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Forschungsgegenstände und Interpretationen

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Die Bedeutung des Fundes von 1875 wurde und wird in den historischen Wissenschaften durchaus unterschiedlich bewertet. De Petra lobte ihn in der Einleitung zu seiner Erstedition pauschal als una scoverta preziosa e ricchissima28. Für Overbeck war er gar der interessanteste Inschriftenfund [in Pompeji] bis hieher29. Differenzierter urteilte Mommsen: Der Fund habe allgemeines Interesse verdient, aber die bisherige Kenntnis des römischen Urkundenwesens nicht eben wesentlich bereichert. Er umfasse die Geschäftspapiere des Iucundus keineswegs komplett. So seien Dokumente über die dem Iucundus aus den Auktionen erwachsenen Forderungen und seine Rechnungsbücher nicht überkommen, gefunden seien lediglich vergleichsweise werthlose Quittungen30. Bruns schränkte die Bedeutung des Fundes ebenfalls ein: Dem Inhalt nach seien die Tafeln leider von einer großen Einförmigkeit.31 Nach Mau waren die Tafeln, wie er für ein breiteres Publikum schrieb, hochinteressant, teils wegen ihrer äußeren Form, teils wegen der juristischen Fassung, teils endlich wegen des Inhalts der Rechtsgeschäfte32. Angesichts der 118 Sulpizier-Urkunden, die 1959 in Murecine gefunden wurden, eine große Vielfalt von Geschäftsvorgängen in Puteoli zum Inhalt haben und denen sich zahlreiche neuere Studien zuwenden33, stehen die Quittungstafeln des Pompejaners Iucundus derzeit nicht im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Dennoch: Nicht alle rechtshistorischen Fragen, die zu den Tafeln des Iucundus aufgeworfen worden sind, sind hinreichend sicher beantwortet, für sozialwissenschaftliche Studien zu Pompeji und den Pompejanern bleiben sie unverzichtbare Quellen.

Wie die Bemerkungen von Mommsen, Bruns und Mau, aber auch die Literaturangaben des Anhangs belegen, galt die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Quittungstafeln des L. Caecilius Iucundus von Anfang an und im deutschsprachigen Raum für lange Zeit vornehmlich rechtshistorischen Fragestellungen. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte Theodor Mommsen als historiographische Autorität mit seinem bereits zwei Jahren nach dem Urkundenfund veröffentlichten Hermes-Beitrag. Er kündigte zwar einleitend an, nicht bloß für Epigraphiker oder Juristen, sondern in dieser allgemein philologischen Zeitschrift Bericht zu erstatten, gab aber gleichzeitig zu bedenken, dass die aufgefundenen Dokumente weniger durch ihre Einzelangaben von Wichtigkeit sind, als durch die ihnen zu Grunde liegenden Schemata von Rechtsverträgen34. Mommsen folgte damit nicht nur seinem persönlichen Interesse als gelernter Jurist, sondern entsprach auch der führenden Rolle, die die Rechtsgeschichte im Prozess der Differenzierung der historischen Wissenschaften seinerzeit neben der politischen Geschichte einnahm. Teile seiner Interpretation, aber auch Hypothesen anderer Rechtshistoriker lösten eine lebhafte und kontroverse Diskussion in den Jahren um die Jahrhundertwende aus; deren Nachhall lässt sich noch in Veröffentlichungen der 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vernehmen. Die mit viel juristischem Scharfsinn über Jahrzehnte breit geführte rechtshistorische Diskussion ist im Rahmen dieser Edition nur summarisch referiert.35

Die Quittungstafeln des Iucundus waren als Beweisurkunden36 Belege für Zahlungen. Um mit ihnen im Streitfall das Bestehen eines Rechts sicher beweisen zu können, zeigen sich viele der Urkunden in einer Doppelfassung. Die erste Fassung (scriptura interior/testatio) einer Auktionsquittung ist zumeist ein objektiv gefasster Bericht über die mündliche Erklärung des veräußernden Auktionsherrn (dominus), dass er den Auktionserlös vom Auktionator Iucundus erhalten habe (meist dixit se/eum habere, fast immer ergänzt mit numeratos, solutos oder persolutos; dreimal findet sich dixit se/eum numeratos accepisse37). Mit den Namen von oft sieben oder mehr Zeugen und deren Siegeln bewies sie aufwendig, dass vor sich gegangen war, worüber der Text berichtete. Angesichts ihrer referierenden dixit-Form, vor allem aber, weil sie vom beweisinteressierten Iucundus selbst oder seinem Beauftragten geschrieben war, hatte sie einen eher eingeschränkten Beweiswert, konnte aber als Beweismittel dienen, wenn man feststellen wollte, ob die Außenschrift mit der Innenschrift übereinstimmt oder verfälscht ist38. Dagegen hatte die subjektiv gefasste und jederzeit einsehbare 2. Fassung (scriptura exterior) eindeutige Beweiskraft: Sie war in der Regel von der Hand des quittierenden Gläubigers selbst in der 1. Person Singular geschrieben (scripsi me accepisse), in heutiger Sicht sozusagen eine erweiterte Unterschrift.39 Zudem verstärkte der Gläubiger mit zwei Siegeln die Beweiskraft des von ihm Geschriebenen. Hinzu treten konnten weitere Zeugen und Siegel, zumeist nicht mehr als drei, die neben der Identität des Ausstellers auch die Echtheit der Urkunde bezeugten.40 Diese zweite Fassung stellte, obwohl kürzer formuliert als die testatio, dem beweisinteressierten Iucundus ein gerichtlich einsetzbares Beweismittel zur Verfügung.

Mommsen und seine Mitstreiter Zangemeister und Mau vertraten die Ansicht, in Auktionsquittungen sei die erste Fassung die schriftliche Aufzeichnung einer im römischen Rechtsverkehr gebräuchlichen acceptilatio. Mommsen (Hermes 108f.) sah in der Formulierung se habere dixit/se accepisse dixit den Hinweis auf den von Rechts wegen durch mündlich abgegebene Erklärung vollzogenen Act der acceptilatio, wie sie u.a. bei Gaius beschrieben ist41. Mommsens These gilt nicht erst heute als widerlegt.42

Im Vergleich zu den Diskussionen über rechtliche Qualität und Funktion der Innenschrift war die Meinungsbildung zur Stipulationsklausel43 in den Auktionstafeln des Iucundus (zumeist: quae pecunia in stipulatum L. Caecili Iucundi venit ob auctionem) weit weniger strittig. Eingedenk der vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten der Stipulation in der römischen Rechtspraxis lässt sich die Klausel zwar grundsätzlich sowohl als Zahlungsversprechen des Iucundus an den Auktionsherrn als auch als Zahlungsversprechen des Käufers an den Auktionator deuten. Trotz der Unschärfe der Formulierung in stipulatum venit präferiert die überwiegende Mehrheit der Rechtshistoriker aber die letztgenannte Bedeutung.44 Sie liegt nahe, wenn man das Deponens stipulari entweder reflexiv („sich ausbedingen“) oder passivisch („sich versprechen lassen“) versteht und in stipulatum L. Caecili Iucundi mit stipulatus est [L. Caecilius Iucundus] gleichsetzt.45

In die Kontroversen über testatio/acceptilatio und stipulatio wurde die Formel interrogatione facta tabellarum signatarum vielfach als Argumentationshilfe eingebracht. Die Formel findet sich in der Außenschrift (scripsi-Form) von zehn Auktionstafeln, von einer Ausnahme abgesehen immer unmittelbar nach den Worten ob auctionem/ex auctione.46 Mommsen sah in der Formel den Beweis dafür, dass die Innenschrift (dixit-Form) in den versiegelten Tafeln die schriftliche Aufzeichnung der mündlichen acceptilatio sei, die ja mit Frage (interrogatio) und Antwort (dixit) vor sich gegangen sei.47 Seiner These folgten nur wenige; die meisten seiner Kritiker verstanden die Formel als Hinweis auf eine formlose Befragung der Innenschrift vor deren Versiegelung, als Bekenntnis des Auktionsherrn zur Innenschrift oder lediglich als Bezugnahme auf den versiegelten Urkundenteil. Eine mittlere Position nahm Georg Thielmann ein, indem er in der Formel den Hinweis sah, dass über dieselbe Schuld bereits einmal, und zwar mündlich in Frage- und Antwortform, quittiert worden ist48 und so die testatio als quasi-akzeptilatorische Quittung einstufte. Trotz der Unterschiedlichkeit dieser Positionen ist ihnen die Annahme gemeinsam, die Formel beziehe sich auf den Inhalt der mit Siegel und Schnur zu verschließenden tabellae (Seite 2 und 3) derselben Urkunde. Mit dieser Auffassung brach Dieter Simon, angesichts der Übermacht der bisher einhelligen Annahme ein wagemutiges Unterfangen: Er stellte interrogatione facta tabellarum signatarum in einen Zusammenhang mit den nichterhaltenen (!) Tafeln, die die aus der Auktion resultierende Stipulation des Käufers gegenüber Iucundus zum Inhalt hatten.49 Es war für den Auktionsherrn in der Tat sinnvoll, Einblick in diese Tafeln zu nehmen, aus denen er ja den in der Auktion erzielten Kaufpreis, den Iucundus an ihn weiterzuleiten hatte, ersehen konnte. Der These Simons, die Teile des seinerzeitigen Forschungsstandes obsolet erscheinen ließ, stimmt nunmehr Wolf in vorsichtiger Weise zu.50

Auch zur Erklärung der Wendung mercede minus, zu finden in 42 Auktionsquittungen, ergaben sich unterschiedliche Positionen in der Forschung. Zu Tafel 010, der neben 023 und 058 einzigen, die die merces ausdrücklich beziffert (mercede quinquagesima minus = 2 % des Auktionserlöses), vermutete Mommsen, sie setze sich aus 1 % Auktionssteuer (centesima rerum venalium) und 1 % Provision/Entlohnung für Iucundus zusammen.51 Die Quellenlage stützt, wie Günther darlegt52, diese Vermutung nicht: Die Auktionssteuer in Höhe von 1 %, nach Tacitus post bella civilia instituta, wurde von Tiberius auf 0,5 % (ducentesima) ermäßigt53 und von Caligula 38 n. Chr. für Italien gar aufgehoben54. Einen Quellenbeleg für eine Wiedereinführung dieser Steuer in claudisch-neronischer Zeit gibt es nicht. Viel spricht also dafür, dass mit dem Begriff merces ausschließlich die Iucundus zukommende Provision, die Maklergebühr, bezeichnet ist, zumal der semantische Gehalt des Begriffs einen Bezug zu Steuern nicht erkennen lässt.

Unterschiedliche Antworten finden sich auch auf die Frage, wer die Provision zu zahlen hatte, Käufer oder Veräußerer. Mommsen, erneut Ausgangspunkt der Diskussion, war der Ansicht, Iucundus habe sich neben dem Auktionserlös auch die merces vom Käufer versprechen und zahlen lassen und, vereinfacht gesagt, dem Veräußerer nur den Auktionserlös überlassen.55 Zangemeister, oft auf Seiten Mommsens, hielt es immerhin auch für möglich, dass der Käufer nur den Kaufpreis an Iucundus, dieser ihn abzüglich Provision an den Veräußerer gezahlt habe.56 Thielmann unterstützte dezidiert die letztgenannte Auffassung. Für seine Bemühungen habe Iucundus gegenüber seinem Auftraggeber einen Anspruch auf Entgelt gehabt. Er habe den Auktionserlös daher nicht in voller Höhe an den Veräußerer ausgezahlt, sondern seine Vergütung, die merces, abgezogen. Der Veräußerer quittiere in der Tafel also nur über die auf die Stipulation zwischen Iucundus und dem Käufer eingekommene, um die Provision verminderte Summe.57 Andreau kam in einer ausführlichen Analyse des Zahlenmaterials grundsätzlich zum selben Ergebnis.58 Er sieht aber in den Geldsummen der Quittungen (quae pecunia) nicht den Zahlbetrag vor, sondern nach Einbehalt der merces; als Quittung des Iucundus für den Veräußerer zeige die Tafel die Summe, die er diesem gezahlt, nicht diejenige, die er vom Käufer erhalten habe.59 Andreaus Interpretation erscheint jedoch fraglich, da die Quittungstexte quae pecunia stets in einen direkten Zusammenhang mit in stipulatum venit bringen, also mit dem vom Käufer geschuldeten Kaufpreis.

Ob die merces neben dem eigentlichen Lohn für Iucundus noch weitere Kosten der Auktionsgeschäfte (praeco, Transport, Lagerung, Verpflegung, Zins für die Gewährung von Kredit u.a.m.) abdeckte, ist strittig. Thielmann nimmt an, diese Kosten seien vom Käufer zu tragen gewesen, auch schlössen die vorliegenden Quittungen eine zusätzliche Stipulation solcher Beträge zwischen Iucundus und dem Käufer nicht aus. Nach Andreau hingegen umfasste der in den Tafeln gegenüber dem Veräußerer quittierte Einbehalt (retenue), der nicht notwendig nur 2 % des Kaufpreises betragen habe, möglicherweise auch andere Kostenteile.60

Anders als die Auktionsquittungen 001 bis 137 belegen die Tafeln 138 bis 153 Pacht- und Steuerzahlungen an die Stadt Pompeji in den Jahren 53 bis 62 n. Chr. Sie galten einem Landgut (ob avitum et patritum fundi Audiani, ob avitum fundi, avitum; 138–140), einer Walkerei bzw. mehreren Walkereien (ob fullonicas, ob fullonicam, ob fullonica; 141–144), städtischem Weideland (ob pasquam, ob pascua, ob pascuam, ob vectigal publicum pasqua, ob vectigal publicum pasquorum; 145–147) und einem Marktstand bzw. mehreren Marktständen (mancipis mercatuus; 151).61

Im Unterschied zur Innenschrift der Auktionsquittungen besaßen die Pachtquittungen für Iucundus in ihrer Gänze sichere Beweiskraft: Innen- und Außenschrift waren handschriftlich ausgefertigt von den die Zahlung entgegennehmenden actores publici Secundus (Tafel 138) und Privatus (übrige Tafeln). Zuständig für die Abwicklung sämtlicher Pacht- und Steuerverträge zwischen Gemeinde und Privaten, kontrollierten diese Sklaven den Zahlungseingang, bestätigten schriftlich den Erhalt von Geldern, siegelten in der Zeugenliste der Quittungen zweimal und legten diese wenigstens einem duovir vor, durch dessen Siegel dann die Urkunde ihre Gültigkeit erhielt.62 Aus den Quittungen ob fullonicam und ob pascuam wird deutlich, dass die zugrunde liegenden Verträge über Verpachtung bzw. Besteuerung für die Dauer eines Lustrums abgeschlossen waren, also für den Zeitraum 1. Juli 56 bis 30. Juni 61 n. Chr. Die Pachtbedingungen (z.B. Höhe der Pacht, Bürgen, Sicherheiten) bzw. Steuerbeträge waren unter den duoviri quinquennales des voraufgegangenen Amtsjahres 55/56 n. Chr., darunter Cn. Alleius Nigidius Maius, festgelegt worden. Tafel 138 nennt P. Terentius Primus als Zahlenden, alle übrigen Tafeln, soweit lesbar, L. Caecilius Iucundus.

Strittig ist in der Forschung, ob L. Caecilius Iucundus die Zahlungen an die Stadt in seiner Eigenschaft als Steuerpächter, der die Einziehung von Pachten der Stadt abgepachtet hatte, oder als Pächter eines Pachtobjekts (evtl. in eigener Bewirtschaftung) geleistet hat.63 Unterschiedliche Erklärungen hat auch die Formulierung ob avitum et patritum (wörtlich: für Großväterliches und Väterliches) in der Forschung gefunden. Mommsens Deutung hat den Vorzug, sich auf zwei respektable Quellentexte über vergleichbare Sachverhalte64 zu stützen. Das auf einer Schenkung beruhende Eigentum der Stadt Pompeji am fundus Audianus sei bei der Schenkung mit einer festen Auflage belastet worden, nach der der jeweilige Besitzer jährlich und dauerhaft der Stadt eine festgesetzte Pachtzahlung habe entrichten müssen. Bezeichnung für das so beschränkte Recht der Stadt sei [ius] avitum et patritum.65 Dass die Quittungstexte 138 und 139 keine Pachtjahre zählen, lässt erkennen, dass eine Beschränkung der Pachtdauer auf fünf Jahre offensichtlich nicht für den fundus Audianus galt; das Recht an diesem Grundbesitz bzw. die Höhe der Pacht waren auf Dauer festgelegt.

Jede der skizzierten Kontroversen verdeutlicht die Offenheit römischer Urkunden für unterschiedliche Erklärungen und Interpretationen. Ihre oft lückenhaften Informationen veranlassen die Interpretierenden zu ergänzenden Annahmen; manche Deutungen der Iucundus-Urkunden sind dabei bloße Hypothese66 geblieben. Die Vorgänge in stipulatum venit, interrogatione facta tabellarum signatarum und mercede minus lassen sich nicht allein aus den Informationen der gefundenen Tafeln, d.h. aus der urkundlichen Bestätigung von Geldübergabe an den Auktionsherrn durch Iucundus hinreichend sicher erklären; auch die Fragen, ob Iucundus nur Steuerpächter oder auch selbst Pächter eines Landgutes gewesen sei und was ob avitum et patritum bedeute, warten noch auf gültige Antworten.

Mit der stärkeren Hinwendung des historischen Interesses auch zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, für die Antike beginnend etwa zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, wandelten sich die von Mommsen als weniger wichtig eingeschätzten „Einzelangaben“ der Quittungstafeln zu Informationen von großem Interesse und von Bedeutung. Von ihnen ausgehende Studien, allen voran die umfangreiche Veröffentlichung Andreaus aus dem Jahr 1974, danach vielfach Arbeiten aus dem englischen Sprachraum, versuchen, die zuvor vor allem archäologisch, epigraphisch und rechtshistorisch gewonnenen Kenntnisse mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden zu vermehren und zu vertiefen.67 Hinzu gekommen sind Studien zur pompejanischen Landwirtschaft68 sowie auf epigraphischem Material basierende prosopographische und onomastische Studien nicht nur zur gesellschaftlich-politischen Führungsschicht der Stadt, sondern auch zu den übrigen Freigeborenen, zu Freigelassenen, Frauen und Sklaven.69 Diese Studien bemühen sich u.a., die gesellschaftliche Rangordnung der Bewohner Pompejis nachzuvollziehen und die gentilizische Zusammensetzung der Magistrate und Amtsbewerber zu analysieren. Seit kurzem versuchen computergestützte quantitierende Analysen des Datenmaterials (SNA), soziale Netzwerke sichtbar werden zu lassen und nach Art der Interaktionen zu differenzieren.70 Angesichts dieser Akzentverschiebung des wissenschaftlichen Interesses verwundert es nicht, dass heute auch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen zu Pompeji finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten in besonderem Maße Rechnung tragen. Mary Beard nennt den Fund der Quittungstafeln des Iucundus sogar eine der ungewöhnlichsten Entdeckungen in der Geschichte der Ausgrabungen von Pompeji, ein wunderbar anschauliches Material, für die Geschichte der pompejanischen Wirtschaft eine wahre Goldgrube und das umfassendste pompejanische Personenregister, das wir haben71.

Diese Einschätzung relativiert sich jedoch bei dem Versuch, wirtschaftlich und sozial relevante Details der Quittungstafeln (Versteigerungsobjekte, Versteigerungserlöse, Preisunterschiede, Kredite, Zinsen, Steuern, Geschäftsumfang des Iucundus; Verkäufer, Käufer, Pächter, Freie, Freigelassene, Frauen, Sklaven, Auswärtige, Zeugen u.a.m.) zu gültigen Feststellungen zusammenzufügen. Ebenso wie bei den Bemühungen um rechtshistorische Einsichten gilt für sozialwissenschaftliche Studien: Die Informationen der Quittungstafeln sind ausgesprochen lückenhaft, ihre Auswertung bereitet erhebliche methodische Schwierigkeiten.72 Ergänzende Annahmen, Vermutungen und Spekulationen sind oft unumgänglich, wenn man, wie Andreaus weitausholende Monographie zu Iucundus deutlich werden lässt, einigermaßen belastbare Aussagen treffen will.73 Die dürftige Quellenlage führte gar Jongman dazu, in deduktiver Weise, ausgehend von spekulativen Annahmen, hypothetisches Zahlenmaterial zu konstruieren, eine Methode, die Fehlermargen erheblich vergrößern und Schlussfolgerungen nahelegen kann, die verlässlich scheinen, tatsächlich jedoch von großer Ungewissheit sind.74 Statistische Erhebungen und ihre graphische Umsetzung, übliches Mittel sozialwissenschaftlicher Darstellung, erweisen sich bei Andreau und Jongman angesichts einer lückenhaften Datenbasis mitunter als wenig sinnvoll. Broekaerts computergestützte quantitierende Netzwerk-Analyse der an den Quittungstafeln Beteiligten verschaffen zwar, weil der Datensatz trotz seiner Lücken annähernd groß genug ist, bei kritischer Anwendung eine formale Vorstellung, kann aber in ihrer Quantifizierung letztlich nur eine Vereinfachung der lebendigen und komplexen vergangenen Realität leisten.

Untersuchungen zur Stellung des Iucundus in der pompejanischen Gesellschaft und der Bedeutung seiner Geschäfte waren lange bestimmt von einer Diskussion grundsätzlicherer Art, die über Iucundus hinausgeht und das städtische Wirtschaftsgefüge, in dem Iucundus tätig war, ja den generellen Charakter städtischer Wirtschaft in der Antike betrifft. Ausgehend von der Ansicht Max Webers, die unterscheidende Klassifizierung von producer city und consumer city75 gelte auch für die Städte der römischen Antike, sah Finley im kaiserzeitlichen Pompeji wesentlich eine Konsumentenstadt, in der die Bewohner der Stadt und ihres Umlandes sich weitgehend selbst versorgten, nur unwesentlich für auswärtige Märkte produzierten und die geringe Menge eingeführter Güter mit Überschüssen ihrer landwirtschaftlichen Produktion finanzierten.76 Wirtschaftliches Handeln sei eingebettet gewesen in ein Netzwerk sozialer Beziehungen, in denen Wertvorstellungen und Verhalten der Oberschicht wirtschaftliches Wachstum weitgehend behindert hätten. Von dieser Sicht einer eher statischen antiken Stadtwirtschaft, die sich auch Jongman zu eigen machte77, setzen sich neuere, weniger theorielastige Arbeiten zunehmend ab. Ihr Interesse gilt nicht mehr überwiegend Gründen für Hemmnisse und Stagnation, vielmehr nehmen sie – oft in kleinteiliger Forschungsarbeit – dynamische Potentiale, Entwicklungen und Veränderungen in den Blick. Dabei richten sie für die Zeit der späten Republik und der frühen Kaiserzeit ihr Augenmerk auch auf die ökonomische Bedeutung der Landgüter im Um- bzw. Hinterland der Städte (villa rustica, villa suburbana, villa urbana),78 neuerdings auch im regionalen Kontext. Nach heutigem Stand liefern beide skizzierten Sichtweisen diskutable Beiträge, das Wirtschaftsleben im frühkaiserzeitlichen Pompeji zu beschreiben.79

Zu Lebzeiten des Iucundus war die Stadt Pompeji mit ihrem Um- und Hinterland wirtschaftlich eng verflochten. Besitz und Bewirtschaftung bzw. Verpachtung von Landbesitz vor der Stadt war die sicherste und wichtigste Quelle des Reichtums. Er konzentrierte sich in den Händen der pompejanischen Oberschicht, ist heute noch augenfällig im Stadtbild, verdeckt aber, so Jongman, die „strukturelle Armut der Bewohner“80. Die größeren Landgüter, ausgerüstet für die Verarbeitung der Ernteerträge und weitgehend autark, orientierten ihre Produktion, vornehmlich Getreide und Wein, nicht nur an Eigenbedarf und lokalem Markt, sondern auch an den Möglichkeiten des Exports in externe, z.T. weit entfernte Märkte.81 Daneben versorgten aber auch viele kleinere Gehöfte die Stadtbewohner mit Lebensmitteln vielfältiger Art. Bekannt sind insgesamt etwa 100 große und kleine villae. Im Stadtgebiet gab es zahlreiche Betriebe, die in Werkstätten und Läden eine Vielfalt von Gütern des allgemeinen Bedarfs produzierten bzw. anboten; zwei dieser Produkte, garum und trapetum, waren italienweit bekannt und geschätzt82 und verweisen auf Aktivitäten im externen Handel. Familien der Oberschicht beteiligten sich an Produktion und Handel innerhalb der Stadtmauern, Produktionsstätten und viele tabernae waren in ihre Wohnhäuser bzw. insulae integriert. Im Stadtgebiet gab es auch eine Reihe landwirtschaftlich genutzter Flächen, zumeist kleinere Nutzgärten83, deren Erträge die Versorgung aus dem Umland ergänzten.

Epigraphische Quellen, nicht zuletzt die Quittungstafeln des Iucundus, lassen in diesem Wirtschaftsgefüge ein hochdifferenziertes Gesellschaftsgefüge deutlich werden. Es war nicht allein durch rechtliche und wirtschaftliche Ungleichheit gekennzeichnet. Henrik Mouritsen, derzeit wohl renommiertester Kenner pompejanischer Gesellschaft, unterscheidet innerhalb der politischen Elite (ordo) zwischen Familien, die in der Kaiserzeit durchgängig mit gleichsam ererbter Autorität das politische Geschehen dominiert haben, und weniger bedeutenden, die nur zeitweise Amtsträger stellten.84 Er widerspricht der Hypothese Castréns von einer politischen Instabilität in Pompeji im Jahrzehnt 40 bis 50 n. Chr.85 Auch für die Zeiträume vor und nach der sog. claudischen Krise sind nach Mouritsen signifikante Brüche in der Zusammensetzung der Magistrate mit dem vorhandenen Quellenmaterial nicht zu belegen. Das gelte auch für die Zeit nach dem Erdbeben 62 n. Chr. Franklin 193ff. differenziert gleich fünf Typen von Familien des ordo: Steady Prominence, Disappearance, Regular Advancement, Returns, Newcomers.86

Nach Mouritsen waren Freigelassene nicht, wie oft dargestellt, eine separate Klasse mit eigenen Zielsetzungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen; ihr Merkmal, ihr Erfolg und ihre Bedeutung für die Stadtwirtschaft hätten sich ergeben aus ihrem spezifischen Weg aus der Unfreiheit, der bestimmt gewesen sei von Vertrauen und Integration in die familia, von Erziehung und Können und von finanzieller und genereller Unterstützung durch den patronus.87 Freigelassenen war das passive Wahlrecht und damit der Aufstieg in politische Ämter und in den ordo versagt, sie waren aber als Wähler, wie die Wahldipinti Pompejis zeigen, nicht unerheblich am politischen Leben beteiligt. In der sakralen Funktion eines augustalis im Kaiserkult öffnete sich in Pompeji für reiche Freigelassene ein Weg zu öffentlicher Bekanntheit und Wertschätzung. Söhne von Freigelassenen konnten bei günstigen Umständen in den ordo und zu höchstem Ansehen aufsteigen, wie das Beispiel des Cn. Alleius Nigidius Maius zeigt.88 Andreau unterscheidet in ähnlicher Weise Freigelassene und ihre Nachkommen nach Reichtum, ihrer Funktion im öffentlichen Leben (als augustales und ehemalige ministri Augusti) und der gesellschaftlichen Stellung des Patrons bzw. ihrer Stellung zum Patron (Erbe, Grad der Abhängigkeit).89 Er attestiert ihnen erkennbaren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt, ebenfalls aber nicht den Aufstieg zu einer neuen Klasse. Dahlheim sieht speziell die augustales als eigenen Stand zwischen den Dekurionen und der städtischen Plebs.90

Der Anteil der Sklaven an der Gesamtbevölkerung Pompejis lässt sich nicht genau beziffern. Andreau hält einen Anteil von 40 %, bei einer Einwohnerzahl von geschätzt 20.000 also 8000 Sklaven, für möglich.

Beginnend mit den Recherchen Andreaus sind die Zeugenlisten der Quittungstafeln des Iucundus Gegenstand detaillierter Untersuchungen geworden. Zentral waren und sind dabei Fragen nach dem rechtlichen und gesellschaftlichen Status der einzelnen Zeugen, den Auswahlkriterien ihrer Berufung und ihrem Ranking in der jeweiligen Zeugenliste. Andreau geht von 332 namentlich bekannten Zeugen aus, überwiegend im Wirtschaftsleben der Stadt tätige Freigelassene, angebunden an Familien der gesellschaftlichen Elite.91 Jongman zählt in den Tafeln die Namen von 334 Zeugen; zusammen mit den unbekannten hätten etwa 500 bis 700 Zeugen in den 153 Tafeln gesiegelt, nach seiner Schätzung fast die Hälfte der freien männlichen Pompejaner über 25 Jahre.92 Mouritsen unterteilt 320 namentlich bekannte Zeugen in drei Gruppen: 35 Angehörige des ordo, 85 Freigeborene aus nicht-kurialen Familien und 200 Freigelassene, vornehmlich der führenden Familien.93 Unter den Zeugen waren amtierende duoviri, frühere Amtsträger, Söhne von Amtsträgern, augustales, kaiserliche Freigelassene, Freigelassene von duoviri und aediles, ehemalige ministri Augusti, wirtschaftlich besonders erfolgreiche Freigelassene, Freigelassene von Freigelassenen u.a.m.94 Wie die Zahlen nahelegen: Die Pompejaner waren eine face-to-face-Gesellschaft, man kannte sich, man kannte Iucundus. Als Zeugen fungierten sowohl Begleiter der Auktionsherren bzw. Zahlungsempfänger als auch Geschäftspartner und Bekannte des Iucundus, gutgestellt, vertrauenswürdig, viele in Geschäftsdingen erfahren.95 Jongman hält auch die räumliche Nähe zum Haus des Iucundus für ein relevantes Auswahlkriterium.96 Auf vier Personen, die in den Quittungstafeln unübersehbar häufig als Zeugen fungierten, könnten die genannten Attribute in besonderer Weise zutreffen: Q. Appuleius Severus (16-mal Zeuge, Ädil, vielleicht duovir), A. Messius Phronimus (21-mal Zeuge, ehemaliger minister Augusti), T. Sornius Eutychus (16-mal Zeuge) und P. Terentius Primus (18-mal Zeuge, erfahren in Finanzangelegenheiten). Sie gehörten wohl zu einem inneren Kreis pompejanischer Geschäftsleute und standen in besonders enger Verbindung mit Iucundus.97

Neben der Vielfalt des pompejanischen Gesellschaftsgefüges belegen die Zeugenlisten des Iucundus auch die römische Gewohnheit, beim Siegeln rechtswirksamer Dokumente die gesellschaftliche Rangordnung unter den jeweiligen Zeugen zum Ausdruck zu bringen. Personen mit höherem Prestige rangieren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vor denen mit niedrigerem Status. Der gesellschaftliche Rang des Einzelnen war nach Jongman durch Amt, Rechtsstatus und Reichtum determiniert; diese Faktoren seien jedoch nicht gleichgewichtig gewesen: Reichtum sei für den gesellschaftlichen Aufstieg wichtig, für ein hohes Ranking notwendig, nicht aber hinreichend gewesen; Reichtum habe minderen Rechtsstatus nicht wettmachen können.

Die skizzierte vielschichtige Sozialstruktur hat sich, so Mouritsen, in der frühen Kaiserzeit trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit, soweit erkennbar, als stabil erwiesen, die Ambitionen der unterprivilegierten Schichten hätten die grundlegende Machtstruktur unberührt gelassen. Einer der Gründe mag das personale Band gewesen sein, das nicht wenige Stadtbewohner als Klienten oder als Mitglieder einer familia mit ihrem patronus bzw. pater familias verbunden hielt.98

Die Pompejanischen Quittungstafeln des L. Caecilius Iucundus

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