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I. „Europäisierung“ – Begriff und Periodisierung
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Empirische und analytische Begriffsdimension
Aus der Gegenwartsperspektive des Rechts benennt „Europäisierung“ den fortlaufenden Bedeutungszuwachs der Europäischen Union (EU) in den partikularen Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten. Diese allgemeine Definition kann auf die mitgliedstaatlichen Teilrechtsordnungen und damit auch auf das deutsche Verwaltungsrecht bezogen werden. Einem solchen empirischen Zugang, für den die Evidenz juristischer Alltagserfahrung spricht, dessen Erklärungswert jedoch deutlich beschränkt ist, ist eine analytische Begriffsdimension zur Seite zu stellen, die nach Kontext, Richtung und Ziel dieses Vorganges fragt.[1]
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Kontext, Richtung, Ziel
Der Kontext macht darauf aufmerksam, dass die heute gewohnte Dominanz der EU den Erfahrungsraum verzerrt. Zeithistorisch betrachtet waren die in den 1950er Jahren von sechs Staaten gegründeten Europäischen Gemeinschaften zunächst von begrenzter Bedeutung in einem größeren Konzert zwischenstaatlicher Organisationen in Europa. Die ökonomische und politische Bedeutung, die wir heute der EU in dem Maße zuschreiben, dass einige die Union mit Europa sogar gleichsetzen,[2] beruht erst auf Ereignissen seit den 1970er Jahren.[3] Eine dieser zwischenstaatlichen Organisationen, die auch weiterhin Beachtung verdient, ist der 1950 gegründete Europarat. Der Europarat verwaltet u. a. die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und erfüllte über Jahrzehnte die Funktion des europäischen Grundrechte- und Werteforums, bis diese Aufgabe von den Gemeinschaften allmählich übernommen wurde.[4] Der Einfluss der EMRK besonders auf den unionalen Grundrechtsschutz besteht fort und nimmt sogar noch zu. Dem organisierten Europa korrespondieren dann nicht allein die EU-Mitgliedstaaten, sondern weitere Staaten, die entweder Europa geografisch zugeordnet werden oder aber jenseits der Geografie beteiligt sind. Die Richtung der Europäisierung ist auf den ersten Blick eindirektional, von „Europa“ hin zu den Staaten und ihren jeweiligen Rechtsordnungen. Es gibt jedoch keinen Grund, nicht auch die entgegengesetzte Richtung als Europäisierung einzuordnen, d. h. die wechselseitige Kommunikation der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen mit der Unionsrechtsordnung und die Frage nach deren Beitrag für das Entstehen und die Evolution des Unionsrechts.[5] Damit sind Themen der Rechtsvereinheitlichung und der -vergleichung aufgerufen. Ein Ziel der Europäisierung schließlich ist zunächst nicht erkennbar. Die EU ist errichtet und niemand strebt an, die nationalen Rechtsordnungen in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung aufgehen zu lassen. Europäisierung erscheint weitgehend als Selbstzweck in dem Sinn, dass es um die multidirektionale Zustandsbeschreibung einer fortlaufenden Kommunikation geht. Der Bewegungsbegriff „Europäisierung“ hat jedoch zweifelsohne auch eine normative Bedeutung, gerichtet auf einen pro-europäischen Beitrag allgemein für das organisierte Europa und speziell zur Entstehung eines europäischen Verwaltungsrechts, wenn nicht sogar eines Verwaltungsrechts als zunehmend „gemeineuropäisches Recht“.[6] Aus dieser normativen Dimension heraus ist grundsätzlich auch die Dialektik der Europäisierung anzuerkennen, so dass die Gegenströmungen in die Betrachtung einzubeziehen sind, die dem Vorgang an sich und dessen Wirkungen und Folgen entweder wegen der „weltanschauliche[n] Brechungen des wissenschaftlichen Denkens“[7] oder wegen eines Dissenses in einzelnen Sachfragen kritisch begegnen.
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Definition „Europäisierung“
Vor dem Hintergrund der Begriffsdimension geht es in diesem Beitrag nicht nur um den fortlaufenden Bedeutungszuwachs der EU für das Verwaltungsrecht der Bundesrepublik, sondern um die wechselseitige Kommunikation des europäischen überstaatlichen Rechts mit dieser Teilrechtsordnung im Wege deren formeller Verknüpfung und gewillkürten Rezeption. Mit Blick auf die Gesamtkonzeption des vorliegenden Bandes, der der Verwaltungsrechtswissenschaft und der Entstehung des europäischen Verwaltungsrechts[8] jeweils ein Kapitel widmet, wird der Schwerpunkt im Folgenden auf wissenschaftlichen Äußerungen seit Beginn der 1950er Jahre zur Einflussnahme – im Sinne von Setzung, Änderung, Wirkung und Neuinterpretation – europäischen überstaatlichen Rechts auf das deutsche Verwaltungsrecht liegen.[9] Es geht also letztlich um die Rechtsangleichung und -vereinheitlichung als Instrument der Integration in einer Rechtsgemeinschaft, womit die Blickrichtung benannt ist, aus der dieser Impuls kommt – eine Perspektive, die dem deutschen Verwaltungsrecht seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 unter dem Stichwort „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ bekannt ist.[10] Für die Verwaltungsrechtswissenschaft[11] ist die „Europäisierung“ dabei Bezugspunkt einer fortlaufenden Beschreibung ihres Selbstverständnisses.
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Periodisierung
Die Periodisierung beginnt mit den Gründungsakten der Montanunion und des Europarates im Jahr 1950 und wird durch die Aufgabe des Verfassungsvertrages im Jahr 2005 begrenzt, teilweise wird bis zum Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 ausgegriffen. Die historiografische Gliederung in Zeiträume folgt Abschnitten, die für die Verwaltungsrechtswissenschaft aus der hier vertretenen Sicht prägend waren: Zunächst handelte eine Avantgarde, die teilnehmende Beobachter der Gründung der zwischenstaatlichen Organisationen in den 1950er Jahren waren oder diese Entwicklung mit sensiblem Gespür für das aussichtsreich Neue verfolgten (B.). Ein Zeitraum der Aneignung des Gemeinschaftsrechts schloss sich an, der – zunächst von Positionskämpfen im Öffentlichen Recht begleitet – von den Gründungsjahren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Atomgemeinschaft (1957/60) bis zum Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) datiert werden kann. Er ist charakterisiert durch eine zunehmende Zahl an Veröffentlichungen, darunter prägenden Monographien, das Bemühen um Rechtsvergleichung und die Standortbestimmung im Rahmen wissenschaftlicher Tagungen (C.).[12] Der dritte Zeitraum der Rezeption und Kreation (1985 bis 2005), auf den die meisten wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen den Schwerpunkt legen,[13] ist charakterisiert durch die Idee eines europäischen Verwaltungsrechts, die thematische Ausdifferenzierung und die breite Anerkenntnis des Europäisierungstopos (D.). Der Beitrag endet mit Schlussfolgerungen (E.).