fehlverhalten seit den Wiederanfängen der Satirendichtung im Mittelalter vielfach fehlt. Solche Gedichte, die man deswegen heute als Invektiven, beziehungsweise wegen der Direktheit bei der Darstellung eines positiv zu bewertenden Verhaltens als Moralpredigten ansehen könnte, sind gleichwohl in die Auswahl aufgenommen worden, insbesondere dann, wenn mittelalterliche Autoren sie mit dem (in seiner Semantik sicherlich nicht persistenten) Begriff Satiren bezeichneten.

Ein nicht erst durch den Leser zu erkennendes, sondern durch den Satiriker direkt benanntes Fehlverhalten wird in mittelalterlichen Satiren auffällig häufig auch in einem klagenden Ton vorgebracht, wodurch die uncharmante Direktheit etwas kaschiert wird. Die eher intellektuelle Freude am Entdecken des satirisch Gemeinten wird durch die eher emotionale Freude am Einstimmen in eine Klage ersetzt.

Die Textsorte Satire hat sich insofern erheblich verändert.

Fast alle aufgenommenen Texte sind anonym oder unter einem Pseudonym überliefert; eine Kenntnis der Verfassernamen ist zum Verständnis der Gedichte nicht zwingend nötig.1

Anonym sind auch die Zudichtungen zu einzelnen Versen oder Strophen besonders beliebter Gedichte und die größeren Fortschreibungen solcher Gedichte.2 Zudichtungen sind besonders häufig anzutreffen.

Mittelalterliche Satiren in Versform sind seit dem elften Jahrhundert greifbar.3 In ihnen wird die Textsorte der römischen Verssatiriker Horaz, Persius und Juvenal rezipiert, dreier Dichter, die – wohl nicht zufällig ebenfalls ab dem elften Jahrhundert – als ‚goldene‘, d.h. als vorzügliche Schulautoren gelten. Verssatiren werden im zwölften und dreizehnten Jahrhundert häufig.

Die Satiriker des elften Jahrhunderts benutzen das von den römischen Satirikern seit Horaz für Satiren kanonisierte Versmaß, den quantitierenden daktylischen Hexameter, allerdings auch bisweilen zusammen mit je einem Pentameter, was strengem römischem Stilempfinden bei Satiren widersprochen hätte. Etwa ab dem zwölften Jahrhundert werden nicht-quantitierende Verse,4 meist in gereimter Form, bevorzugt; der schwieriger zu dichtende quantitierende Hexameter wird aber nicht völlig verdrängt.

Das Mittelalter hat eine beachtliche Anzahl sehr langer, teilweise katalogartig und teilweise systematisch ihre Themen abhandelnder Verssatiren hinterlassen, die römischem Formempfinden, das Verssatiren äußerlich die Kleinform und innerlich eine scheinbare Zufälligkeit beim Abhandeln des Themas zuordnete, ebenfalls widersprochen hätten.5 Nach mittelalterlichem Empfinden wurden diese Großsatiren zweifellos als Satiren angesehen6 und sie wurden von ihren Verfassern auch so bezeichnet.7 Aus Gründen des Umfangs werden sie hier jedoch nicht berücksichtigt; als Beispiel wird lediglich ein Auszug aus der relativ frühen Großsatire des pseudonymen Amarcius abgedruckt.

Die Texte sind für ein Publikum geschrieben, das man im Mittelalter häufig pauschal ‚die Gelehrten‘, die clerici, nannte. Das sind Personen, die nicht unbedingt dem Klerus im engeren Sinne angehören, die aber Latein können mussten, um eo ipso als clerici bezeichnet zu werden. Als Adressaten der Satiren mussten sie mehr als nur ein bisschen Latein können, um die Satiren zu verstehen. Die zunächst sprachliche Begrenzung auf das Publikum der clerici hat eine einseitige Fokussierung der satirischen Kritik auf Fehlverhalten in dieser Personengruppe zur Folge gehabt. Dass die deshalb hauptsächlich kritisierten Kleriker besonders schlimme Zeitgenossen gewesen seien, ist daraus nicht abzuleiten.8 Sie sind eher als die fehlersensibelste Gesellschaftsgruppe anzusehen.9

Die vorliegende Auswahl bietet Lesetexte auf der Grundlage der jeweils angegebenen wissenschaftlichen Editionen. Deren Vers- und Strophenzählung wurde so weit wie möglich beibehalten. Häufig musste jedoch vom Text dieser Editionen abgewichen werden; das wird an den entsprechenden Stellen angegeben, sofern es sich nicht um Orthographisches oder um Interpunktionen handelt.10

Die Übersetzungen sind lediglich als Einstiegshilfe zur lateinischen Lektüre gedacht. Sie sind sicher nicht fehlerfrei, was am Übersetzer, was aber auch an primären Verständnisschwierigkeiten liegt, die konstitutiv für satirisches Sprechen sind, das den Satiriker immer wieder veranlasst, sich undeutlich auszudrücken, um dem Leser eben nicht die bequeme Sicherheit, sondern die riskante Möglichkeit der Freude über ein unfestgelegt ‚richtiges‘ Verstehen zu bieten.

Die Übersetzung gestattet sich bisweilen kleinere, meist interpretierende Ergänzungen.

Als sprachliche Kunstwerke sind diese Satiren, die mit ihrem Esprit, der changierenden Polyvalenz ihres indirekten satirischen Sprechens, ihrem Anspielungs- und Bezügereichtum den Rezipienten intellektuell erreichen wollen, aber mit dem vielfach variierenden Klang ihrer Rhythmen und Reime diesen Rezipienten – unabdingbar für das Format – auch affektiv erreichen wollen, nur in einer Lektüre in der Originalsprache zu erfahren und zu würdigen.

Selbst unter postmodernen Literaturstudenten begegnet immer wieder eine Neigung, schnelle Schlüsse aus der Textwelt der Satiren auf Gegebenheiten in der realen Umwelt des entsprechenden Gedichtes zu ziehen. Es sei daher auch hier die interpretatorische Selbstverständlichkeit hervorgehoben, dass ohne textexterne Zusatzinformationen natürlich weder z.B. ein kritisiertes Fehlverhalten auf die reale Welt rückübertragbar ist, noch auch die moralische Entrüstung eines sprechenden Ich auf den realen Verfasser des jeweiligen Gedichts. Der Satiriker ist ein Künstler, der in erster Linie Sprach-Kunst machen will über den Themenbereich ‚menschliches Fehlverhalten‘. Ob ein Satiriker sein Publikum jemals durch eine Satire tatsächlich moralisch bessern wollte, ist zweifelhaft. Der Themenbereich Fehlverhalten ist jedenfalls geschickt gewählt, denn der ist erfahrungsgemäß von höherem Interesse als es der Themenbereich normgerechtes Verhalten je sein könnte.

1 Die Pseudonyma konnten bisher nicht aufgelöst werden. Philologische Versuche von sehr unterschiedlicher Plausibilität, einzelne anonyme Gedichte einem Verfasser zuzuweisen, sind bei den jeweiligen Gedichten genannt.

2 Die wichtigsten davon werden im Anhang mitgeteilt. Darunter finden sich offenbar auch scheinbare Weiterdichtungen. Solche konnten sozusagen mechanisch entstehen, wenn der Handschriftenkopist den Anfang eines neuen, aber überschriftlosen Gedichtes nicht wahrgenommen hatte.

3 Literarische Produkte, die in unterschiedlicher Stärke von einem aggressiven, aber künstlerisch zum Ausdruck gebrachten Impetus gegen Normverletzungen geprägt sind, die insofern von satirischem Geist geprägt sind, sind wesentlich früher nachweisbar.

4 Betonungen zählende, sogenannte rhythmische Verse.

5 Das gilt genau genommen erst seit der augusteischen Zeit, als Horaz seine sermones als literarisches Pendant zu den philosophischen Diatriben kurz und unterhaltsam belehrender Straßenphilosophen erscheinen lassen will.

6 Zu mittelalterlichen Aussagen über den Satire-Begriff siehe KINDERMANN 1978.

7 Z.B. verfasst Bernard von Morval 2966 Hexameter unter dem Titel De contemptu mundi, die er als Satire ansieht (hic satiram sequor 2, 133), oder Johannes von Garlandia beginnt die 662 Verse seiner moralisierenden Dichtung Morale scolarium mit der Aussage Scribo nouam satiram (Vs. 1).

8 Z.B. war der in Satiren überaus häufig kritisierte Kauf geistlicher Ämter und geistlicher Amtsleistungen im Bereich weltlicher Ämter weithin üblich und meist unanstößig.

9 Religion und ihre Institutionalisierung in der Kirche wird von den Kritikern nicht grundsätzlich in Frage gestellt, was vergleichbar ist mit heutiger satirischer Kritik an Auswüchsen einer nicht grundsätzlich in Frage gestellten Demokratie und ihrer Institutionalisierung in einem demokratischen Staat.

10 Die Orthographie in den Handschriften verleiht mittellateinischen Texten bereits äußerlich ein mittelalterliches Kolorit, das allerdings von einem Abschreiber zum anderen unterschiedlich ausfällt. Die Orthographie einer Handschrift sagt praktisch nichts über die Orthographie eines Verfassers aus. Über längere Zeiträume hinweg ist in den Handschriften durchaus die Tendenz festzustellen, dass sich z.B. der Gebrauch eines einfachen e statt eines ae (oder oe) mehr und mehr durchsetzt oder, dass ti und ci vor Vokalen im Hohen und späten Mittelalter sehr oft nicht einmal mehr graphisch unterschieden werden. Dieses Kolorit soll hier dadurch wenigstens angedeutet werden, dass ae und oe stets als e wiedergegeben werden und dass bei einigen Graphien, z.B. bei ti und ci vor Vokalen, mittelalterlich-inkonsequent geschwankt wird.

Satiren des Mittelalters

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