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Montag, 5. April 2004, 19.11 Uhr

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Die Marunouchi-U-Bahn-Linie verband Nakano mit Ikebukuro und gehörte schon tagsüber zu den besonders überfüllten Strecken in Tokyo, besonders zur Rushhour. Doch zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr war sie quasi täglich hoffnungslos überlaufen, und das lag daran, dass sie in Shinjuku hielt, dem Unterhaltungsviertel der Metropole. Täglich zwängten sich in die Wagen Schüler auf dem Weg in die Spielhallen, Geschäftsleute in die Pachinko-Bars, Hausfrauen in die Kinos - es war eine formlose Masse von Menschen, die sich quallenähnlich zusammenquetschte, auseinanderzog und manchmal auch trennte, als bestehe sie aus einer einzigen Zelle und habe sich soeben geteilt.

Eigentlich war die Enge in einer so besetzten U-Bahn geradezu unerträglich; die Fahrgäste jedoch standen sie mit stoischer Ruhe aus. Niemand beschwerte sich; warum auch, es ließ sich doch ohnehin nicht ändern, und manchen gelang es sogar, in den überfüllten Wagen zu schlafen. Wieder andere lasen, starrten vor sich hin oder waren in Gedanken schon im Feierabend. Eine Tokyoter U-Bahn war eine Studie in Introvertiertheit, wie man sie sonst vielleicht nur noch in tibetanischen Mönchsklostern oder bei Bergsteigern auf dem K2 beobachten konnte, und wenn sich doch jemand nicht nur mit sich selbst beschäftigte, nahm davon niemand Notiz - man tat sein bestes, die anderen Fahrgäste einfach zu übersehen.


Aber als die Marunouchi-Linie in Richtung Nakano an diesem frühen Abend um elf Minuten nach neunzehn Uhr in die Haltestelle Shinjukusanchome einfuhr, war die bisherige Fahrt der U-Bahn für die Mitfahrer an diesem Abend völlig anders als sonst verlaufen, vor allem für acht Männer mittleren Alters, die die Wagen nicht, wie sonst üblich, ohne Begleitung verließen, sondern mit jeweils einem in Zivil gekleideten Polizeibeamten der "Tokyo Metropolitan Police", Abteilung "Öffentliche Sicherheit", direkt hinter sich. Einige neugierige Köpfe reckten sich ihnen nach, doch zum Glück nur wenige Sekunden, bis die Türen der Bahn sich wieder schlossen und sie abfuhr.

Die Polizisten führten die Männer den Bahnsteig hinunter und auf eine der an der Station befindlichen kleinen Polizeistationen zu, die in der Stadt als "Kobans" bekannt waren. Diesmal war das Häuschen aber nicht, wie sonst üblich, von zwei uniformierten Mitgliedern der Gemeinschaftspolizei besetzt. Ein nahezu kahlköpfiger, gut durchtrainierter Mann in den Vierzigern saß auf einem Hocker in dem Koban, und ein etwas jüngerer mit leicht gebräunter Haut und einem konservativen Seitenscheitel in seinem schwarzen Haar stand davor. Er trug einen langen Mantel und hatte die Hände in den Taschen, doch als die kleine Gruppe von der U-Bahn sich näherte, nahm er sie heraus und klappte einen Polizeiausweis vor den ankommenden Leuten auf.

"Meine Herren", sagte er mit ernster Stimme, "ich bin Polizeiinspektor Toritaka, und der Herr dort hinten ist Assistenzinspektor Kakiden. Wir kommen vom Dezernat Öffentliche Sicherheit, und die Damen und Herren, welche sich in der Bahn an sie gewandt haben, unterstehen ebenfalls unserer Abteilung. Ich darf ihnen mitteilen, dass sie wegen Verstößen gegen die sittliche Ordnung vorläufig festgenommen sind."


"Das soll wohl ein Scherz sein", erboste sich einer der Festgenommenen, ein hochgewachsener, graumelierter Herr in einem teuren Straßenanzug und mit einer großen, goldumrandeten Brille. "Ich bin mir keines Vergehens bewusst! Darf ich erfahren, wieso man mich verhaftet?"

Inspektor Toritaka klappte seinen Ausweis zu und verstaute ihn zackig in seiner Manteltasche. "Sie sind nicht verhaftet", sagte er ruhig, "sondern vorläufig festgenommen. Es liegt keine Anklage gegen sie vor, aber es besteht der hinreichende Verdacht, dass sie sich der Körperverletzung und Nötigung schuldig gemacht haben."

Der graumelierte Herr wuchs förmlich noch ein paar Zentimeter vor Zorn. "Körperverletzung und Nötigung?! Das ist... das ist ja Willkür! Mein Anwalt wird sie..."

"Beamtin Gorei", unterbrach ihn der Inspektor und nickte der Polizistin zu, die hinter dem Geschäftsmann stand, "wenn sie so freundlich wären, ihre Beobachtung mitzuteilen?"

"Sehr wohl, Inspektor", nickte die junge Frau. "Um etwa achtzehn Uhr neunundvierzig konnte ich als Zeugin beobachten, wie dieser Herr hier sich in der U-Bahn einer weiblichen Person näherte, Mitte Zwanzig, schwarzes Haar, etwa einsachtundsechzig groß. Die Person war gerade eingestiegen und wurde weiter in die Mitte der Bahn gedrängt. Von der rechten Seite schob sich der Herr hier auf sie zu, presste seinen Unterleib gegen ihre Hüfte und begann, seinen Genitalbereich an ihrem Rock zu reiben. Nach einigen Sekunden sah er sich um, öffnete seine Hose und zog sein Geschlechtsteil heraus, das er dann ebenfalls an der Hüfte der weiblichen Person rieb. Als ich hinzukam und ihn ansprach, bemühte er sich nicht einmal, sich wieder anzukleiden, und erst nachdem ich mich als Polizistin offenbart hatte, brachte er seine Hose wieder in Ordnung."


Der Kopf des graumelierten Mannes war bei diesem Bericht allmählich puterrot geworden. "Unerhört", presste er hervor. "Ich habe nichts dergleichen getan! Diese... diese Frau da lügt, und sie haben keinen Zeugen für die Tat."

Toritaka starrte ihn unbewegt an. "Diese Frau dort, Polizistin Gorei, ist die Zeugin", erklärte er kalt. "Die Anklage gegen sie wird von der Person erhoben werden, die sie belästigt haben."

"Und wer soll das sein?" verlangte der Mann zu wissen. "Ich verlange, dass sie mir die Personalien geben, damit mein Anwalt..."

"Die Personalien dürften in diesen Minuten festgestellt werden", unterbrach der Inspektor ihn wieder, "und zwar von den anderen Beamten im Zug. Diejenigen, die sich ihnen und den anderen Herren nicht vorgestellt haben. Wie ich sagte, sie sind vorläufig festgenommen, damit wir erst einmal ihre Personalien aufnehmen können. Ich hoffe, sie alle hier können sich ausweisen?"


"Ich werde mich nicht ausweisen", fuhr der ältere Herr Toritaka an. "Ich lasse mich nicht einfach so aus der U-Bahn heraus verhaften, ohne dass es auch nur eine Anzeige gegen mich gibt! Ich habe nichts getan, was unsittlich gewesen wäre. Die Frau, die ich angeblich belästigt haben soll... wenn ich der wirklich etwas angetan habe, wieso hat sie mich nicht gleich an Ort und Stelle..."

In diesem Moment erhob sich ruckartig der fast kahle Mann von seinem Hocker, den Toritaka als Assistenzinspektor Kakiden vorgestellt hatte und trat einen Schritt auf den Herrn zu, der erschrocken verstummte. "Sie sagen also", fragte Kakiden freundlich nach, "sie möchten ihre Personalien hier nicht feststellen lassen?"

Der graumelierte Mann zögerte einen Moment, dann nickte er. "Ich will nicht wie ein Krimineller behandelt werden, obwohl ich nichts..."

"Ausgezeichnet", unterbrach ihn der Assistenzinspektor mit eisigem Lächeln. "Ich verhafte sie wegen Widerstands gegen Beamte der Öffentlichen Sicherheit. Gorei-san - festnehmen!"

"Wa..." konnte der Mann noch sagen, ehe ihm die Polizistin in seinem Rücken einen Arm auf den Rücken drehte und ihn mit Wucht gegen die Wand des Koban stieß, um ihm Handfesseln anzulegen."


Unter den entsetzten Schreien des älteren Mannes sah Kakiden über die Reihe der anderen Festgenommenen. "Noch jemand, der sich nicht ausweisen will?" fragte er. Es war nicht überraschend, dass sich niemand meldete. "Gut", nickte der Assistenzinspektor und sah zu seinem Vorgesetzten hinüber. "Sind sie einverstanden, wenn wir den Rest der Personalienfeststellung unseren Beamten hier überlassen?"

Toritaka nickte. "Einverstanden", sagte er und wandte sich an den ranghöchsten Polizisten unter den U-Bahn-Ermittlern, einen älteren Beamten im Rang eines Sergeanten. "Die Leute sollen hier am Koban Ausweiskopien erstellen und den Festgenommenen die Möglichkeit geben, der Strafanzeige mit einem eigenen Geständnis zuvorzukommen. Wer sich nicht ausweisen kann, zur Feststellung aufs Revier Shinjuku. Alles verstanden?"

"Vollkommen, Inspektor." Der Sergeant salutierte. "Die paar Leute behalten wir schon unter Kontrolle."

"Ausgezeichnet", lobte ihn Toritaka und blickte dann zu seinem Assistenzinspektor. "Kakiden-san, wir gehen."


"Manchmal verstehe ich sie wirklich nicht, Toritaka-san", meinte der ältere Polizist zu seinem Vorgesetzten, als die beiden ein Stück außer Hörweite waren. "Sie haben Superintendent Asashi drei Wochen lang mit diesem U-Bahn-Einsatz in den Ohren gelegen, haben fünfzehn Mann nur für diesen einen Abend zur Verfügung gestellt bekommen, und das alles nur für acht harmlose Grabscher?"

Inspektor Toritaka sah Kakiden nicht an. "Wissen sie", fragte er, "was ich den Leuten von unserem Einsatzkommando gesagt habe, ehe ich sie losgeschickt habe?"

Der kahlköpfige Polizeioffizier zuckte mit den Schultern. "dass sie kein Aufsehen erregen sollen?" schlug er vor.

"Nein." Toritaka starrte auf die Treppenstufen, die er hinaufmarschierte. "Jeder, der nicht mit mindestens einem Delinquenten aus dem Wagen kommt, muss zur Strafe zwei Stunden Drilltraining auf der Akademie absolvieren."

"Was?!" Kakiden sah verblüfft zur Seite. "Aber... das wäre doch ziemlich ungerecht gewesen, denke ich. Was, wenn in den Wagen jetzt gar nicht so viele Fummler gewesen wären?"


Der Inspektor seufzte. "Es sind immer so viele", sagte er. "Tag für Tag, Stunde für Stunde, und in den Stoßzeiten werden es noch mehr. Und warum sind es so viele? Weil niemand auf sie achtet. Niemand! Man weiß, dass es sie gibt, aber man übersieht sie nur zu gerne. Und wenn ich unseren Leuten nicht Strafe angedroht hätte, dann hätten auch sie nichts gesehen."

Unwillig neigte Kakiden den Kopf hin und her. "Darf ich offen sein, Toritaka-san?"

"Gerne doch."

"Ich glaube nicht", erklärte der Assistenzinspektor, "dass in den U-Bahnen viele strafwürdige Sachen passieren. Der Trottel von eben war doch ein Einzelfall. Vielleicht kommt gelegentlich wirklich mal ein Mann einer Frau zu nahe, aber so voll wie es da ist, lässt sich das doch kaum vermeiden, bei dieser Enge..."

Inspektor Toritaka blickte ihn an. "Glauben sie?"

"Absolut."

"Dann möchte ich ihnen etwas erklären", sagte der Polizeioffizier und blieb stehen, so dass die Menschenmenge um ihn und seinen Kollegen herumbrandete. "Seit ich vor fünfzehn Jahren in die Metropolitan Police eingetreten bin, hatten wir immer mal wieder schwankende, aber an sich leicht rückläufige Zahlen von angezeigten Verbrechen und Vergehen. Über die ganze Zeit aber ist eine Zahl besonders stark gesunken, und das war die Zahl angezeigter Sittlichkeitsvergehen. Können sie sich denken, wieso?"

Amüsiert schmunzelte Kakiden. "Die Straßen werden langsam sicherer", sagte er. "So einfach ist das."

Inspektor Toritaka schüttelte den Kopf. "So einfach ist es eben nicht", widersprach er. "Wenn man sich die Fälle, die zur Anzeige kommen, einmal ansieht, dann merkt man, dass ein immer größerer Teil davon schwere Vergehen und Verbrechen gegen die Sittlichkeit sind. Wir haben insgesamt weniger Anzeigen als noch vor fünfzehn Jahren, aber beispielsweise die Zahl von lebensbedrohenden Vergewaltigungen hat sich in der selben Zeit verdoppelt! Genau wie die Zahl von Entführung mit anschließender Vergewaltigung und Sittlichkeitsvergehen, bei denen das Opfer unter Drogen gesetzt wurde. Was sagt ihnen das, Kakiden-san?"

"Offensichtlich sind die Verbrecher in den letzten fünfzehn Jahren deutlich gewalttätiger geworden", schloss der Assistenzinspektor. "Ich bin zwar erst vor zwei Jahren aus der Verwaltung in ihre Abteilung gekommen, aber ich denke, das dürfte kein Geheimnis sein."


"Und wieder liegen sie daneben", gab Toritaka trocken zur Antwort. "Eigentlich hat sich die Zahl aller Vergehen gegen Moral und Anstand im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Aber niemand macht sich mehr die Mühe, solche Sachen auch zur Anzeige zu bringen. Es ist sogar noch schlimmer - die Leute übersehen inzwischen Straftaten lieber, als dass sie sich einmischen. Es gibt keine Zivilcourage mehr in unserem Land." Er starrte seinen Untergebenen einen Moment an, dann wandte er sich plötzlich ab und begann, die letzten Stufen der Treppe zu nehmen, wobei er sich wieder in den Strom der Passanten eingliederte. Erst, als er die unterirdische Haltestelle verlassen hatte, gelang es Kakiden wieder, mit ihm aufzuschließen.

Der Assistenzinspektor sah seinen Vorgesetzten lange und schweigend an, während er neben ihm in Richtung des gemeinsamen Dienstwagens schritt. Nach und nach lichtete sich die Menge der Passanten wieder, und schließlich war es um die beiden wieder ruhig genug, dass Kakiden es wagte, Toritaka wieder anzusprechen. "Darf ich ihnen noch eine persönliche Frage stellen, Inspektor?" bat er.

"Immer." Der Polizeioffizier zog den Schlüsselbund des Wagens aus der Tasche und betätigte die elektronische Wegfahrsperre.

"Ihr letzter Partner... Inspektor Katsuhara... warum hat er sich versetzen lassen?"

Toritaka ließ den Arm sinken. Einen Moment stand er völlig still da, atmete einmal tief durch, dann drehte er sich zu Kakiden um. "Sie haben einige Gerüchte gehört, nehme ich an", sagte er.

Langsam nickte der fast kahlköpfige Polizist. "Einige."

"Dann wird es sie interessieren, dass die meisten davon stimmen", erklärte der Inspektor. "Was nicht stimmt, ist die Theorie, ich sei homosexuell und habe versucht, Katsuhara zu belästigen. Ebenso ins Reich der Legende gehört das Gerücht, ich habe den Sohn des Parlamentsabgeordneten Somachi wegen des Besitzes von Kinderpornografie hinter Gitter bringen wollen." Er machte eine kurze Pause. "Es war Somachi-san selbst."

"Oh." Kakidens Miene verfinsterte sich. "Dann verstehe ich allerdings, dass es ihrem Partner an ihrer Seite zu heiß wurde. Somachi Youta hat schon die Karrieren von ganz anderen Leuten beendet."


Toritaka lächelte überraschend sanft. "Wie sie sehen", sagte er, "ist ihm das in meinem Fall nicht gelungen, und das lag daran, dass meine Ermittlungen Hand und Fuß hatten." Er öffnete die Fahrertür des Wagens.

Unsicher blieb der Assistenzinspektor vor der Beifahrertüre stehen. "Eins der Gerüchte lautet", sagte er, "dass sie keinem ihrer Verdächtigen etwas Strafbares nachweisen konnten, aber das Disziplinarverfahren eingestellt wurde, damit das Ansehen der Personen im Fall nicht litt."

"Das ist auch wahr", nickte Toritaka. "Ich war nicht in der Lage, meinen Verdächtigen nachzuweisen, dass sie die perversen Fotos, um die es ging, heimlich mit ihren Fotohandys aufgenommen hatten."

"Perverse Fotos, na ja..." Kakiden schmunzelte und öffnete die Türe. "Es ging doch nur um Pantyshots, oder?"


Der Inspektor warf ihm einen langen, ernsten Blick zu. "Nur?" sagte er, dann schwang er sich in den Wagen und startete den Motor. Kakiden konnte gerade noch einsteigen, ehe der Wagen abfuhr.


Auf der Fahrt ins Hauptpräsidium gingen Toritaka Shingo viele Gedanken durch den Kopf, doch er teilte sie nicht mit seinem Assistenzinspektor. Kakiden Tatsuhiro war vor zwei Jahren wegen einer Dienstaufsichtsbeschwerde degradiert und aus der Verwaltung in seine Abteilung versetzt worden - es war ironisch, aber irgendwie passend, dass man den Dienst an seiner Seite irgendwo oben als Strafe verhängte. Nach der Sache mit den Fotohandys hatte er einen mehr als schlechten Ruf als übereifrig und verbohrt gehabt, und er war froh gewesen, mit Kakiden wenigstens jemanden an seiner Seite zu haben, der gezwungen war, mit ihm zu arbeiten.

Toritaka hatte gerade die Beförderung zum Inspektor erhalten, als er bei einem Fall von bandenmäßigem Vandalismus während der Spurensuche in einem demolierten Auto Fotos gefunden hatte, welche Mädchenunterhöschen zeigten. Genauer gesagt, Mädchenunterhöschen, die gerade von Mädchen getragen wurden, und wenn man sich die Bildumgebung besah, mussten es Grundschülerinnen sein, die man ziemlich direkt von unten zwischen den Beinen fotografiert hatte. Die Herkunft solcher "Schnappschüsse" war ihm ein ziemliches Rätsel gewesen, bis er das Material an die Abteilung Forensik weitergegeben hatte und man feststellte, dass die Fotos mit Digitalkameras erstellt worden waren. Mit eben solchen Digitalkameras, wie man sie in letzter Zeit immer häufiger in Handys einbaute.

Der Inspektor forschte weiter nach und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass der Besitzer des demolierten Autos, der Parlamentsabgeordnete Somachi Youta, sich vor kurzem ein solches Kamerahandy zugelegt hatte, und die Schuluniformen auf den Bildern passten zu einer Grundschule, die direkt gegenüber seines Büros in der Innenstadt lag. Unter dem Verdacht der verbotenen Kinderpornografie ließ er vom Bezirksrichter eine geheime Hausdurchsuchung genehmigen und ließ die Inhalte der Festplatten der Computer in Somachis Büro und seinem Privathaus kopieren. Unmengen von "Pantyshots" wie die auf den Bildern in seinem Auto kamen zum Vorschein, offensichtlich nicht nur von ihm angefertigt, und es war ersichtlich, dass der Abgeordnete mit anderen Leuten dieses Material austauschte.


Und dann, mit einem Mal, war die Untersuchung zu Ende gewesen. Ein Parteifreund Somachis musste von den Ermittlungen erfahren haben, und der Parlamentsabgeordnete schaltete sogleich seine Anwälte ein. Diese stellten fest, dass es nicht möglich war, die im Wagen gefundenen Fotos zweifelsfrei genau seinem Fotohandy zuzuordnen, dass man außerdem digitale Bilder nach Belieben verändern konnten und diese somit als Beweismittel unzulässig waren und dass noch dazu die Wahrscheinlichkeit groß war, dass eher "moralisch verkommene Subjekte" wie eben die Vandalen, die das Auto verwüstet hatten, im Besitz solcher nicht einmal verbotenen Fotografien waren. Man forderte Toritaka auf, die Mädchen zu finden, die angeblich auf den Bildern zu sehen waren, denn ohne Geschädigte kein Verbrechen, und wenn hier niemand gegen seinen Willen aufgenommen worden war, dann war auch nichts strafbares passiert.

Der Inspektor musste einräumen, dass er die Bilder niemandem zuordnen konnte (und selbst wenn er gekonnt hätte, so hätte er den Familien der Mädchen die Schmach nicht zumuten wollen, ihre Kinder in der Öffentlichkeit gedemütigt zu sehen), und es gelang ihm nur, einer Degradierung zu entgehen, indem er Somachi wissen ließ, dass sich die Klatschpresse mit Freude auf einen Pantyshotfetischisten im Parlament gestürzt hätte. Und so ließ der Abgeordnete seine Beziehungen spielen, das Dienstaufsichtsverfahren gegen den Polizisten wurde eingestellt, und alle waren zufrieden.

Relativ zufrieden.


Toritaka war immer noch der Ansicht, richtig gehandelt zu haben, und wenn ihm der Vorfall eins gelehrt hatte, dann war es die Wahrheit über die angebliche moralische Höherwertigkeit der japanischen Gesellschaft. Was war das für ein Land, in dem man nichts Schlechtes darin sah, minderjährige Mädchen in entwürdigender Weise zu fotografieren und sich an diesen Bildern sexuell zu erregen? Was war das für ein Land, in dem sich schon Zwölfjährige auftakelten wie für den Kinderstrich und das ganze dann auch noch "Puchi-Lolita-Stil" nannten? Das Fernsehen zeigte in den Abendstunden mehr und mehr gewalttätige Animes, gezeichnete Pornografie (beschönigend "Ecchi" genannt) durfte frei in den Büchereien verkauft werden, und es gab nicht einmal mehr die allgemeine Zensur der Darstellung von Geschlechtsorganen in den Erwachsenenfilmen. Nach und nach wurde die Gesellschaft immer verkommener; der Sex spielte eine immer größere Rolle, und immer mehr anstößige Dinge wurden für völlig normal oder, noch schlimmer, für "trendy" erklärt.


Nach Ansicht des Inspektors hatte Japan seine Werte verloren. Werte, die es lange Zeit definiert hatten. Ein naturgegebener Anstand, eine Sitte, die sich aus dem ganz gewöhnlichen menschlichen Zusammenleben ergab. Wahrscheinlich hing der Verfall dieser Dinge damit zusammen, dass man die alten Hierarchien immer öfter in Frage stellte. In den Talkshows im Fernsehen wurde inzwischen sogar diskutiert, ob das Sempai/Kohai-Prinzip - eine ältere, erfahrenere Person, der Sempai, leitete eine jüngere, den Kohai, in ihrem Lebensweg an und stand ihr als Berater zur Verfügung, während die jüngere Person der älteren unangenehme alltägliche Pflichten abnahm - sich nicht inzwischen überlebt hatte und allgemein abgeschafft werden sollte. Sempai und Kohai gab es in allen Schichten der Gesellschaft und in allen Altersstufen, ob unter Schülern (wo die Älteren den Jüngeren beim Lernen halfen und die jüngeren dafür deren Putzdienst übernahmen), Geschäftsleuten (wo der Juniorpartner dem Älteren die Aktentasche trug und die Termine verwaltete, während der Seniorpartner dem Jüngeren die richtigen Beziehungen verschaffte) oder auch Polizisten (wo der dienstjüngere den Papierkram erledigte und den Mittagskaffee besorgte und der dienstältere ihm dafür die Gefahren im Revier vom Hals hielt). Und nun wurde selbst diese Grundlage menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt und als ausbeuterisch gegenüber dem Kohai bezeichnet... musste man sich da noch wundern, wenn Anstand und Moral zusammenbrachen?


Natürlich konnte Toritaka seinem Assistenzinspektor das unmöglich verständlich machen. Kakiden Tatsuhiro war bereits vom liberalen Geist der "neuen Zeit" infiziert. Im Gegensatz zum seinem ledigen Vorgesetzten war er verheiratet und hatte zwei Töchter, dreizehn und sechzehn Jahre alt, und die beiden Mädchen gehörten zu der Sorte Jugendlicher, die nicht einmal so viel Gemeinschaftssinn hatten, dass sie in ihrer Freizeit die Schuluniform anbehielten. Wer seine Kinder so aufzog, der hatte kein Verständnis für die Vorzüge der alten Zeiten.

Überhaupt hatten nicht viele Leute Verständnis für die Ansichten des Inspektors, weshalb er sie auch nur noch selten äußerte. Er wusste, dass hinter seinem Rücken deswegen über ihn geredet wurde, und mit Sicherheit gab es eine Menge Spott, aber er war ein guter Polizist und als Ermittler immer korrekt gewesen (mit der Ausnahme der Beinahe-Erpressung Somachis). Superintendent Asashi Hayao wusste, was er an ihm hatte und war auch gerne bereit, ihn bei seinen Fahndungen ein wenig zu unterstützen, wenn es denn nicht noch einmal auf einen öffentlichen Eklat hinauslief, und in der "U-Bahn-Razzia" hatte er persönlich grünes Licht gegeben. Der Einsatz war abgedeckt, selbst wenn von den Frauen, die man belästigt hatte, keine zu einer Anzeige bereit gewesen wäre. Und den Abschreckungseffekt durfte man auch nicht vergessen.


Im Hauptpräsidium angekommen, beauftragte Toritaka seinen Assistenzinspektor mit dem Anfertigen der Berichte. Eigentlich hätten beide jetzt schon problemlos in den Feierabend gehen können, doch obwohl die Polizeigewerkschaft schon vor Jahrzehnten klare Richtlinien für die Arbeitszeiten durchgesetzt hatte, war nahezu jeder Polizist rund um die Uhr im Dienst, und jede "Freizeit" bestand aus den Stunden, in denen es nicht viel zu tun gab oder aus den wenigen Tagen, die man als Urlaub angemeldet hatte. Auch der Inspektor selbst blieb noch lange auf seinem Büro. Einerseits wollte er noch alle Rückmeldungen der Polizeibeamten abwarten, die sich in der U-Bahn um die Belästigungsopfer gekümmert hatten (und hoffentlich viele davon zu einer Anzeige hatten überreden können), und außerdem musste er noch Mainichi informieren.

Die "Mainichi Daily News" waren eigentlich ein furchtbar unseriöses Sensationsblatt, das niemand kaufte, der halbwegs etwas auf sich hielt. Seltsamerweise wusste trotzdem jeder, wie die neuesten Schlagzeilen in den "Mainichi Daily News" lauteten, besonders die Schlagzeilen in der Sektion "Wai Wai", wo die besonders wilden Geschichten abgedruckt waren: Enthüllungsberichte über Hausfrauen als nebenberufliche Pornostars, kannibalisch veranlagte Grundschüler oder verrückte Lebensmittelskandale fanden sich hier regelmäßig, und eine Polizeimeldung über eine erfolgreiche Jagd auf U-Bahn-Grabscher in Tokyo würde sicherlich abgedruckt werden. Wenn er noch die Aussage Gorei-sans bezüglich des älteren Sittenstrolchs erwähnte, hatte er den Artikel sicher, und das würde das öffentliche Interesse wieder einmal auf das Problem der sexuellen Belästigung lenken.

Vielleicht waren die Methoden nicht ganz die richtigen, aber sie hatten den richtigen Effekt.


Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr, als Inspektor Toritaka den Pressebericht fertig geschrieben und per Mail an die Redaktion der "Mainichi Daily News" geschickt hatte. Von immerhin fünf Belästigungsopfern waren Anzeigen eingegangen (und darunter auch, was ihn besonders freute, das Opfer des älteren graumelierten Herren), und zwei weitere hatten ihre Adressen hinterlassen und gesagt, sie wollten sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Solche Erfolge waren in der Polizeiarbeit selten, und der Beamte stellte für sich fest, dass er nun beruhigt in den Feierabend fahren konnte. Er schaltete seinen PC und das Licht im Büro aus, schloss ab, verabschiedete sich von den Kollegen von der Nachtschicht und vom Personal am Empfang des Präsidiums, dann ging er in die Tiefgarage und stieg in seinen privaten kleinen Honda. Er wohnte am Stadtrand, um diese Zeit etwa eine halbe Autostunde entfernt, und es bedeutete ihm eine Menge, nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Sicher, es war ein Gemeinschaftserlebnis, mit Bussen und Bahnen zu fahren, aber der Inspektor legte seit einigen Jahren keinen besonderen Wert mehr auf die "Gemeinschaft" dort.

Wie üblich hatte er den Polizeifunk aktiviert - ein Polizist war nie wirklich außer Dienst - und ließ die Meldungen leise im Hintergrund laufen, während er die Sendersuche im Radio so eingestellt hatte, dass nur Enkas gespielt wurden. Toritaka hatte eine Schwäche für den schwermütigen, altmodisch anmutenden japanischen Schlager, die er im Gegensatz zu seinen sonstigen Ansichten tief in sich verborgen hielt und die ihm selbst ein wenig peinlich war, aber das hinderte ihn nicht daran, sie in seinen privaten Momenten vollkommen auszuleben.

Er war eben dabei, auf die Zubringerstraße in Richtung Vorstadt abzubiegen, als eine Meldung über den Polizeifunk seine Aufmerksamkeit auf sich zog:


"Sechs von K-Zweifünfsieben, wir haben einen Anruf aus PQ C-Dreizehn. Ruhestörung mit Verdacht auf Gewalttätigkeit. Kommen."

Toritaka schaltete das Radio ab und mit der selben Bewegung die Freisprechanlage ein. "K-Zweifünfsieben, hier Sechs-dreiundachtzig", meldete er sich mit der Nummer seines Wagens - Dezernat sechs war seine Abteilung, die Öffentliche Sicherheit, und der Ruf kam von einer K-Nummer, also einer der Koban-Stationen. "Ich bin gerade auf Höhe B-Elf auf der Schnellstraße und kann in etwa vier Minuten bei ihnen in C-Dreizehn sein. Kommen."

"Sechs-dreiundachtzig, verstanden", kam die Antwort. "Jemand hat sich beschwert, dass in einem Parkhaus eine Autoalarmanlage losgegangen ist und will direkt vorher einen Schrei und ein lautes Krachen gehört haben. Verdacht auf bandenmäßigen Vandalismus, Verstärkung von Vier ist unterwegs. Ende."

Der Inspektor warf einen kurzen Blick auf das Navigationssystem in seinem Wagen, auch wenn das kaum notwendig gewesen wäre. Im Planquadrat C-13 gab es nur ein Parkhaus: das große elfstöckige, welches zum nahen Century Tower gehörte. Es lag im Stadtteil Bunkyo - ein seriöses Geschäftsviertel - was bedeutete, die Autos dort waren allesamt ausgesucht teuer und edel, weshalb die Parkhäuser gut von privaten Sicherheitsdiensten bewacht wurden und gewöhnlich keine polizeiliche Hilfe benötigten. Allerdings... bandenmäßger Vandalismus, das konnte bedeuten, dass eine der gefährlicheren Straßengangs unterwegs war, und die hatten durchaus die Mannstärke und die Logistik, um sich mit ein paar Mann Sicherheitsdienst anzulegen. Gegenüber der Polizei waren sie allerdings oft etwas vorsichtiger, was daran lag, dass bei einer Notlage von Polizeibeamten innerhalb von zehn Minuten überall in Tokyo ein Sondereinsatzkommando eingreifen konnte. Niemand wollte ein Sondereinsatzkommando am Hals haben.


Toritaka ließ die Seitenscheibe seines Autos herunter, zog das Blaulicht aus der Mittelkonsole seines Wagens hervor, schaltete es ein und pflanzte es aufs Dach, während er in Richtung des gemeldeten Notrufs fuhr. Wenn Verstärkung vom Dezernat 4 angefordert worden war, der Streifenpolizei, die auch die Kobans besetzte, dann würden die wahrscheinlich erst in etwa zehn Minuten auftauchen, wenn sich zwei oder drei Wagen gesammelt hatten. Ganz alleine am Ort eines vermuteten Gangverbrechens aufzutauchen, wäre eine schlechte Idee gewesen, weshalb der Inspektor schon einen Block früher als nötig abbog und den Koban ansteuerte, von dem der Funkruf gekommen war.

Er hielt vor dem kleinen Häuschen und ließ die Seitenscheibe herunter. "Einsteigen", sagte er zum ersten der beiden Polizisten, der ihm entgegenkam, wobei er ihm seinen Ausweis mit der Dienstmarke des Inspektors entgegenhielt. Der Mann, ein hagerer, dürrer Seniorpolizist, salutierte kurz, ehe er hastig die Tür aufriss und in den Honda sprang. Toritaka stieg sofort wieder aufs Gas, und bis sein Beifahrer sich angeschnallt hatte, war er auch schon auf dem halben Weg zum Parkhaus unterwegs.


"Iburo Tomoki", stellte der Polizist sich vor. "Bei mir ging der Notruf ein."

"Toritaka Shingo", gab der Inspektor zurück. "Ist der Zeuge glaubwürdig?"

Iburo nickte. "Ein Student von der Metropolitan-Universität", berichtete er. "Personalien werden gerade aufgenommen."

"Ausgezeichnet." Toritaka steuerte einen Platz am Straßenrand kurz vor der Einfahrt des Parkhauses an - um diese Uhrzeit war die Zufahrt schon lange geschlossen. "Wir werden nicht warten, bis die Verstärkung da ist. Sie sind an der Waffe ausgebildet, Iburo-san?"

Der Polizist nickte. "Jawohl, Inspektor-san", bestätigte er, "aber im Dienst an einem Koban..."

"Ich weiß", unterbrach ihn Toritaka, "sie tragen keine bei sich. Nehmen sie sich die Glock in meinem Handschuhfach. Munition liegt in den Magazinen direkt daneben."

Langsam parkte der Inspektor den Wagen und sah Iburo zu, wie er die Waffe nahm, kontrollierte, sicherte und dann lud. Er steckte sie in seinen Gürtel, und Toritaka nickte. "Gut", sagte er, "sie haben sie eingesteckt, und da bleibt sie auch, bis ich etwas anderes sage." Die Glock war keine offizielle Dienstpistole, sondern ein Geschenk, das Toritaka beim Besuch einer ausländischen Polizeitruppe erhalten hatte, und er hätte es nicht gerne gesehen, wenn dieses Geschenk wirklich jemanden umgebracht hätte.


Beide Polizisten verließen den Wagen, Toritaka schaltete die Wegfahrsperre ein, dann gingen sie die Auffahrt ins Parkhaus hinauf. Schon hier war zu hören, dass die Meldung nicht einfach frei erfunden gewesen war: das schrille Fiepen einer Autoalarmanlage hallte aus der Entfernung zu den beiden. Toritaka sah auf die Uhr: Einunddreißig Minuten nach Elf. "Um wieviel Uhr genau wurde das hier gemeldet?" erkundigte er sich.

"Dreiundzwanzig Uhr und... dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Minuten", antwortete Iburo. "Ich habe den Ruf unverzüglich weitergeleitet. Warum fragen sie?"

"Ich will abschätzen", erklärte der Inspektor, "ob unsere Täter noch hier sein könnten."

Der Polizist schwieg kurz und lauschte. "Außer dem Alarmton höre ich nichts."

Zustimmend nickte Toritaka. "Das bedeutet aber nicht", sagte er, "dass dort niemand ist. Es kann auch bedeuten, dass jemand der Polizei eine Falle stellen will. Und davon gehe ich hier aus."

"Wieso das?" Iburos Gesicht zeigte deutliche Besorgnis.

"Kein Licht", antwortete der Inspektor. "Es muss hier drinnen einen Sicherheitsdienst geben, der einen Autoalarm hört, ehe jemand außerhalb des Parkhauses davon etwas bemerkt. Im Polizeifunk kam keine Meldung, dass der Sicherheitsdienst hier im Parkhaus sich gemeldet hätte, also ist anzunehmen, dass das Wachpersonal hier die Sache selbst in die Hand nehmen will. Aber inzwischen sind mindestens acht Minuten vergangen, seitdem der Autoalarm gemeldet wurde. Genug Zeit für den Wachdienst, wenigstens das Licht einzuschalten, oder?"

Der rangniedere Polizist schluckte und legte eine Hand auf die Pistole in seinem Gürtel. "Was... was machen wir jetzt?" wollte er wissen.

"Licht", antwortete Toritaka, trat auf das Wachbüro direkt an der Einfahrtschranke zu und klopfte an die Milchglasscheibe am Eingang.


Nichts geschah.


Der Inspektor klopfte nochmal, und als niemand öffnete, ging er einen Schritt zurück, holte mit dem Fuß aus und trat kräftig mit der Ferse gegen das Schloss. Klirrend brach das dünne Metall auseinander und die Türe flog auf. Toritaka sah hinein: Leer. Ein Griff nach rechts schaltete die kleine Lampe im Büro ein. Es war ordentlich aufgeräumt, keine Anzeichen für einen Kampf waren zu erkennen. An der Rückwand hing der Dienstplan der Sicherheitsfirma, die für das Parkhaus zuständig war. Für montags war keine Nachtschicht eingetragen.

"Entwarnung", seufzte der Inspektor. "Das Wachpersonal für heute abend wurde wohl bei den letzten Budgetkürzungen der Stadt eingespart. Verfluchte Wirtschaftskrise." Er sah sich kurz um, bis er den Hauptschalter für das Licht im Parkhaus entdeckt hatte und schaltete ihn ein. "Gehen wir."

"Jawohl." Iburo war nun wieder sichtlich wohler zumute. "Wenn sie gestatten, Inspektor-san, der Alarm scheint nicht wirklich von hier drinnen zu kommen. Vielleicht hat das Parkhaus einen Hinterhof?"

Toritaka nickte. "Gehen wir doch einmal nachsehen", sagte er und wandte sich in Richtung Treppenhaus um. Eine Türe mit der Aufschrift 'Personal' kam ihm vielversprechend vor; er rüttelte daran, aber sie war abgeschlossen. Er überlegte kurz. "Es muss einen Notausgang geben", sagte er dann, "der hinten zur Feuerwehrzufahrt führt und der nicht abgeschlossen werden darf. Suchen wir ihn."


Beide Polizisten schritten im nun hell erleuchteten Parkhaus nebeneinander her, und es dauerte keine zwei Minuten, ehe sie die Ausschilderung zu einem Fluchtweg gefunden hatten. Zur Freude des Inspektors ging dieser ganz nach außen, wo er auf einer metallenen Feuertreppe im amerikanischen Stil endete. Das Geräusch des Autoalarms kam unzweifelhaft von hier unten. Ein orangenes Blinklicht, das neben ihm aufflammte, als er die letzte Tür öffnete, machte ihm klar, dass er wahrscheinlich soeben den Feueralarm des Parkhauses aktiviert hatte, aber das war kein Problem. "Iburo-san", sagte er, "sie haben ihr Funkgerät dabei?"

Der hagere Polizist nickte. "Natürlich."

"Dann melden sie hier einen irrtümlichen Feueralarm", ordnete Toritaka an. "Die Feuerwehr braucht nicht auszurücken. Und fragen sie nach, wo die Verstärkung von der Vier bleibt. Ich gehe runter."

Ohne auf den zweiten Mann zu warten, schritt der Inspektor die Feuertreppe herunter. Dort unten war offensichlich niemand. Die blinkenden Scheinwerfer eines Autos waren schon von hier leicht zu sehen und erhellten den ganzen Platz halbwegs passabel. Es gab keine Versteckmöglichkeiten in der Gegend. Keine Gefahr.


Je näher der Inspektor dem Auto kam, desto deutlicher konnte er erkennen, dass der Wagen schwer beschädigt war. Es handelte sich um einen Kombi, wahrscheinlich einen Dienstwagen der Parkhausverwaltung, und jemand hatte die Frontscheibe eingeschlagen und das Dach von oben eingedrückt. Als habe ein Sumoringer darauf den Bogentanz vorgeführt, kam es Toritaka seltsamerweise in den Sinn, doch dann war er nahe genug, und seine Augen hatten sich an die anderen Lichtverhältnisse genügend gewöhnt, dass er Details erkennen konnte, und sofort war jeder ansatzweise amüsante Gedanke aus seinem Kopf verschwunden.

Die Person, die das Auto demoliert hatte, war noch hier. Sie lag auf dem Auto... eher darinnen, denn offenbar war sie von oben mit solcher Wucht auf dem Auto aufgeschlagen, dass sie das Hardtop-Dach teilweise zertrümmert hatte. Blut sickerte langsam über die unter dem Aufprall geborstene Frontscheibe. Das Blinklicht der Autoalarmanlage tauchte alles in ein gespenstisches Flackern.


Tokyo, dachte Toritaka. Jemand begeht Selbstmord, und man meldet eine Ruhestörung und Vandalismus.

Er blieb stehen, steckte die Hände in die Manteltaschen, und da stand er auch noch, als Minuten später endlich die Verstärkung vom Dezernat Vier eintraf.

Die Tugend von Tokyo

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