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I. Eigenverwaltung der Montanunion – die teilnehmenden Beobachter

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Deutsche im Dienst Europas

Das deutsche Verwaltungsrecht hatte auf den Rechtsrahmen der Montanunion einen Einfluss als Rechtserkenntnisquelle für die Gestaltform von Organen, Handlungsformen und Rechtsschutzinstrumenten der neuen Organisation. Diese Überlegungen sind jedoch nicht durch Vertreter der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft in die Verhandlungen eingeführt worden, sondern von Juristen, die als Mitglieder der deutschen Delegation in Paris oder im Sachverständigenausschuss für den Schumanplan, einem wissenschaftlichen Beratergremium unter dem zeitweiligen Vorsitz von Herbert Kraus,[40] als teilnehmende Beobachter eingebunden waren. Es handelte sich um Mitglieder eines „inneren Kreises“, die überwiegend Funktionsträger in der Ministerialverwaltung waren, teilweise aus der Rechtswissenschaft kamen, und deren biografische Wege unmittelbar oder über Dritte vermittelt letztlich bei Walter Hallstein[41] zusammenliefen, der mit der deutschen Verhandlungsführung in Paris beauftragt worden war. Die Delegation wurde gezielt mit Mitarbeitern der jüngeren Generation verstärkt, die als Überlebende und Kriegsheimkehrer gerade erst in die Verwaltung eingetreten waren oder auch ihre Ausbildung beendet hatten.[42] Einige dieser Juristen machten in den Gemeinschaften später Karriere, wie Robert Krawielicki[43] oder Walter Much[44] als Generaldirektoren des Juristischen Dienstes der Gemeinschaften. Andere sollten die Europarechtswissenschaft teilweise über Jahrzehnte prägen, wie Hermann Mosler,[45] Hans-Jürgen Schlochauer,[46] Bodo Börner[47] und Ernst Steindorff.[48]

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Rechtstransfer

Exemplarisch lässt sich dieser – im Umfang freilich begrenzte – Transfer deutschen Verwaltungsrechts in das Recht der Montanunion an den Themen „Rechtsschutz gegen Verwaltungsentscheidungen“ und „Amtshaftung“ konkretisieren. Ernst Steindorff, der noch in seinem Referendariat als Sekretär für die deutsche Schumanplan-Delegation tätig war, wurde 1952 mit der von Walter Hallstein betreuten Arbeit über „Die Nichtigkeitsklage (Le recours pour excès de pouvoir) im Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ promoviert. Der Untertitel der Arbeit, „Ein rechtsvergleichender Beitrag zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Hohen Behörde“, zeigt die Erschließung des neuen Gemeinschaftsrechts durch einen Vergleich der beteiligten nationalen Rechtsordnungen an.[49] Steindorff arbeitet heraus, dass die Tätigkeit der Hohen Behörde „Wirtschaftsverwaltung“ sei und dass darüber zwischen der deutschen und der französischen Delegation Meinungsverschiedenheiten bestanden, ob die aus ihrem nationalen Recht bekannten verwaltungsgerichtlichen Kontrollweiten hoheitlicher Tätigkeit hätten übertragen werden können. Durch die Arbeit zieht sich somit kontinuierlich die Aufbereitung innernationaler Streitstände zu Fragen um Klagebefugnis, subjektive Rechte und andere Elemente, die sodann auf das Montanrecht abgebildet werden[50] – eine historisch-systematische Erschließung des Montanrechts durch Rechtsvergleichung.

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Parallelen zu Verwaltungsgemeinschaften

Ein zweites Beispiel knüpft an die Dissertation von Walter Much an, der über eine Abordnung des bayerischen Justizministeriums an das Bundesministerium der Justiz gelangte und von September 1950 bis April 1951 juristischer Mitarbeiter der deutschen Verhandlungsdelegation war. Er wurde 1952 mit einer Arbeit über die Amtshaftung der Montanunion, der eine Rechtsvergleichung des deutschen und des französischen Amtshaftungsrechts zugrunde liegt, promoviert,[51] und im selben Jahr Rechtsberater der Hohen Behörde. Much zieht in seiner Dissertation Parallelen zu historischen Verwaltungsgemeinschaften (Brüsseler Zuckerkonvention 1902, Flusskommissionen, Internationale Zivilluftfahrtorganisation 1944), stellt aber fest, dass die Europäische Montangemeinschaft „mehr will“, nämlich der Beginn einer tieferen politischen Vereinigung Europas sein. Much betont die Eigenständigkeit und den Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht im Sachbereich der EGKS,[52] und widmet sich sodann der Haftung der EGKS für Amtsfehler. Im Rechtsvergleich erfolgen Bezugnahmen auf die internen Diskussionen der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, beispielsweise zu der Frage, ob ein umfassender Folgenbeseitigungsanspruch als Rechtsfolge im Rechtsschutzsystem des EGKSV Platz hat.[53] Diese Präsenz deutschen Verwaltungsrechtsdenkens in der Montanunion ersetzt freilich keinen Dialog, in dem die Verwaltungsrechtswissenschaft ihrerseits Anregungen aus dem neuen überstaatlichen Recht erhielt, oder ein Einspeisen aktueller wissenschaftlicher Debatten aus den Mitgliedstaaten.

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Einfluss des französischen Verwaltungsrechts

Ein drittes Beispiel, das zusätzlich auf die schwierigen Rezeptionsbedingungen für deutsches Verwaltungsrecht und -denken aufmerksam macht, nimmt auf die Verhandlungssituation Bezug, die das französische Verwaltungsrecht in eine per se bessere Ausgangslage brachte. Hans-Jürgen Schlochauer, der an den Verhandlungen in Paris teilnahm, schrieb zu „verwaltungsrechtlichen Klagen“ in der Montanunion: „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des [EGKS-]Gerichtshofes ist nach Vorbildern aus dem deutschen und französischen Recht gestaltet. Die Institutionen dieser Rechtskreise sind aber nicht schematisch übernommen, sondern im Hinblick auf die Rechtsnatur der Gemeinschaft abgewandelt. Das Überwiegen von Bestandteilen französischen Rechts ist nicht auf ein – vielfach vermutetes – Übergewicht des französischen Rechtsdenkens, sondern darauf zurückzuführen, daß die deutsche Delegation bei den Vertragsverhandlungen Rechtsinstitute des in seiner klassischen Durchbildung weiter verfeinerten französischen Verwaltungsrechts, unter gewissen Einschränkungen, bewußt anerkannt hat.“ Diese Beschreibung deckt sich mit der Schilderung Carl Friedrich Ophüls‘: „Dem entspricht es, daß die Begriffsbildung im Montanvertrag vielfach vom Verwaltungsrecht ausging – dem Rechtszweig, der sich mit dem Handeln des Exekutivorgans befaßt. Modell war hierbei das französische Verwaltungsrecht, das von den übrigen Mitgliedstaaten mehr oder weniger rezipiert war und somit weithin ein gemeinsames europäisches Recht der Mitgliedstaaten darstellte.“[54] Ophüls schreibt terminologisch von der Hohen Behörde als „Oberstes Regierungs- und Verwaltungsorgan“, das „die erforderlichen einzelnen Verwaltungsakte“ erlässt,[55] obwohl die deutsche Übersetzung des Vertragstextes diese Terminologie nicht verwandte.[56] Dass der dominante Einfluss des französischen Verwaltungsrechts sich auch in der Auslegung des Montanrechts bemerkbar machen würde, war den Beteiligten bewusst.[57] Gleiches galt auch für die externe Rechtswissenschaft, wie die Monographie von Franz-Wilhelm Jerusalem zur Montanunion zeigt. Er sah die Montanunion als sachspezifische Eigenverwaltungsgemeinschaft, die größte Bedeutung des Gerichtshofs folgerichtig in seiner Eigenschaft als Verwaltungsgericht. Der als stark empfundene Einfluss französischen Verwaltungsrechts führt den Autor zur vergleichenden Hinzuziehung desselben, etwa im Rahmen der Ausführungen zur Ermessensmissbrauchskontrolle durch den Gerichtshof.[58] Während sich bereits eine Dissertation aus dem Jahr 1963 ausschließlich mit dem Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf die drei Gemeinschaften befasst hat,[59] steht eine entsprechende Detailstudie für den Einfluss des deutschen Verwaltungsrechts weiterhin aus.[60]

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Unverbundene Rechtsordnungen

Neben den Pionierwerken zu der neuen Gemeinschaft gab es bereits deutliche Hinweise, dass ein öffentliches Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht entstehe, das auf dem Gebiet von Kohle und Stahl das nationale Recht ersetze.[61] Dem Gros der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaftler fehlte es für erste eigene systematische oder theoretische Analysen jedoch an breiten materiell- oder verfahrensrechtlichen Anstößen. Dazu trug bei, dass die Montanunion eine Eigenverwaltung aufbaute und der aus der EWG vertraute dezentrale Verwaltungsvollzug durch die Mitgliedstaaten noch nicht erfunden war.[62] Erst die Rechtsetzung der EWG durch Verordnungen und Richtlinien löste breite mitgliedstaatliche Vollzugstätigkeiten und mitgliedstaatliche Konkretisierungsgesetzgebung aus. Die Montanunion war im Wesentlichen ein aus den Mitgliedstaaten ausgegliederter Funktionsbereich, den die Hohe Behörde, „wie allein schon aus dem Namen des Organs hervorgeht“, nach Maßgabe des EGKS-Vertrags „aufgrund von Sachgesichtspunkten [...] verwalten sollte. Die „Regeln des Vertrags zeigen, daß ein Sachgebiet entpolitisiert werden sollte“, was man auch „technokratische Lösung“ nennen könne.[63] Die Eigenverwaltung einer begrenzten Sachmaterie und die direkte Verpflichtung von Unternehmen und Privaten durch die Hohe Behörde bedingten eine relativ strikte Trennung der Rechtsebenen und beförderten keine starke Verschränkung von nationalem Recht und Montanrecht. Im Gegenteil, die Rechtsordnungen standen noch weitgehend unverbunden nebeneinander. Die Verfahren der Hohen Behörde und der Rechtsschutz gegen ihre Entscheidungen vor dem EGKS-Gerichtshof waren vom französischen Verwaltungsrecht geprägt.[64] Diese, in das Montanrecht aufgenommenen Elemente des französischen Verwaltungsrechts mögen – trotz Otto Mayers rechtsvergleichendem Vorbild – eine geringe Aufmerksamkeit der mit sich selbst befassten deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft in den 1950er Jahren begünstigt haben.

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