Читать книгу Die Tugend von Tokyo - Götz T. Heinrich - Страница 6

Mittwoch, 7. April 2004, 9.07 Uhr

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Superintendent Asashi blickte skeptisch auf den Bildschirm seines Laptops und sah von dort immer wieder zu Toritaka und Kakiden, die in seinem Büro Platz genommen hatten. Vor allem der Inspektor schien ihm Sorgen zu machen, wenn man das Stirnrunzeln richtig verstand, das er immer wieder aufsetzte. Schließlich aber lehnte er sich in seinem Sessel zurück, betrachtete noch ein letztes Mal den Monitor und wandte sich das vollends den beiden Beamten zu.

"Ihnen ist natürlich klar", sagte er, "dass das eine reichlich dürftige Indizienlage ist."

"Absolut", stimmte ihm Inspektor Toritaka zu. "Ich würde sogar soweit gehen, dass ich sage, wir haben noch nicht einmal eine Indizienlage. Alles, was wir im Moment haben, sind Widersprüche in der bestmöglichen Theorie über unseren Fall hier. Ich möchte nur darum bitten, diese Widersprüche mit den besten Mitteln aufzulösen, die uns zur Verfügung stehen."

Asashis Lippen wurden schmal. "Die sogenannten Widersprüche stützen sich auf die Aussage von jemandem, der einen Schrei gehört haben will und auf ein nicht abgeschlossenes Auto."

Der Inspektor hob eine Hand. "Und auf die Aussage des Vorgesetzten unseres Toten hier", sagte er, "dass er nicht der Typ für einen Selbstmord war. Mura-san mag kein Psychologe sein, aber als Personalchef darf man ihm einige Menschenkenntnis unterstellen."


"Mir gefällt das trotzdem nicht wirklich", gab der Superintendent zu bedenken. "An sich haben wir eine wirklich passable Theorie, mit der wir den Fall schnell abschließen könnten und damit der Familie des Toten weitere Unannehmlichkeiten ersparen würden. Sie wollen jetzt das alles in eine Richtung wenden, die noch sehr langwierig werden kann. Ich will nicht, dass unser Dezernat von den Medien zum Sündenbock gemacht wird."

"Wenn ich dazu etwas sagen dürfte", meldete sich Kakiden zaghaft zu Wort.

Asashi nickte ihm zu. "Ich bitte darum."

Mit einem kurzen Ruck beugte sich der Assistenzinspektor etwas vor. "Toritaka-san und ich haben heute früh bereits über die Umstände gesprochen", sagte er, "und wir sind beide der Ansicht, dass es vorerst nicht notwendig sein wird, die Familie von Masakiri in die Ermittlungen mit einzubeziehen. Wir möchten uns vorerst um die Frage der Fremdeinwirkung kümmern. Bisher gibt es ja noch keine Indizien dafür, allerdings gab es auch noch keine ernsthafte Auswertung der gesicherten Spuren. Ich wollte mich mit Dezernat fünf zusammentun - ein früherer Schulfreund von mir arbeitet in der Gerichtsmedizin und kann uns wahrscheinlich weiterhelfen."

"Wenn sie das diskret machen", meinte der Superintendent, "habe ich nichts einzuwenden. Und was werden sie tun, Toritaka-san?"

"Ich möchte mich auf ein mögliches Motiv konzentrieren", sagte der Inspektor. "Masakiri war ein nicht besonders erfolgreicher Anlageberater - wenn solche Leute in finanzielle Schwierigkeiten geraten, dann haben mit einiger Wahrscheinlichkeit auch einige ihrer Kunden Geld verloren, und das nicht zu knapp. Ich will mich unter seinen ehemaligen Kunden umsehen."


Etwas irritiert zog Asashi eine Augenbraue hoch. "Seine ehemaligen Kunden?" wollte er wissen. "Ich hoffe, sie haben nicht vor, unbescholtenen Geschäftsleuten auf den Kopf zuzusagen, dass sie sie für potentielle Mörder halten."

Toritaka musste unwillkürlich lächeln. "Sehr schmeichelhaft, dass sie mir so etwas zutrauen, Superintendent", sagte er. "Nein, ich wollte keine unbescholtenen Leute befragen. Aber Masakiri hat für ein Bankhaus gearbeitet, das schon einmal Probleme mit dem Gesetz hatte... eine Beamtin von Dezernat fünf hat mir den Tip gegeben, dass die Yoshioka-Bank in der Vergangenheit mit der Yakuza zu tun gehabt haben soll. Ich denke, für diese Kreise wird es nichts Neues sein, dass man sie für potentielle Mörder hält."

"Das beruhigt mich nicht wirklich", warf Asashi ein. "Wir sind hier nicht in Dezernat sieben, wo man täglich mit Schwerkriminellen zu tun hat. Ist ihnen das Risiko nicht zu groß?"

"Kaum, Superintendent", schüttelte der Inspektor den Kopf. "Für ein echtes Yakuza-Verbrechen ist dieser Fall hier nicht der richtige Stil. Viel zu unspektakulär. Wenn der Täter aus Yakuza-Kreisen stammt, dann hat er auf jeden Fall auf eigene Faust gehandelt. Und in diesen Kreisen geht man nicht gerade rücksichtsvoll mit Mitgliedern um, die so ungeschickt sind, polizeiliche Ermittlungen auf sich zu ziehen. Wenn nicht gerade ein Oyabun persönlich hinter dem Fall steht, wird man wahrscheinlich sogar mit uns kooperieren."

Der Superintendent nahm eine Hand vor den Mund und schien einen Moment nachzudenken. "Kakiden-san, lassen sie uns kurz alleine", sagte er dann.

Mit einem Nicken erhob sich der Assistenzinspektor. "Jawohl!" sagte er und verließ den Raum.


"Sie haben sich keine sehr ruhmreiche Aufgabe ausgesucht", fuhr Asashi fort, als Kakiden gegangen war. "Wenn sie keine Hinweise auf ein Fremdverschulden finden, haben sie eine Menge Aufwand betrieben und eine Menge Fliegen aufgescheucht, und alles für nichts. Und wenn sie Indizien finden, dass das hier kein Selbstmord, sondern ein Verbrechen war, dann werden sie den Fall an Dezernat fünf oder Dezernat sieben abgeben müssen. Ist ihnen das bewusst?"

"Voll und ganz, Superintendent", bestätigte Toritaka überzeugt. "Es geht mir auch nicht um Ruhm - ich will einfach nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe das Gefühl, hier will uns jemand mit einem Selbstmord abspeisen, obwohl viel mehr dahintersteckt, und so einfach will ich es ihm nicht machen."

Der Superintendent runzelte besorgt die Stirn und beugte sich etwas vor. "Shingo-san", meinte er etwas leiser und in viel vertraulicherem Ton als zuvor, "sie wissen, dass ich eine Menge auf ihre Intuition gebe. Aber in diesem Fall haben wir wirklich absolut nichts handfestes. Bisher gab es noch nicht einen Hinweis, dass Masakiri da oben auf dem Dach nicht alleine war. Was macht sie so sicher?"

Schweigend blickte der Inspektor einen Moment lang zurück, ehe er antwortete. "Nur eine Ahnung, Asashi-san", sagte er und ließ sich nicht darauf ein, den Vornamen seines Vorgesetzten zu verwenden, obgleich das in Ordnung gewesen wäre, wenn beide allein waren und er schon den seinen benutzt hatte. "Der Fall fühlt sich für mich einfach nicht richtig an. Bitte, lassen sie es mich versuchen."

"Verdammt." Asashi seufzte. "Also gut, sie haben meine Zustimmung, Shingo-san. Aber keine unnötigen Risiken, haben sie mich verstanden?"

"Voll und ganz, Superintendent!" Toritaka stand ruckartig auf und salutierte. "Ich werde sie nicht enttäuschen."


Als der Inspektor das Büro seines Vorgesetzten endlich verlassen konnte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er hatte den anonymen Brief nicht erwähnen müssen, und wenn es irgendwie möglich war, wollte er es auch dabei belassen. Besser, wenn er im ganzen Fall nicht auftauchte. Wenn es irgendwann einmal zu einem Gerichtstermin kam und in den Akten tauchte ein anonymer Hinweis auf, war das quasi ein Freibrief für den Anwalt des Angeklagten, der Polizei schlampiges Arbeiten vorzuwerfen, einen Zeugen, der möglicherweise auch ein Entlastungszeuge hätte sein können, nicht richtig gesucht zu haben. Der nächste Schritt war dann der Antrag, das Verfahren auszusetzen, bis die Person gefunden war, und wenn das Gericht dem nicht zustimmte, der Antrag auf Revision des Verfahrens wegen "noch ausstehenden Entlastungsbeweisen". So etwas verschleppte einen Prozess immer endlos.

Toritaka schrieb Kakiden noch einen Brief für Dezernat 5, dass er ihn in seinem Fall mit den Indizienermittlungen betraute und bat um die Aktenöffnung. Natürlich würde man ihm im fremden Dezernat kaum freie Hand lassen, aber er hatte ja einen Freund in der Gerichtsmedizin, der ihm weiterhelfen konnte, und das war alles, was er brauchte, um halbwegs schnell zu Ergebnissen zu kommen. Die moderne Spurensicherung - DNS-Analysen, Haarvergleiche, Fasertests - war sehr aufwendig, aber sie gab den Ermittlern des 21. Jahrhunderts mächtige Mittel zur Aufklärung von Verbrechen in die Hand.


Für den Inspektor fing die richtige Arbeit aber nun erst an. Bekannte Mitglieder der Yakuza, die auf freiem Fuß waren, gab es genügend, aber als Polizeibeamter spazierte man nicht so einfach bei denen in die Wohnung herein und verhörte sie. Selbst die kleinen Schmalspuranwälte, die sich um die niedrigen Chargen der japanischen Mafia kümmerten, waren gut genug, einem dafür eine Dienstaufsichtsbeschwerde an den Hals zu hängen, und das war das letzte, was sein Dezernat gebrauchen konnte. Nein, an solche Leute musste man anders herangehen.

Mit drei Stunden intensiver Aktenarbeit sortierte Toritaka zuerst einmal alle Leute aus, die für einen möglichen Mord überhaupt in Frage kamen: In Tokyo wohnend, selbst halbwegs wohlhabend, mit Aktienbesitz und einschlägig als Gewalttäter bekannt, das waren die Kriterien, nach welchen er vorging. Zu seiner Überraschung war die so entstehende Liste deutlich länger, als er gedacht hätte. Die alle überprüfen? Keine gute Idee. Es musste eine Möglichkeit geben, von diesen Leuten noch mehrere auszuschließen. Aber wie?

Da erinnerte sich der Inspektor noch einmal an die Verbindung zur Yoshioka-Bank und rief die Unterlagen des früheren Falles auf, bei der es um Geldwäsche gegangen war. Man hatte damals einen einzelnen Mitarbeiter des Bankhauses für Beihilfe zur Steuerhinterziehung und Strafvereitelung verurteilt, und ein Oyabun aus Tokyo namens "Aihara" war zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt worden, weil er sein Einkommen nicht korrekt angegeben hatte. Die große Strafe war aber auf einen Mittelsmann der Yakuza gefallen, selbst Besitzer einer kleinen legalen Spielhalle, der glaubhaft gemacht hatte, dass er ohne Auftrag gehandelt hatte, nur aus der Hoffnung heraus, so in der Gunst des Oyabuns zu steigen. Der Mann hieß Karai Taro und war seit einem halben Jahr wieder auf freiem Fuß.


Toritaka lächelte. Das war doch ein Ansatzpunkt. Wenn es noch Kontakte zwischen der Yoshioka-Bank und der Yakuza gab, würde Karai darüber wahrscheinlich informiert sein. In mafiösen Kreisen neigte man dazu, einmal aufgebaute Beziehungen nicht so einfach abzubrechen. Mit einiger Sicherheit hatte Karai inzwischen Leute, die in seinem Auftrag handelten, aber die beste Quelle für Informationen war er bestimmt noch selbst. Jetzt musste nur noch ein Weg gefunden werden, an ihn heranzukommen und ihn zu einer Aussage zu bringen. Niemand in der Yakuza verriet gerne seine Freunde...

Nun ja, alles zu seiner Zeit. Der Inspektor ließ sich ein Profil seines nächsten Zieles ausdrucken, steckte es ein und ging erst einmal zum Mittagessen in die Kantine. Seit zwei Tagen hatte er nur von Zwischenmahlzeiten gelebt, die man sich auf dem Weg von A nach B kurz genehmigen konnte, und er genoss das Gefühl einer richtigen Mahlzeit mit Miso-Suppe und Reisgericht im Magen. Der Tee hinterher aktivierte wieder seine Sinne, und er fühlte sich so frisch und ausgeruht, dass er später im Auto für die Fahrt sogar das Radio lauter als sonst stellte und gutgelaunt mitsummte. Der Polizeifunk konnte vorerst warten.


Es schadete seiner Laune nicht einmal, dass es zu regnen begonnen hatte, als er in Shibuya ankam. Toritaka parkte seinen Wagen in der Garage des HMV-Megastore, das fast zentral in der Innenstadt lag, zog sich einen Regenschirm aus einem Automaten in der Tiefpassage und schlenderte fast gemütlich die Viertelstunde durch die Seitenstraßen. Das prasselnde Geräusch der Wassermassen auf seinem einfachen Plastikschirm vermischte sich mit dem des typischen Großstadtlärms in Shibuya, und leidlich trocken kam er an der kleinen Spielhalle an, die Karai gehörte. Ironischerweise hieß sie "Golden Raining". Jetzt am frühen Nachmittag war sie noch geschlossen, aber durch die Scheiben konnte man erkennen, dass es sich wohl um eine klassische Pachinko-Halle mit einigen westlichen Scheibenspielautomaten handelte. Keine Telespiele, keine Spieltische - definitiv ein legales Geschäft.

Der Inspektor drehte eine kleine Runde um das Gebäude und besah es sich. Es war ein für Shibuya typisches "Fünf-Uhr-Haus", ein kleines Hochhaus voller Läden und Geschäfte, die erst um siebzehn Uhr nachmittags öffneten. Den Schildern an der Fassade war zu entnehmen, dass es hier zwei Nachtclubs, eine Buchhandlung, zwei Videotheken, ein Geschäft für "Ehehilfen" (gemeint waren Sexspielzeuge) und ein Reisebüro untergebracht waren. Illustre Gesellschaft für einen ehemaligen Yakuza. Wie viele der anderen Läden würden wohl auch Besitzer aus den gleichen Kreisen haben? Die Nachtclubs mit Sicherheit...


Toritaka entschloss sich, nicht erst zu warten, bis das Haus regulär öffnete und es möglicherweise voller "schwerer Jungs" war und klingelte am Seiteneingang im 'Golden Raining'. Es tat sich nichts. War noch niemand zuhause? Wenig wahrscheinlich. Er klingelte noch dreimal, und dann öffnete sich die Haustüre einen Spalt bis zur vorgelegten Sperrkette. "Wer da?" ertönte eine grobe, unfreundliche Stimme von innen.

"Guten Tag, mein Name ist Toritaka vom Dezernat für öffentliche Sicherheit", stellte sich der Inspektor mit besonders ausgesuchter Freundlichkeit vor und schob seinen Polizeiausweis durch den Spalt. "Ich müsste Karai Taro-san in einer wichtigen Angelegenheit sprechen."

"Haben sie einen Durchsuchungsbefehl oder eine Vorladung?" gab die grobe Stimme zurück.

Toritaka schob den Kopf vor, dass er durch den Spalt spähen konnte und die Person auf der anderen Seite sein freundliches Lächeln sehen konnte. "Nichts dergleichen", sagte er. "Ich bin auch nicht hier, um Karai-san zu verhaften oder seine Wohnung zu durchsuchen. Ich möchte nur kurz mit ihm sprechen."

Der Polizeiausweis wurde zurückgeschoben. "Kommen sie um fünf wieder, wenn die Spielhalle aufmacht", sagte die Stimme. "Ich hab zu tun."


"Ich fürchte", sagte der Inspektor und schob einen Fuß in die Türe, ehe der Mann auf der anderen Seite sie zudrücken konnte, "das wird nicht möglich sein, denn wenn ich jetzt nicht mit Karai-san spreche, dann wird diese Spielhalle heute nicht öffnen."

"Wie bitte?!" Von der anderen Seite blitzte ein Auge durch den Spalt. "Soll das eine Drohung sein, Polizist?"

Toritaka schüttelte den Kopf. "Das ist eine Tatsache", erklärte er. "Ich habe leider den begründeten Verdacht, dass dieser Gewerbebetrieb hier den Sicherheitsbestimmungen nicht mehr entspricht. Und wenn Karai-san mir nicht dabei hilft, diesen Verdacht auszuräumen, habe ich in einer Viertelstunde das Ordnungsamt mit einer Absperrverfügung hier."

Das Auge funkelte gefährlich. "Hier ist alles in Ordnung, Polizist", knurrte die Stimme. "Da wird auch das Ordnungsamt nichts finden."

"Es wird auch nicht suchen", gab Toritaka zurück. "Zumindest nicht mehr heute. Heute wird es nur den Laden schließen. Und morgen hat sich dann herumgesprochen, dass der Laden geschlossen wurde." In einer Branche, in der das öffentliche Ansehen wichtiger als alles andere war, war so ein Gerücht gleichbedeutend mit einer Halbierung der Gästezahl.

"Verdammt." Die Türe wurde zugeschlagen, und der Inspektor bekam gerade noch den Fuß aus dem Spalt, ehe an seinen Zehen unwiederbringlicher Schaden entstand. Das Klickern der Absperrkette war zu hören, dann ging die Türe richtig auf, und ein kleinwüchsiger, aber erschreckend breitschultriger Mann in einem reichlich billigen Straßenanzug mit nach hinten gegelten Haaren stand auf der anderen Seite. "Also gut, kommen sie rein", brummte er. "Aber kein Wort zu jemand anderem."


Toritaka nickte freundlich, ehe er eintrat und sich umsah. Das Treppenhaus hier war so schmuddelig, wie er es sich vorgestellt hatte, und der Geruch, der in der Luft hing, verriet die beiden Nachtclubs. Die Tür zum ebenerdigen Laden war offen, und der breitschultrige Mann ging voraus. "Sie suchen Karai", sagte er. "Ich bin Karai."

Amüsiert lächelte der Inspektor - er hatte auch nichts anderes erwartet. "Schön, sie kennenzulernen", sagte er. "Wie lange sind sie wieder aus dem Gefängnis heraus, Karai-san... sechs Monate? Sieben?"

"Fünf." Karai schloss die Türe hinter sich und seinem Gast. "Aber deshalb sind sie sicher nicht hergekommen. Was zum Teufel wollen sie? Die Spielhalle wird es nicht sein."

"Nein, die ist es nicht." Toritaka wurde etwas ernster. "Ich suche eine Information", sagte er. "Ich ermittle gerade in einem Todesfall, und der Tote ist... na, sagen wir einmal, einer ihrer früheren Geschäftskollegen."

Der breitschultrige Mann zog einen Stuhl herbei und ließ sich darauf nieder. "Ich habe mit... diesen Leuten nichts mehr zu tun", sagte er finster. "Ich habe meine Lektion im Gefängnis lernen müssen. Die Yakuza ist mir keine Familie mehr."

Abwehrend hob der Inspektor beide Hände. "Das meinte ich nicht", sagte er. "Ich will gar keine Informationen über solche Aktivitäten. Außerdem meinte ich gar nicht die Yakuza. Ich meinte die Kontakte, wegen denen sie damals hinter Gitter kamen."


"Yoshioka?" Karai runzelte die Stirne. "Seit wann beschäftigt sich die öffentliche Sicherheit mit Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung?"

"Ich habe mich vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt", gab Toritaka zurück. "Es geht um einen Toten, wie ich schon sagte, und um die Frage, wie er zu Tode kam.

Missmutig verschränkte der Spielhallenbesitzer die Arme. "Was hat das mit mir zu tun?" wollte er wissen.

Der Inspektor zog die Liste seiner potentiellen Verdächtigen hervor. "Ich vermute", sagte er, "dass mir einer der Herren hier näheres zu der Sache sagen kann. Aber ich will nicht ihre... Familie in ein schlechtes Licht rücken, indem ich sie allesamt verhöre. Vielleicht wäre es möglich, die Liste ein wenig einzugrenzen und mir zu sagen, wer von ihnen in Anlagefragen von der Yoshioka-Bank beraten wird?"

"Was bringt sie auf die Idee, ich könnte näheres darüber wissen?" konterte Karai, aber in seine Augen war ein unruhiges, verräterisches Flackern geraten.

"Meine Sache", sagte Toritaka. "Ich weiß, was sie denken - vielleicht habe ich Informanten, vielleicht auch nicht. Ich werde meine Quellen nicht offenlegen. Aber ich lasse ihnen die Wahl - sie machen auf diese Liste hier ein Kreuz oder auch ein paar, oder ich sorge dafür, dass ihr Laden mehr öffentliche Beachtung findet, als ihm guttut."

Mit schmalen Lippen warf der breitschultrige Mann einen Blick auf die Liste, dann nahm er sie dem Inspektor aus der Hand und stand auf. "Ich muss darüber nachdenken", brummte er. "Kommen sie um fünf wieder. Und jetzt machen sie, dass sie hier rauskommen."


Toritaka verneigte sich leicht. "Verzeihen sie die Unannehmlichkeiten", sagte er, wieder mit ausgesuchter Höflichkeit, und er meinte es nicht einmal ironisch. Ihm war klar, dass er den Yakuza in eine schwierige Lage brachte - er würde abwägen müssen, ob er seiner Organisation besser half, wenn er eine möglicherweise von der Polizei gesuchte Person aus ihren eigenen Reihen belastete oder wenn er zuließ, dass sein Betrieb in Verruf geriet - und mit seinem die anderen in den Stockwerken über ihm, die unzweifelhaft auch Wirtschaftsbetriebe der Yakuza waren. Aber nur auf diese Weise kam man bei solchen Leuten zu Ergebnissen.

Ruhig lief der Inspektor zurück zu seinem Wagen und sah auf die Uhr. Kurz nach halb vier. Er würde lieber ein wenig Verstärkung mitnehmen, wenn er nachher um fünf wiederkam. Außerdem interessierte es ihn, ob Kakiden bereits erste Ergebnisse hatte. Mindestens ein kleiner Anhaltspunkt wäre schon sehr schön gewesen und hätte Superintendent Asashi sicherlich auch ein wenig bezüglich des Einsatzes einer größeren Menge von Beamten im Umfeld der Yakuza überzeugt.

Kaum war er in seinen Wagen eingestiegen und hatte die Türe hinter sich geschlossen, als ein schwarzer BMW 5er mit hohem Tempo durch die Tiefgarage angefegt kam und mit quietschenden Bremsen direkt hinter der Parklücke anhielt, wo Toritakas Honda stand. Die Ausfahrt war blockiert!


Der Inspektor unterdrückte einen Fluch, zog mit einer Hand seine Dienstpistole, eine besondere Variante der SIG-Sauer P230, aus dem Mantel und aktivierte mit der andere Hand das Funkgerät im Wagen. Doch er hatte kaum den Knopf gedrückt, als ihn stetiges Rauschen und die Anzeige "No Freq" auf dem Display darüber informierten, dass er hier unten in der Tiefgarage, umgeben von Stahlbeton, keinen Empfang hatte. Verdammt - wer hätte auch damit gerechnet, dass die Yakuza innerhalb von fünfzehn Minuten so eine Aktion organisieren konnte?

Im Rückspiegel konnte Toritaka beobachten, wie aus dem BMW auf der ihm entgegengesetzten Seite zwei Personen ausstiegen - clevere Leute; sie gingen nicht das Risiko ein, dass der Polizist den Rückwärtsgang einlegte und sie zwischen seinem und ihrem Auto einquetschte. Die Personen waren fast identisch aussehende Männer, auffallend gut gekleidet und offensichtlich mit der selben Konfektion ausgestattet, die man auch im Yoshioka-Bankhaus schätzte. Beide traten links und rechts hinter das Auto des Inspektors, machten aber weder Anzeichen, sich weiter zu nähern, noch waren bei ihnen irgend welche Waffen sichtbar.


Fast eine Minute standen die Leute so regungslos da, bis Toritaka schließlich die Geduld verließ. Er ließ die Seitenscheibe herunter. "Ich würde gerne ausparken, meine Herren", rief er ihnen nicht ohne Sarkasmus in der Stimme zu. "Wären sie wohl so freundlich?"

Es geschah, was er erwartet hatte. "Würden sie bitte aussteigen, Inspektor Toritaka-san?" rief ihm der Mann zu, der auf seiner Seite stand. "Wir sind hier, um sie abzuholen, und wenn sie wünschen, wird ihr Auto zu ihnen nach Hause gebracht."

"Danke, ich verzichte", gab der Polizeibeamte zurück. "Ich habe für dieses Auto lange sparen müssen, da fahre ich es auch alleine. Was aber ihre erste Bitte angeht..." Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Die Dienstpistole ließ er im Wagen zurück. Besser dort, als wenn sie irgendwie in Verbrecherkreise geriet.

"Ich freue mich, in ihnen einen so vernünftigen Menschen gefunden zu haben", sagte der Mann im Anzug, und sein Kollege öffnete die hintere Türe des BMW. "Bitte steigen sie doch ein."

Toritaka murmelte ein "zu gütig", tat wie ihm geheißen, und der schweigsame Mann in Schwarz setzte sich hinten zu ihm. Der Wagen war innen luxuriös ausgestattet - Holzverkleidung, Lederpolsterung, getönte Scheiben, alles sehr gediegen. Hier waren jedenfalls keine niederen Ränge der Yakuza unterwegs. Wie hatten sie nur so schnell an ihn herankommen können? Wo saß der Informant? Hier in der Tiefgarage... oder im Polizeipräsidium?


Vorerst verkniff sich der Inspektor noch diese Fragen - er nahm mit einer gewissen Berechtigung an, dass man sie ihm nicht beantworten würde. Eine Frage allerdings glaubte er stellen zu dürfen, und als auch der zweite Mann im Anzug vorne auf der Beifahrerseite eingestiegen und der BMW mit ihnen allen abgefahren war, tat er dies auch: "Darf ich mich erkundigen, wem ich diese Einladung hier verdanke?"

"Selbstverständlich dürfen sie das", kam es vom Beifahrersitz. "Aihara-sama war so freundlich, sich kurzfristig Zeit für sie zu nehmen, um ihnen ihre drängenderen Fragen zu beantworten."

"Aihara?" Toritaka presste die Lippen zusammen - es war also tatsächlich der Oyabun selbst, mit dem alles in Verbindung stand. Offensichtlich hatte er mit seinem Schuss ins Blaue mitten ins Wespennest getroffen. Jemand da oben musste reichlich nervös geworden sein. "Wie komme ich zu dieser Ehre?"

Leichtes Schmunzeln vom Vordersitz. "Darüber wurde ich nicht informiert, Inspektor Toritaka-san."

Höfliche Kriminelle. Der Inspektor sank ein wenig tiefer in die Lederpolster. dass es gefährlich werden konnte, wenn er Nachforschungen im Yakuza-Milieu anstellte, hatte er sich schon selbst denken können. Warum hatte er vorher nicht wenigstens für ein paar brauchbare Tips in Dezernat 7 angefragt? Wahrscheinlich hätte man ihn dabei davor gewarnt, irgend etwas alleine und ohne Rückendeckung zu unternehmen. Einmal hatte die Organisation jetzt schon unterschätzt, und er konnte nur hoffen, dass man ihm die Gelegenheit gab, aus diesem Fehler zu lernen.


Vorerst einmal lernte Toritaka allerdings, dass Leiter von Verbrechenssyndikaten offensichtlich recht weit am Stadtrand wohnten. Die Fahrt dauerte fast anderthalb Stunden, und obwohl die getönten Scheiben des Wagens eigentlich seine Sicht nach draußen nicht behinderten, musste er doch feststellen, dass der japanische Regen alles in einem grauen Schleier verschwimmen ließ, was weiter als zehn Meter entfernt war. Keine Chance, den Fahrtweg genau nachzuvollziehen, auch wenn er bezweifelte, dass das die Absicht seiner "Chauffeure" gewesen war - die wichtigeren Grundstücke der Oyabuns waren ohnehin öffentlich bekannt.

Als die Fahrt aber zu Ende war, stellte der Inspektor durchaus erfreut fest, dass er recht genau wusste, wo er war. Es musste irgendwo hinter Tsukishima sein, wenn er die Silhouette der Großstadt in der Entfernung richtig deutete, und das Auto hatte vor einem großen, freistehenden Anwesen gehalten, das offenbar noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sicherlich, im zweiten Weltkrieg war bei der Bombardierung Tokyos alles zerstört worden, doch wer danach noch das nötige Geld hatte, um seinen Grundbesitz halten zu können, der hatte auch die Mittel, sie wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. So auch hier: eine altertümlich wirkende Mauer aus großen, ungleich geformten Quadern umgab einen Hügel, auf dessen Spitze wie ein kleines Schmuckkästchen ein traditionelles japanisches Villenhaus stand. Das Plätschern vom Inneren des Anwesens verriet ihm, dass es einen Teich geben musste, in den der Regen gerade strömte, und wahrscheinlich lag dieser Teich inmitten eines kleinen eleganten Gartens, wo es auch eine Teestube gab, und auf der anderen Seite des Anwesens lag eine künstlich angelegte heiße Quelle...


Aihara schien ein Interesse zu haben, dass er das Anwesen auch zu sehen bekam, denn man bat ihn aus dem Auto und führte ihn zu Fuß durch das große, beeindruckende Holzportal auf das Grundstück, während der BMW wieder im Regen verschwand. Der schweigsame Mann im Anzug hielt einen Schirm über den Inspektor, während der andere, der bisher freundliche Höflichkeit an den Tag gelegt hatte, hinter beiden herlief. Leider verhinderte der immer noch dichte Regen, dass Toritaka außer der Allee von Kirschbäumen, die kurz vor ihrer vollsten Blüte standen, viele Details wahrnehmen konnte.

Man brachte ihn den Hügel hinauf bis zum flachen, mit einfacher Eleganz bestechenden Villengebäude. Die Türe wurde geöffnet, und eine in eine reichlich anachronistisch anmutende Hausmädchenuniform gekleidete Frau reichte dem Inspektor Haussandalen und einen offenbar handgefärbten Yukata, den traditionellen Hausmantel. Toritaka schlüpfte aus seinen Straßenschuhen und gab Mantel und Jackett ab, ehe er den Yukata überzog, sich wortlos vor der Angestellten verneigte und sich dann wieder zu seinen Begleitern umsah. Die machten keine Anstalten, sich fürs Hausinnere umzukleiden, statt dessen deutete der Stumme der beiden auf die einzige Schiebetüre, die neben der Eingangspforte noch aus dem Vorraum führte.


Mit einem Schulterzucken wandte sich der Inspektor um und trat auf die Tür zu. Noch ehe er sie erreichte, wurde sie von innen geöffnet, und vor ihm zeigte sich ein erstaunlich breiter, schmaler Raum. Die Decke war sehr niedrig, gerade einmal knappe einsachtzig, und es hingen Lampions zur Beleuchtung herab. Ein langer, flacher Tisch, um den Sitzkissen verteilt waren, zog sich quer durch den Raum, und direkt gegenüber der Eingangstüre kniete auf einem solchen Sitzkissen ein Mann mittleren Alters mit sehr offensichtlich gefärbtem schwarzen Haar, dessen Portrait jeder höhere Polizist Tokyos gut kannte: Aihara, Oyabun des Yamaguchi-Syndikats. Auch er war in einen der Hausmäntel gekleidet; es war allerdings offensichtlich, dass er darunter keine weiteren Sachen mehr trug.

"Willkommen in meinem Zuhause", begrüßte der Oyabun seinen Gast höflich, jedoch mit unbewegtem Gesicht, und er verneigte sich nur einige Zentimeter, gerade genug, dass der Etikette Genüge getan war. Toritaka beeilte sich, die Verneigung zurückzugeben und widerstand erfolgreich dem Drang, sich so tief wie nur möglich herunterzubeugen - er stand zwar einem mehr als einflussreichen und gefährlichen Mann gegenüber, aber unterwürfig gegenüber einem Kriminellen wollte er dennoch nicht wirken. "Guten Tag, Aihara-san", erwiderte er und verzichtete damit auf das eigentlich obligatorische Ehrenkürzel "-sama", mit welchem er seinem Gegenüber einen hohen gesellschaftlichen Stand beschieden hätte.


Der Oyabun schien nichts anderes erwartet zu haben; wenn er das Verhalten als respektlos ansah, zeigte er es zumindest nicht. "Nehmen sie Platz, Toritaka", sagte er ruhig, doch dass er sowohl auf das eigentlich obligatorische "Bitte" als auch auf das "-san"-Suffix verzichtet hatte, machte deutlich, dass er den Inspektor momentan in deutlich unterlegener Position sah. "Ich höre, sie haben Fragen an mich."

"Ich an sie?" Toritaka kniete sich langsam auf das Kissen gegenüber des Syndikatschefs. "Ich ging vom umgekehrten Fall aus. Immerhin haben ihre Männer mich zu ihnen komplimentiert."

"Sie hatten offenbar Fragen an den armen Taro", erklärte Aihara, "und Taro ist nicht in der Position, solche Fragen beantworten zu dürfen. Nachdem ich allerdings nichts zu verbergen habe, werde ich ihnen persönlich zur Verfügung stehen. Also, worum geht es ihnen?"

Die Offenheit des Oyabuns machte den Inspektor stutzig. "Karai Taro-san wird ihnen doch sicherlich erzählt haben, wonach ich ihn fragte." sagte er.

Ein leicht verärgerter Zug zeigte sich in Aiharas Mundwinkel. "Sie haben vielleicht nicht lange genug mit ihm geredet, um es zu merken", gab er zurück, "aber Taro ist nicht unbedingt jemand, der sich durch besondere Aufmerksamkeit oder ein ausgesprochenes Langzeitgedächtnis auszeichnet. Und wenn ich Fragen stelle, dann nicht deshalb, weil ich die Antwort schon weiß. Im Gegensatz zu dem, was sie vielleicht denken, spiele ich hier keine Spielchen!"


"Ich bitte um Verzeihung", entschuldigte sich Toritaka sofort und verneigte sich nun doch etwas tiefer. "Ich ermittle in einem Todesfall. Der Verstorbene war Angestellter der Yoshioka-Bank. Nachdem die Yoshioka-Bank in der Vergangenheit bereits einmal Geschäfte mit Personen aus ihren Kreisen getätigt hat..."

"Diese Geschäfte sind Vergangenheit, wie sie es selbst sagen", unterbach ihn der Oyabun. "Ich habe seit Jahren nichts mehr mit den Leuten von Yoshioka zu tun, und ich empfehle jedem meiner Freunde und Geschäftskollegen, sich von ihnen fernzuhalten. Bei Yoshioka nimmt man es mit dem Steuerrecht nicht sonderlich ernst, und das ist keine Basis für eine gesunde Geschäftsbeziehung."

Der Inspektor nickte eilig. "Das wollte ich auch nicht unterstellen", sagte er. "Ich bin sicher, es gibt keine gesetzeswidrigen finanziellen Transaktionen mehr zwischen ihren Leuten und den Banken." Zumindest keine, die ich werde aufdecken können, fügte er in Gedanken hinzu. "Aber darum ging es mir auch nicht. Ich suche nach Personen, die legale Geschäftskontakte zu unserem Toten hatte, weil ich hoffe, näheres über die Umstände seines Todes zu erfahren."

Aihara sah ihn nachdenklich an. "Meine Quellen sagen mir, sie wären bei der öffentlichen Sicherheit beschäftigt", meinte er. "Warum ermittelt das sechste Dezernat in einem Mordfall?"

"Ich habe nie gesagt, dass es Mord ist", gab Toritaka zu bedenken. "Vorerst ist es ein Todesfall, in dem nicht alle Umstände geklärt sind." Besser, die Frage nicht zu beantworten - eventuell verschlechterte sich die Laune des Oyabuns, wenn er erfuhr, dass der Fall möglicherweise an das Dezernat für Organisierte Kriminalität weitergegeben wurde.

"Wer ist denn dieser Tote? Einer aus der Yoshioka-Bank, sagten sie?"

Der Inspektor nickte. "Ein Masakiri Satoshi."


Die Augen des Oyabuns weiteten sich einen Moment überrascht, dann zogen sie sich verärgert zusammen. "Masakiri Satoshi? Also, Toritaka, ich bin empört, dass sie mir und meinen Partnern unterstellen, mit solchen Leuten Geschäfte zu machen!"

"Solche Leute?" Toritaka wurde hellhörig. "Nach meinen Informationen kam Masakiri-san nie mit dem Gesetz in Konflikt. Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?"

"In der Tat", schnaubte Aihara verächtlich. "Als ich vor einigen Jahren darüber nachdachte, meine geschäftlichen Angelegenheiten in die Hände von Finanzberatern zu legen, habe ich diesen Herrn einmal kennenlernen dürfen. Glauben sie mir, er war als seriöser Geschäftspartner eine mehr als schwere Enttäuschung. Fachlich vielleicht nicht unbegabt, aber menschlich..." Er schüttelte sich. "Zum guten Glück bot man mir eine Alternative an."

Etwas verwirrt blinzelte der Inspektor zurück. "Ich bitte um Verzeihung, Aihara-san", hakte er nach, "aber wie meinten sie das... menschlich? Hatte der Mann unangenehme Charakterzüge?"

Der Oyabun verzog den Mund zu einer Grimasse des Abscheus. "Unangenehm ist gar kein Ausdruck", sagte er. "Man soll ja nichts schlechtes über Tote sagen, aber dieser da wird mit Sicherheit im Reich der hungrigen Geister landen. Er hatte einen handfesten Lolikon."

"Einen Lolikon?" Toritakas Kiefer fiel herunter, als er die Kurzform von 'Lolitakomplex' hören musste. "Er stand auf kleine Kinder?"

"Schlimmer als das", spuckte Aihara förmlich aus. "Er hat sich sogar mit Kindern zu Perversitäten verabredet. Bestenfalls dreizehn waren die, eher zwölf. Wirklich, mit solchen verkommenen Subjekten mache ich doch keine Geschäfte!"


In Toritakas Kopf arbeitete es fieberhaft. 'Enjo kusai', "vergütetes Ausgehen", so nannte man umgangssprachlich eine ekelhafte Freizeitbeschäftigung, die sich unter japanischen Schülerinnen schon von der Junior High School an langsam durchzusetzen begann. Dabei boten sich die Mädchen als Ausgehpartnerinnen für ältere Männer an und bekamen dafür das kostspielige Teenagerdasein in Tokyo bezahlt - was man so aus Dezernat vier hörte, waren mindestens zwanzigtausend Yen für einen gemeinsam verbrachten Nachmittag inzwischen durchaus üblich geworden. Das ganze war kaum verhüllte Kinderprostitution, die allerdings aus zwei Gründen fast unmöglich polizeilich zu bekämpfen war: Erstens ging sie von den Kindern selbst aus, und zweitens war nichts davon wirklich illegal, solange es nicht zu sexuellen Handlungen kam - einfach nur das Begleiten stand natürlich nicht unter Strafe. Selbst wenn es einmal gelang, ein solches "Päärchen" in einer eindeutigen Situation zu stellen, gingen beide in der Regel straffrei aus - das Mädchen sagte einfach, sie hätte den Mann bezüglich ihres Alters belogen und sich als volljährig ausgegeben, und schon kam der Freier mit einer Personalienaufnahme und manchmal einem kleinen Bußgeld davon.

Allerdings... das alles lief nur dann ohne Konsequenzen für die Beteiligten ab, wenn es nicht öffentlich bekannt wurde. In Japan mochte man zwar keine gesetzliche Handhabe gegen diese Auswüchse haben, aber wenn es sich herumsprach, dass jemand sich tatsächlich auf Kinder stand und sich auf Dates mit ihnen einließ, dann war die jeweilige Person gesellschaftlich ruiniert. Noch nicht einmal Kriminelle von der Kategorie der Yakuza wollten dann noch etwas mit einem zu tun haben...


Wenn es sich herumsprach...

Hatte Toritaka in die falsche Richtung gedacht, und es war doch Selbstmord bei Masakiri gewesen? Selbstmord, weil ihn jemand wegen seines Lolikons erpresste und er keinen Ausweg mehr sah? Hatte man ihn in den Tod getrieben?

Vor dem geistigen Auge des Inspektors formte sich langsam ein Bild. Ein Bild davon, was in der Nacht geschehen sein konnte, als Masakiri gestorben war.


Der Anlageberater war gerade von der Arbeit gekommen. Es war ein sehr langer Arbeitstag für ihn gewesen; es war ungefähr elf Uhr abends, als er aus dem Century Tower gekommen war. Wahrscheinlich war es auch kein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Masakiri musste müde und niedergeschlagen gewesen sein. Er war das Stück Weg zum Parkhaus wahrscheinlich eher langsam gelaufen, dann dort angekommen, mit dem Aufzug aufs Dach gefahren, wo sein Auto gestanden hatte, seinen Schlüsselbund hervorgezogen und eben die Türen mit der Fernbedienung der Wegfahrsperre geöffnet.

Dann war die andere Person zwischen den Autos hervorgetreten.

"Guten Abend, Masakiri-san", hatte sie vielleicht gesagt. "Ich weiß es."

"Hm? Was wissen sie?" würde der Anlageberater geantwortet haben.

Der Fremde hatte gelächelt. "Ich weiß von ihnen... und den Mädchen."

Masakiri war blass geworden. "Welche... welche Mädchen?"

"Sie wissen, wovon ich rede." Der Fremde war auf ihn zugetreten; Masakiri war ihm ausgewichen, rückwärts gelaufen, bis er mit dem Rücken am Geländer stand. "Weglaufen hilft ihnen nichts", würde der Fremde gesagt haben. "Nur zahlen hilft."


"Nein", hatte der Anlageberater gekeucht. "Ich... ich habe kein Geld! Die Geschäfte... sie laufen nicht gut."

Der Fremde hatte sicher böse gelächelt. "Das interessiert mich nicht", würde er gesagt haben. "Sie zahlen, oder morgen weiß halb Tokyo von ihren Treffen. Wie alt war das Mädchen... zwölf?"

Masakiris Herz hatte zu rasen begonnen. Es war vorbei, alles vorbei. Er hatte kein Geld; nicht genug für einen Erpresser auf jeden Fall. In Panik hatte er sich umgedreht; mit den Händen tastend war er über das Absperrgitter gestiegen und hatte sich, weil er so zitterte, dabei noch das Hemd vorne zerrissen. Jetzt sah er endlich so jämmerlich aus, wie er sich fühlte.

"Gehen sie", hatte er gekeucht. "Bitte."

"Was wollen sie machen?" Der Fremde hatte ihn böse angesehen. "Springen? Seien sie kein Idiot. Denken sie, es interessiert mich, ob sie leben oder sterben? Ich will nur ihr Geld, nicht ihr Leben."

Verzweifelt hatte Masakiri zurückgestarrt. "Aber ich habe kein Geld."

Ein Schulterzucken. "Dann verrecken sie meinetwegen."

"NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN!"


Ein letzter verzweifelter Schrei, den noch außerhalb des Parkhauses ein Student hörte. Ein Sprung. Der Aufschlag auf dem Kombi.

Aus.


Toritaka sah aus seinen Gedanken auf. "Ich glaube", sagte er zum Oyabun, "ich muss mich noch einmal bei ihnen entschuldigen. Es gibt da eine Möglichkeit, die ich vorher nicht bedacht hatte. Wenn sie gestatten, ich würde gerne noch am heutigen Abend mit meiner Arbeit fortfahren. Kann ich mich schon jetzt von ihnen verabschieden, ohne ihre Gastfreundschaft zu beleidigen?"

"An sich habe ich nichts einzuwenden", meinte Aihara mit einer kleinen Handbewegung. "Ich darf also davon ausgehen, dass meine Geschäftspartner und ich in ihrer 'Arbeit' keine weitere Rolle spielen werden."

"Das nehme ich an, ja." In Wirklichkeit war der Inspektor alles andere als überzeugt davon, dass die Yakuza nicht doch beteiligt war - Erpressungen waren durchaus Teil ihres 'Geschäfts', und der Oyabun selbst hatte soeben ein recht gutes Motiv für sich selbst genannt, ohne es zu wollen - er verabscheute Masakiri, und Menschen, die man verabscheute, konnte man auch ohne große Gewissensbisse in den Ruin oder in den Tod treiben. dass natürlich jeder normale Mensch angesichts von den perversen Gelüsten des Investmentberaters diesen verabscheuen musste, war ein anderes Thema. Vorerst aber musste einmal festgestellt werden, ob an der Sache mit dem enjo kusai überhaupt etwas dran war.

Aihara erhob sich, und im selben Moment öffnete sich die Türe in Toritakas Rücken. "Sie können dann gehen", sagte der Oyabun und wies mit großer Geste zum Ausgang. "Und sollten sie noch weitere Fragen haben, wenden sie sich das nächste Mal doch gleich an mich."

Der Inspektor erhob sich ebenfalls und verneigte sich. "Ich werde mich daran erinnern", sagte er. "Leben sie wohl, Aihara-san."

"Iterasshai", wünschte ihm der Oyabun, als er ging.


"Iterasshai...", murmelte Toritaka, als er aus dem Haus trat, wieder eskortiert von zwei gut gekleideten Männern, von denen einer den Schirm hielt. 'Iterasshai" hieß 'sichere Heimkehr' - das wünschte man nur jemandem, den man in der eigenen Wohnung wieder erwartete, und der Inspektor hatte nicht vor, so bald wieder hier zu erscheinen. Und wenn, dann nur in Begleitung eines Räumkommandos von Dezernat 7. Sicher, er war höflich behandelt worden. Aber man hatte ihn in jeder Minute seines "Besuchs" spüren lassen, wie klein und unwichtig er war und wie überaus erhaben der Oyabun.


Und als man ihn vor dem Tor im Regen stehen ließ und er sich mit dem Handy ein Taxi zurück in die Stadt rufen musste, das auch noch eine halbe Stunde brauchte, bis es da war, schwor sich Toritaka, sich zum Dezernat für Organisierte Kriminalität versetzen zu lassen, wenn wirklich die Yakuza hinter diesem Todesfall steckte. Dann würde er hier wieder auftauchen dürfen, die Handschellen zücken und mit einem Lächeln das sagen, was jeder sagte, wenn er nach einem "iterasshai" zurückkam:

"Tadaima." Ich bin wieder da.

Die Tugend von Tokyo

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