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Chiemgau

Die Währungsrebellen

Im idyllischen Chiemgau ganz im Süden der Republik hat sich die erfolgreichste deutsche Regionalwährung etabliert.

Die Euro-Krise ist gerade weit weg, ganz weit weg. In Prien legt die "Berta" am Dampfersteg an, eine Schulklasse kommt von einem Ausflug zum Schloss Herrenchiemsee zurück. Im Hintergrund blitzt das mächtige Gipfelkreuz auf der Kampenwand im Sonnenlicht.

Am Ortsrand steht Julia Kollmansberger bestens gelaunt hinter der Ladentheke ihres "Regional- und Biomarktes", ein lichtes Holzhaus, und begrüßt ihre Stammkundin Helga Würmser. Etwas Bio-Lammfleisch möchte diese. Kein Problem, 21 Chiemgauer kostet das Kilo Koteletts. Die Kundin zahlt mit Karte in Chiemgauern - die Euro-Scheine kann sie hier stecken lassen.

Während in Brüssel und anderswo um die Rettung des Euros gerungen wird, floriert hier in einer der schönsten Ecken Bayerns seit zehn Jahren eine Parallelwährung: der Chiemgauer. Was als Projekt der nahe dem See gelegenen Waldorfschule begann, ist heute eine breite Initiative zur Förderung der regionalen Wirtschaft. 6,5 Millionen Euro setzten Hotels und Handwerksbetriebe, Supermärkte und Rechtsanwälte 2012 in Chiemgauern um.

"Mia san koa Payback-System", sagt Geschäftsfrau Kollmansberger in gepflegtem Bayerisch. Die Nutzer des Chiemgauers unterstützten die örtlichen Betriebe und Vereine. "Immer mehr Leute kriegen den Hintern hoch und zahlen damit."

Es war Christian Gelleri, der die kleine Währungsrevolution einst anzettelte. Der bedächtige Intellektuelle sitzt im Büro der "Regios eG", die das System betreibt, in einem Rosenheimer Gewerbegebiet und erinnert sich, wie alles begann. Schon während des Studiums in München begeisterte sich der Ökonom für Geldpolitik und Währungen. Er fragte sich: "Wie kann man ein nachhaltiges Geldsystem schaffen, das ohne große Schwankungen und Blasen funktioniert?" Seine Antwort: Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, nicht nur die Geldmenge, sei entscheidend. Ähnlich habe das schon John Maynard Keynes gesehen. Nur zog der andere Schlüsse daraus.

Gelleri sah den Königsweg in einer regionalen Parallelwährung. Viele dachten damals über eine solche Alternative nach, in Bremen gab es bereits einen ersten Versuch. Als Gelleri, Lehrer der Priener Waldorfschule, seinen Schülern ein entsprechendes Pilotprojekt vorstellte, waren die sofort Feuer und Flamme.

Der Chiemgau war als Versuchsregion nicht schlecht gewählt. Vor der Alpenkette breiten sich sanfte grüne Kuppen und Hügel aus, an schönen Tagen formen die Segelboote bunte Muster auf dem 80 Quadratkilometer großen Chiemsee. Die Bewohner hier - ob Zugereiste oder Einheimische - sind stolz auf diesen Flecken Erde. "Wir leben, wo andere Urlaub machen", sagt Geschäftsfrau Kollmansberger, und ihre Augen blitzen auf. Da sei auch die Bereitschaft größer, gemeinsam etwas anzupacken und die Region zu unterstützen.

Zudem sind Experimentierbereitschaft und Toleranz in der Gegend ausgeprägt. Hier haben sich schon immer Zugereiste, Künstler und Exoten niedergelassen. Auch auf esoterische Ansätze treffe man hier oft, sagt der Wissenschaftler und Lehrer Gelleri.

Anfangs wurde das Projekt dennoch belächelt. Von der "Waldorf-Währung" sprachen sie in Prien, als sich die Schüler aufmachten und die ersten Mitstreiter suchten. Doch die vielen Kontakte der Schule halfen, die Währung rasch in der Region zu verbreiten. Der große Edeka in Frasdorf ist heute ebenso dabei wie der kleine Geschenkeladen "Herzibopperl" gegenüber der Kirche in Prien oder das Haarstudio "Schnipp-Schnapp" in Traunstein. An dem Schild "Wir nehmen Chiemgauer an" an der Ladentür sind die Mitmacher zu erkennen.

Die Grundidee der Regionalwährung: Die Kunden werden motiviert, im Verhältnis 1:1 eingetauschte Chiemgauer rasch auszugeben - Gelleri will ja die Umlaufgeschwindigkeit hoch halten. Das Geld soll Tauschmittel sein, nicht gehortet werden. Ist das Geld - offiziell sind es Gutscheine - nicht ausgegeben, wird daher nach zwei Monaten eine Gebühr von zwei Prozent fällig, die der Besitzer spendet. Für die Gewerbetreibenden wiederum ist es günstiger, die eingenommenen Chiemgauer für eigene Besorgungen einzusetzen und sie nicht gleich in Euro zu tauschen - denn dabei wird eine Gebühr von fünf Prozent fällig.

Der Effekt: Die Kunden suchen bevorzugt Läden und Handwerker auf, die Chiemgauer akzeptieren. Diese wiederum kaufen dann mit diesem Geld ebenfalls bevorzugt in der Region ein, zum Beispiel bei Zulieferern. So bezieht Kollmansberger vom Priener Regional- und Biomarkt ihren Schafskäse beim Anderlbauer im benachbarten Frasdorf, auch er ein Chiemgauer-Partner. 75 Prozent der umgesetzten Chiemgauer verbleiben so im System und werden nicht zurückgetauscht.

Die Idee verbreitet sich vor allem über die Vereine. Denn drei Prozent des Umsatzes gehen an einen Verein, jeder Kunde kann selbst entscheiden, an welchen. An die Waldorfschule flossen so im Laufe der Jahre mehr als 40 000 Euro, auch ein Waldkindergarten, Pfadfinder, Musikschulen und Trachtenvereine profitieren regelmäßig.

Die fünf Prozent, die sie beim Rücktausch in Euro zahlen muss, sind für Ladenbesitzerin Kollmansberger kein Problem. "Das verbuche ich als günstige Werbeausgabe", sagt sie. Denn die Regionalwährung beschert ihr neue Stammkunden. "Ich gehe in keinen Supermarkt mehr", erklärt Kundin Würmser, die gerade ihren Wocheneinkauf erledigt.

Als die Bäuerin Kollmansberger vor zehn Jahren einen Bioladen mit regionalen Produkten und Bewirtung eröffnete und als Gelleri im selben Jahr die Regionalwährung auf den Weg brachte, waren beide noch Exoten. Inzwischen gibt es in vielen Lebensbereichen eine Rückbesinnung auf die Heimatregion, die auch eine Reaktion auf die unüberschaubare Globalisierung ist. Von diesem Trend profitiert nicht nur der Bioladen in Prien. "Die Leute wollen heute nicht mehr Hummer, sondern den besten Käse aus dem Allgäu", sagte Edelgastronom Michael Käfer.

Auch in der Kulturszene ist der Trend zu beobachten. Die Band LaBrassBanda aus dem Chiemgau, die Blasmusik vom Reggae bis zum Techno spielt, tritt barfuß und in Lederhosen auf und füllt die Hallen. "Globalisierung braucht immer eine regionale Verwurzelung", bemerkt Gelleri. Und so gibt es heute nach Angaben des Vereins Regiogeld mehr als drei Dutzend Regionalwährungen in Deutschland, vom Zschopautaler im Erzgebirge bis zum Freitaler im Breisgau.

Nicht überall ist das Experiment geglückt, einige Regionalwährungen wurden wieder eingestellt oder dümpeln vor sich hin. "Man muss eine kritische Größe überschreiten", sagt Gelleri. Der Chiemgauer ist mit mehr als 2500 Verbrauchern und 633 Akzeptanzstellen weiterhin die größte Regionalwährung.

Gelleri hofft nicht nur in Deutschland auf einen Siegeszug der Idee. Für Griechenland etwa könnte der Chiemgauer nach seiner Einschätzung Vorbild sein. Eine Parallelwährung, die dazu ansporne, das Geld im Land zu investieren, bringe Dynamik in die Wirtschaft.

Und auch für den Fall, dass der Euro eines Tages scheitert, fühlen sich im Chiemgau viele gewappnet. "Vielleicht kommt der Tag", sagt Geschäftsfrau Kollmansberger schmunzelnd, "an dem wir froh sind, dass wir auch noch diese Parallelwährung haben."

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Die Lage: Der Chiemgau ist ein Stück Bilderbuch-Bayern ganz im Süden von Deutschland. Die Region liegt zwischen Rosenheim, Traunstein und den Chiemgauer Alpen. Der Chiemgau umfasst eine Fläche von 784 Quadratkilometern. Im Herzen der Gegend liegt der Chiemsee, auch "das bayerische Meer" genannt. Er ist mit einer Fläche von knapp 80 Quadratkilometern der drittgrößte See Deutschlands. Der Chiemsee ist bis zu 73 Meter tief und liegt 518 Meter über dem Meeresspiegel.

Der Tourismus: Der Fremdenverkehr spielt eine zentrale Rolle. Der Chiemsee lockt Badegäste und Segler. Touristen können mit dem Dampfer zur Herreninsel mit dem Schloss Herrenchiemsee fahren, das Ludwig II. errichten ließ. Als beliebtes Wanderziel gelten die Chiemgauer Alpen. Markantester Gipfel ist die 1 669 Meter hohe Kampenwand. Auch auf die Hochries am Samerberg und den Hochfelln fahren Seilbahnen.

Die Wirtschaft: Neben dem Tourismus spielt auch die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Es dominieren kleinere Betriebe, im Sommer wird das Jungvieh vielerorts noch auf die Almen getrieben. Nicht nur wegen der guten Anbindung durch die Salzburger Autobahn ist die Lage aber auch für mittelständische Betriebe attraktiv. So lässt zum Beispiel die Outdoor-Firma Meindl am Stammsitz in Kirchanschöring noch immer ihre Bergstiefel fertigen.

Die Währung: Die Regionalwährung Chiemgauer ging im Jahr 2003 als Projekt der zehnten Klasse der Waldorfschule an den Start. Heute machen 655 Unternehmen mit - vom Industriebetrieb über das Handwerk bis zum regionalen Einzelhandel. Verbreitet wird die Idee über 254 Vereine. Im Startjahr 2003 wurden gut 75 000 Euro mit Chiemgauern umgesetzt, 2012 waren es bereits mehr als 6,4 Millionen Euro.

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