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Warum man sich manchmal zweimal outen muss…

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Mit zwölf Jahren verliebte ich mich Hals über Kopf in ein Mädchen aus der 8. Klasse des Kleinstadtgymnasiums, das ich besuchte. Sie hieß Jessica, hatte kurze blonde Haare, aufmerksame grüne Augen und ein freches Lächeln, das mein Herz fast zum Stillstand brachte. Sie arbeitete in der Schulbibliothek und ich verbrachte meine Pausen damit, auf der Treppe gegenüber zu sitzen, nur um zu beobachten, wie sie in dem Bücherraum verschwand und später wieder hinauskam.

Da sie Fußball spielte, wartete ich jede Woche sehnsüchtig auf die Kreiszeitung der Kleinstadt, um zu sehen, ob ihr Name bei einem der Damenfußballspiele stand. Ich schnitt alle Artikel über ihren Verein aus und bewahrte sie in einer kleinen Schachtel auf.

Doch so schön und intensiv diese Gefühle waren, so machten sie mir gleichzeitig auch wahnsinnige Angst. Zwar war ich offen erzogen worden und wusste, dass es Frauen gab, die Frauen lieben und Männer, die Männer lieben, aber ich hatte nie welche gesehen. Und in unserer Kleinstadt gab es zwar angebliche Lesben, aber die wohnten zu Dritt in einer Wohnung und wirkten merkwürdig auf mich.

Da zu der Zeit das Internet noch nicht so verbreitet war wie heute, kaufte ich mir, mit dunkler Sonnenbrille und Mütze, in einem Buchladen zwei Bücher über lesbische Mädchen und ein Aufklärungsbuch über sexuelle Orientierungen.

Nachdem ich zu Hause in meinem Zimmer heimlich die Bücher, unter vielen Tränen, gelesen hatte, war ich noch verwirrter als vorher. In mir war eine wahnsinnige Sehnsucht, diese Gefühle ausleben zu können, ein Mädchen in meinen Armen halten zu können und die traurige Gewissheit, dass es kein gutes Ende nehmen würde, wenn andere Menschen von meinem wohlbehüteteten Geheimnis erfahren würden. Aus Verzweiflung über meine aussichtslose Situation fing ich an meine Arme zu zerschneiden. Der Schmerz auf meiner Haut machte den Schmerz in meinem Herz irgendwie erträglicher und sollte mich mein Leben lang daran erinnern, wer ich bin und was ich fühle.

Durch Zufall wurde meine damalige beste Freundin auf die Wunden unter meinen zu langen Pulloverärmeln aufmerksam und sprach mich darauf an. Ich erzählte ihr alles und sie versprach, für mich da zu sein. Am nächsten Tag stand sie aber nicht, wie jeden Morgen, an der Bushaltestelle, von der aus wir zusammen in die Schule gingen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ging ich also alleine los und in meinem Klassenraum angekommen starrten mich alle an und kicherten. An der Tafel stand in großen, weißen Buchstaben: ‘Sinja = Lesbe. Igitt.’ Ich weiß nicht mehr, wie ich reagierte, die Zeit ist bis heute noch sehr verschwommen.

Es verbreitete sich in Windeseile. Innerhalb einer Woche wusste es die gesamte Schule und sogar die Oberstufenschüler zeigten lachend mit dem Finger auf mich. Die Mädchen, mit denen ich teilweise seit dem Kindergarten befreundet gewesen bin sprachen nicht mehr mit mir, sondern über mich. An einer der Mädchentoilettentüren des Gymnasiums stand ‘Sinja, die Lesbenschlampe’. In den Umkleidekabinen unserer Turnhalle drehten mir die Mädchen den Rücken zu und flüsterten: “Achtung, sonst geilt sie sich an uns auf.” Ich ignorierte die Gemeinheiten und tat so, als wäre mir das alles egal, aber ich fügte mir dafür zu Hause immer wieder mit spitzen Gegenständen Schmerzen zu. Nachdem ich mir die Hände zerschnitten hatte, entdeckte meine Mutter meine Wunden und meine Eltern stellten mich zur Rede. Ich erzählte ihnen alles und obwohl sie mich so offen erzogen hatten, waren sie erschrocken und irritiert. Meine Mutter versuchte mir einzureden, dass es sicher eine ‘Phase’ sei und sie in jungen Jahren auch mal ein Mädchen toll gefunden habe und dies noch nicht bedeuten würde, dass man lesbisch sei. Mein Vater behandelte mich wie ein kleines Kind und sagte immer wieder, dass so etwas in unserer Kleinstadt schwer sei. Die Einzige, die Verständnis hatte, war meine kleine Schwester. Sie hörte mir zu und war für mich da. Dennoch machten die Umstände mich mürbe, keine Freunde mehr zu haben, jeden Tag aufs Neue verspottet und beleidigt zu werden und von meinen Eltern wie ein anderer Mensch behandelt zu werden. Und so verbrannte ich in einer Nacht weinend meine Zeitschriftenartikel und alles, was ich über Homosexualität gesammelt hatte und fasste den Entschluss mir einen Freund zu suchen und normal zu sein. Und so suchte ich mir einen Jungen und erzählte meinen Eltern, sie hätten recht gehabt und es sei nur eine ‘Phase’ gewesen.

Das Mobbing in der Schule hörte trotzdem nicht auf. Nun erzählten sie eben herum, dass ich schwanger sei, Drogen nehmen würde oder Ähnliches. Nachdem die Anführerin zwei Jahre später die Schule wechselte, hatte der Spuk ein Ende und die anderen Klassenkameraden entschuldigten sich bei mir. Viele Jahre hatte ich Beziehungen mit Jungen. Für mich waren sie eher wie meine besten Freunde, meine Brüder und ich hatte sie wahnsinnig gern. Aber ich fühlte nicht so für sie, wie sie für mich und ich konnte ihnen auch nicht immer das geben, was sie wollten.

Zeitgleich verliebte ich mich in Mädchen, in Freundinnen. Aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als ihnen von meinen Gefühlen zu erzählen. Zu groß war die Angst, wieder alles zu verlieren. Dann, mit 20 Jahren, ich war seit zwei Jahren in einer Beziehung mit einem jungen Mann, mit dem ich auch zusammen wohnte, aß ich immer weniger. Und je mehr ich abnahm, umso weniger schien ich ihm zu gefallen. Und je dünner ich wurde, desto seltener wollte er mit mir schlafen. Ich bekam eine Ausbildungsstelle in einer anderen Stadt und zog weg. Dort in meiner eigenen Wohnung, aß ich noch weniger, bis es sich auf einen fettarmen Joghurt mit einem Löffel Haferflocken am Nachmittag reduziert hatte. Ich konnte nicht mehr denken, alles drehte sich nur noch ums ‘Nicht- essen’ und mein Freund verließ mich irgendwann mit den Worten, dass er nicht dabei zusehen könne, wie ich mich selbst zerstören würde. Und er hatte recht. Ich wollte das Leben, das ich lebte, nicht mehr so führen. Es fühlte sich alles nur noch falsch und sinnlos an.

Nachdem mir aber irgendwann Haare ausfielen, bekam ich plötzlich wahnsinnige Angst zu sterben und fing eine Therapie an. Nach einigen Wochen fiel mir in der Therapie meine ‘lesbische Phase’ ein und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. In einer Nacht träumte ich dann, wie ich eine meiner Mitauszubildenden küsste. Als ich dann aufwachte, hatte ich nur noch einen Gedanken: ‘Ich bin lesbisch!’ Und so nahm ich meinen Mut zusammen und outete mich nach und nach bei meinen Freunden. Und dieses mal reagierte niemand schlecht. Alle nahmen mich in den Arm und sagten, dass ich deswegen doch kein anderer Mensch sei und sie mich lieb hätten. Ich war glücklich und ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben richtig frei. Ich fing wieder langsam an zu essen und hatte dann irgendwann auch meine erste Partnerin. Und mittlerweile, nach sieben Jahren, ist es für mich das natürlichste der Welt, mit meiner jetzigen Verlobten Hand in Hand durch die Stadt zu laufen. Ich will nicht sagen, dass es immer einfach ist. Manchmal sagen Menschen immer noch dumme Sachen und reagieren komisch. Und manchmal nerven mich auch die Blicke auf der Straße. Aber ich bin stolz darauf, dass ich bin, wer ich bin. Nie würde ich mein jetziges Leben tauschen wollen. Ich studiere nun im dritten Semester Psychologie und möchte mich später in Beratungsstellen niederlassen, um anderen Menschen in schwierigen Lebenssituationen zur Seite zu stehen. Im Oktober diesen Jahres heirate ich meine Partnerin und sogar meine Großeltern freuen sich darauf.

So ein Coming-out kann ganz schön schwierig sein und es kostet eine Menge Mut. Aber so zu leben, wie man möchte, macht alle Tränen wieder gut.

Mein Coming-Out 2013

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