Читать книгу Die Tugend von Tokyo - Götz T. Heinrich - Страница 5
Dienstag, 6. April 2004, 11.16 Uhr
ОглавлениеIn der "Metropolitan Police" waren die Aufgabenbereiche klar verteilt, und jedes Dezernat arbeitete nur an Fällen, für die es auch direkt zuständig war. Aus diesem Grund kam man bei der Polizeiarbeit gewöhnlich nicht mit Kollegen von anderen Dienstbereichen in Kontakt - mit einer Ausnahme: Dezernat 5, die Kriminalinspektion, musste immer dann hinzugezogen werden, wenn die auch nur entfernte Möglichkeit bestand, dass die anderen Dezernate bei ihrer Arbeit auf ein Kapitalverbrechen gestoßen waren, und das war bei einem Leichenfund grundsätzlich der Fall. Daher nannte man im internen Polizeijargon Tote "Fünfer", und die einzigen, die das nicht taten, waren vom Dezernat 7, der Abteilung für Organisierte Kriminalität.
Inspektor Toritaka hatte noch am vorherigen Abend angeordnet, den Werkshof des Parkhauses abzusperren, in welchem man den Toten entdeckt hatte, und ein Sicherungskommando der Kriminalinspektion hatte die Leiche auch unverzüglich abtransportieren lassen und die erste Beweisaufnahme durchgeführt. Allerdings war das wirklich nur oberflächlich geschehen, und als Toritaka verwundert nachgefragt hatte, warum man denn noch keine richtige Spurensicherung durchführte, war die Antwort gewesen, dass man die wegen schlechter Lichtverhältnisse auf den kommenden Morgen verschob. Das war natürlich eine verdammte Ausrede - Dezernat 5 konnte innerhalb von einer halben Stunde den ganzen Innenhof mit Flutlicht ausstatten, wenn es notwendig war. Wahrscheinlich war Seniorsuperintendent Shirage, Leiter der Kriminalinspektion, einfach schon schlafen gegangen, und niemand hatte ihn so spät noch wecken wollen.
Pünktlich morgens um acht allerdings hatte die Tatortsicherung begonnen, und Toritaka hatte noch auf der Hinfahrt in sein Büro den Funkruf erhalten, dass Superintendent Asashi ihm den Fall von gestern abend vorläufig zugeteilt hatte und er die Ermittlungen leiten würde, wenn sich nicht herausstellte, dass ein Verbrechen vorlag. Für Selbstmörder gab es keine klaren Zuständigkeiten; normalerweise erledigte bei einem Selbstmord das Dezernat den Fall, das mit ihm zuerst in Kontakt gekommen war. Stürzte sich jemand mit seinem Auto von einer Brücke, war Dezernat 2, die Verkehrspolizei, für ihn zuständig; die meisten Selbstmörder wurden allerdings von der Streifenpolizei von Dezernat 4 entdeckt. Leute, die sich vor U-Bahnen warfen, fielen normalerweise in die Kategorie, die die Öffentliche Sicherheit übernahm, und Ruhestörung und Vandalismus durch einen Selbstmörder... nun ja, das war wohl auch eine Sache der Öffentlichen Sicherheit.
Trotz allem war der Inspektor zuerst einmal in Ruhe ins Hauptpräsidium gefahren, hatte sich nach den Eingängen von gestern nacht erkundigt, hatte seine Mails abgefragt (und zufrieden die Empfangsbestätigung von Mainichi gelesen), Assistenzinspektor Kakiden die Aufgaben für den Tag zugeteilt, sich bei Superintendent Asashi gemeldet, nach Rückmeldung für den gestrigen Einsatz gefragt und sich dann noch die neue Zuteilung schriftlich bestätigen lassen. Als er mit allem fertig war, war es fast halb elf Uhr gewesen, und dann war noch einmal eine Viertelstunde für die Fahrt nach Bunkyo verstrichen... und noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich durch das Verkehrschaos gekämpft hatte, das durch die Schließung des Parkhauses entstanden war. Manchmal hatten die öffentlichen Verkehrsmittel doch ihre Vorzüge.
Dementsprechend war die Spurensicherung so gut wie abgeschlossen, als Toritaka endlich ankam, und es waren nur noch einige Seniorpolizisten mit der Katalogisierung der gefundenen Spuren beschäftigt. Die Leiche war abtransportiert worden, und zahlreiche Kreidemarkierungen waren auf dem zerstörten Kombi und dem Boden aufgebracht worden. Der Inspektor trat auf einen der Beamten zu und zückte seinen Dienstausweis. "Toritaka, Dezernat sechs", sagte er. "Ich leite diesen Fall. Wo ist der diensthabende Inspektor der Spurensicherung hier?"
"Auf dem Dach", kam die Antwort. "Arakami-san wollte sich persönlich noch den Ort ansehen, von dem der Körper herunterkam."
"Verstehe." Toritaka nickte. "Könnten sie ihn herunterrufen?"
"Das ist unmöglich", ertönte in diesem Moment eine ernste, aber freundliche Stimme in seinem Rücken, und als er sich umdrehte, stand dort eine Frau Anfang Dreißig, recht elegant in Bluse, Hosenrock und Blazer gekleidet - irgendwie overdressed für ein Parkhaus, kam es Toritaka in den Sinn. Sie trug ihr kastanienfarbenes Haar schulterlang nach hinten gekämmt, und ihre Augen wurden von einer kleinen, eckigen Brille ohne Rahmen umrandet.
Der Inspektor verschränkte die Arme. "Und können sie mir auch sagen", wollte er wissen, "warum der gute Mann nicht herunterkommen kann?"
"Weil es erstens keinen Mann dieses Namens gibt", war die Antwort, "und weil zweitens Arakami-san bereits hier unten ist. Wenn ich mich vorstellen darf - Inspektor Arakami Shige, Dezernat 5, Abteilung Forensik." Die Frau streckte ihre Hand aus.
"Inspektor Toritaka Shingo." Toritaka nahm die Hand nicht an - er hatte eine tiefsitzende Abneigung gegen Leute, die sich im Dienst zu Witzeleien genötigt sahen - und zog stattdessen die schriftliche Zuteilung seines Superintendenten aus dem Mantel. "Ich wurde diesem Fall hier überstellt."
"Angenehm", gab Arakami zurück, und zur Überraschung ihres Kollegen lächelte sie. "Ich habe schon einiges von ihnen gehört, Toritaka-san."
Der Inspektor zog die Augenbrauen hoch. "Was wollen sie damit andeuten?" meinte er eine Spur unfreundlicher, als er es vorgehabt hatte.
Wieder überraschte ihn die Reaktion der Frau. "Sie gehören zu Tokyos engagiertesten Polizeibeamten", sagte sie. "Ich bin froh, dass sie die Untersuchung leiten - da kann ich mir sicher sein, dass die Arbeit der Forensik auch in allen Details berücksichtigt wird. Sie wirken wie ein Mann, der nicht nach offensichtlichen Lösungen, sondern nach dem großen Ganzen sucht."
"Vorerst einmal wüsste ich gerne", warf Toritaka ein, "ob ich überhaupt einen Fall habe oder ob Dezernat fünf die Ermittlungen an sich ziehen wird." Er war leicht gereizt, dass ihn diese Frau da so einfach vor anderen Beamten lobte - im Dienst hatte man sich unnötige Gefühlsäußerungen seinen Kollegen gegenüber besser zu verkneifen. "Gibt es Anzeichen für ein Gewaltverbrechen?"
"Die Indizien sprechen dagegen", berichtete Arakami. "Auf den ersten Blick hin gab es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung auf den Körper des Toten außer derer, die er durch das Trauma des Aufpralls auf den Wagen hier erlitten hat. Die Verletzungen sind typisch für ein Sturzopfer. Er hatte über vierzig Meter freien Fall. Das einzige untypische Detail für so einen Fall war die Tatsache, dass er mit dem Rücken zuerst auf dem Auto aufgeschlagen ist, aber sein Hemd vorne an der Brust aufgerissen war."
Toritaka zog interessiert eine Augenbraue hoch. "Wie könnte so etwas zustandegekommen sein?" wollte er wissen. "Wurde er möglicherweise gepackt und heruntergestoßen?"
Die Ermittlerin schüttelte den Kopf. "Sehr unwahrscheinlich", sagte sie. "Wenn man einen Menschen dort oben stößt, kippt er vielleicht über das Geländer, aber dann stürzt er direkt gerade an der Hauswand herab. Unsere Leiche lag auf dem Auto, zur Mitte von dem Hof hier hin, wie sie sehen. Er ist wahrscheinlich gesprungen, zumindest würde ich seine Flugkurve so deuten."
"Und woher dann das zerrissene Hemd?"
"Es war schon lange dunkel", sagte Arakami, "als unser Mann dort oben über das Geländer gestiegen ist, um sich herunterzustürzen. Möglicherweise ist er mit einem Hemdknopf am Geländer hängengeblieben. Wir haben zwar keine Stoffreste gefunden, aber die können leicht weggeweht worden sein. Windig genug ist es da oben."
Toritaka dachte einen Moment lang nach. "Konnte der Tote schon identifiziert werden?" wollte er dann wissen.
Mit einem Nicken zog seine Kollegin einen kleinen Plastikbeutel aus der Tasche ihres Blazers hervor, in der sich ein Ausweis befand. "Er hatte seine Papiere bei sich", sagte sie. "Masakiri Satoshi, achtundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Jimbocho. Aber er hat anscheinend gerne unter seinen Verhältnissen gelebt - seiner Visitenkarte nach war er Investmentberater im Auftrag der Yoshioka-Bank."
"Yoshioka?" Der Inspektor hielt inne. "Nein, sagt mir nichts."
"Nicht verwunderlich", nickte Arakami. "Nur ein kleines Bankhaus, allerdings eins mit ausgesuchter Klientel. Sie stellen eigene Aktienfonds nach dem Bedarf ihrer Kundschaft zusammen. Dezernat Sieben hatte sie mal am Wickel, weil sie Geld für einen Oyabun gewaschen haben sollen, aber die Direktion hat den Mitarbeiter, der für die illegalen Geschäfte verantwortlich war, als Einzeltäter dargestellt, und der Mann hat die Geschichte bestätigt."
Toritaka kniff die Lippen zusammen. Die Yakuza in Tokyo war traditionell mit einigen kleineren Lichtern der Finanzwelt verbändelt, und die Oyabuns - die lokalen "Bosse" der japanischen Mafia - waren oft genug reiche und hochangesehene Leute mit ganz gewöhnlichem Privatleben, wenn man einmal davon absah, dass sie gefährlichen Verbrechersyndikaten vorstanden. Von den allermeisten Oyabuns war ganz offen bekannt, welchen Rang sie einnahmen, doch niemand machte auch nur den Versuch, sie zu verhaften - warum, das war dem Inspektor ein Rätsel, aber in Dezernat Sieben, die für Organisierte Kriminalität zuständig waren, würden die Beamten sicherlich wissen, was sie taten.
Er musste einige Sekunden mit den Gedanken woanders gewesen sein, denn als er wieder aufsah, bemerkte er, dass Inspektor Arakami ihn ziemlich intensiv anblickte. "Ist etwas?" fragte er ein wenig unwirsch.
"Ich weiß nicht", gab die Frau mit einem neuerlichen Lächen zurück - warum lächelte sie nur so viel? "Ich dachte, sie hätten vielleicht noch Fragen."
"Die habe ich in der Tat", meinte Toritaka, "aber nicht mehr an sie. Ich gehe recht in der Annahme, dass sie empfehlen werden, den Fall in der Zuständigkeit von Dezernat Sechs zu belassen?"
Wieder nickte Arakami freundlich. "Völlig korrekt, Toritaka-san. Keine Anzeichen für Fremdeinwirkung, keine Ungereimtheiten, die hinreichend Verdacht auf etwas anderes als einen Suizid lenken würden. Und ob es ein passendes Motiv für einen Suizid gibt, das werden dann wohl sie ermitteln können."
Der Inspektor wollte sich schon verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. "Nur um sicherzugehen", sagte er, "einen Abschiedsbrief oder etwas ähnliches haben sie nicht bei Masakiri gefunden, oder?"
"Richtig", stimmte die Ermittlerin zu. "Unsere Leiche war nicht mehr sehr mitteilungsbedürftig, wie es scheint. Aber vielleicht entdecken sie ja an seinem Arbeitsplatz oder bei ihm zuhause etwas in dieser Art."
"Und gibt es in seiner Umgebung Gegenstände, die offensichtlich fehlen?" wollte Toritaka wissen. "Hat er zum Beispiel eine helle Stelle von einer Armbanduhr, aber nicht die dazugehörige Uhr? Und wo ist sein Auto - das hier ist immerhin ein Parkhaus."
Arakami schmunzelte. "Wie ich sagte - sie sind jemand mit einem Auge fürs Detail, Toritaka-san."
Leicht irritiert verschränkte der Inspektor die Arme. "Wären sie wohl so freundlich", gab er gezwungen höflich zurück, "solche Freundlichkeiten für nach dem Dienst aufzuheben? Ich möchte..."
"Verzeihen sie bitte", entschuldigte sich die Frau sofort mit leichter Verbeugung, "ich wollte ihnen nicht zu nahe treten. Um ihre Fragen zu beantworten: nein, die Spurensicherung hat nichts dergleichen gefunden, und was das Auto angeht, das werden wir noch finden. Masakiri hatte seine Autoschlüssel in der Hosentasche, und ich habe schon eine Anfrage an Dezernat Zwei wegen der Zulassung auf seinen Namen gemacht, damit wir das Nummernschild wissen. Es ist übrigens ein Mercedes."
"Danke." Toritaka wollte sich zum Gehen wenden, hielt aber noch ein weiteres Mal inne. "Arakami-san war ihr Name, nicht wahr? Verzeihen sie bitte meine Unhöflichkeiten. Es war gestern eine lange Nacht für mich."
Langsam nickte die Frau, und wieder lächelte sie, aber dieses Mal sehr viel zurückhaltender. "Ich weiß", sagte sie, "sie haben den Toten entdeckt. Ich habe ihre Unterschrift auf dem Protokoll gesehen. Es war meine Schuld, sie so lange aufgehalten zu haben." Sie reichte ihm einen verschlossenen Manila-Umschlag. "Hier sind die Privatsachen von Masakiri, die ich bereits untersuchen konnte. Sie werden sie für die Akte brauchen."
Der Inspektor nahm den Umschlag an sich. "Gut", sagte er, "dann ist das ja geklärt." Er meinte nicht nur die Akte, aber er führte es nicht weiter aus.
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er sich, dann lief er zurück zu seinem Wagen. Eine kurze Anfrage per Funk in der Zentrale bestätigte ihm, dass das Yoshioka-Bankhaus seinen Sitz im nahen Century Tower hatte. Angesichts der immer noch verstopften Straßen entschied sich der Inspektor kurzerhand dazu, den Block Entfernung zu Fuß zurückzulegen, stieg wieder aus und machte sich auf den Weg. Es vergingen trotzdem mehr als fünfzehn Minuten, bis er ankam, was auch daran lag, dass er zweimal eine der Straßen überqueren musste und die Ampeln hier nicht unbedingt sehr fußgängerfreundlich geschaltet waren.
Der Century Tower war bei weitem nicht Tokyos größtes Hochhaus, und er war auch nicht, wie der Name implizierte, zu einer Jahrhundertwende entstanden. Wie viele der Wolkenkratzer in der Stadt war er die Kopie eines anderen Gebäudes, in diesem Fall das eines berühmten Bankenzentrums in Hongkong, und eben dieses "Original" war exakt im Jahr 1900 eingeweiht worden. Es war eine sehr japanische Eigenart, fand der Inspektor, die kulturellen Errungenschaften anderer Länder nachzuahmen und zu verbessern. Das war an der Architektur besonders offensichtlich (der Tokyo-Tower war zum Beispiel eine größere Version des Eiffelturms in Paris), aber auch in der Politik und der Verwaltung konnte man diesen Hang zum Duplikat feststellen: Das Regierungssystem des Landes war englisch, die Organisation der Polizei amerikanisch... und die Korruption in manchen Behörden hätte einer afrikanischen Militärdiktatur Konkurrenz gemacht.
Wie es seit einigen Jahren in allen größeren öffentlichen Gebäuden und Geschäftszentren üblich war, gab es auch am Eingang des Century Towers eine Personalkontrolle - der internationale Terrorismus machte sicherlich auch nicht vor einer Insel wie Japan halt - und Toritaka wusste von dem Moment an, als er seinen Polizeiausweis vorzeigte, dass er im Gebäude keine illegalen Aktivitäten mehr würde entdecken können, wenn er danach suchte. Obwohl alle Personalkontrollen von Polizeidezernat 3 durchgeführt wurden, der Sicherungspolizei, waren die Beamten sehr wahrscheinlich von den Anwohnern des Gebäudes dazu "ermuntert" worden, polizeiliche Kontrollen nach oben zu melden, dass man sich auf sie vorbereiten konnte.
Trotzdem galt es, den offiziellen Anschein zu wahren. Der Inspektor trat an die Rezeption und zeigte auch dort seinen Polizeiausweis vor. "Toritaka, Dezernat für öffentliche Sicherheit", stellte er sich vor. "Wo finde ich das Yoshioka-Bankhaus?"
"Einundzwanzigstes Stockwerk, Inspektor-san", war die Antwort des Rezeptionisten. "Ich schalte ihnen Aufzug vier frei."
"Danke." Toritaka nickte dem Mann kurz zu. "Melden sie mich bitte oben an, ich muss den Geschäftsführer oder Personalchef sprechen." Der Satz war reine Formsache; oben würde man schon wissen, dass er kam, aber es war ihm wichtig, niemanden zu verunsichern, indem er nicht sagte, was er wollte.
Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte erstaunlich lange, obgleich es sicherlich ein Expresslift war. Offensichtlich wollte man sich oben noch angemessen auf seinen Besuch vorbereiten und hatte die Rezeption um etwas Zeit gebeten. Der Inspektor fühlte sich fast geschmeichelt; man hielt ihn anscheinend für so wichtig, dass man ihm besondere Aufmerksamkeit widmen wollte. Vielleicht hatte der Polizist an der Eingangskontrolle aber auch einfach nur eine Bemerkung über den Ruf fallen lassen, den Toritaka in Polizeikreisen genoss. Nun ja, alles zu seiner Zeit.
Als er oben aus dem Lift trat, der sich direkt ins Foyer des Yoshioka-Bankhauses öffnete, lief bereits ein junger Mitarbeiter, vielleicht knapp über zwanzig Jahre alt, auf ihn zu. Zu seinem Ärger musste er bemerken, dass der Anzug des Bankers mit Sicherheit mindestens das Fünffache seines eigenen gekostet hatte, und dabei gab er sich eigentlich immer Mühe, zumindest einen angemessenen Eindruck zu machen. Die folgende äußerst tiefe und respektvolle Verbeugung allerdings entschädigte ihn ein wenig dafür.
"Guten Tag, Toritaka-dono", begrüßte der Bankmitarbeiter ihn, "mein Name ist Iyekawa, Public Relations." Er zog eine Visitenkarte aus dem Jackett und überreichte sie dem Inspektor mit beiden Händen. "Wie kann ich ihnen helfen?"
"Sie können es nicht", sagte Toritaka schroff und nahm die Visitenkarte nicht an. Viele Dinge in Japan gingen schneller, wenn man sich nicht mit unwichtigen Leuten aufhielt. "Ich bat darum, Geschäftsführer oder Personalchef ihres Unternehmens sprechen zu dürfen. Führen sie mich bitte zu einem der beiden."
Die überraschend informelle Umgangsweise des Polizisten verunsicherte Iyekawa offensichtlich. "Natürlich", meinte er zögernd, "sofort... wenn ich nur erfahren dürfte, um was es geht...?"
Toritaka trat einen Schritt näher an den Banker heran, was diesen noch nervöser werden und etwas zurückweichen ließ. "Ich führe Ermittlungen über einen Angestellten dieses Bankhauses durch", sagte der Inspektor, "und werde diese Untersuchung nicht gefährden, indem ich interne Informationen an unbefugte Personen weitergebe. Würden sie mich jetzt endlich zu Personalchef oder Geschäftsführer bringen oder soll ich beide aufs Dezernat rufen lassen?" Das war ein glatter Bluff - der Superintendent würde das bei einem Selbstmord nie genehmigen - aber die Drohung half fast immer.
So auch hier. "Folgen sie mir bitte", haspelte der junge Mann eilig hervor und wandte sich nach einer weiteren Verbeugung ab, um Toritaka den Weg zu zeigen. Natürlich brachte er ihn nur zum Personalchef und nicht zum Geschäftsführer - man kam nie sofort an die höchste mögliche Stelle in einer Hierarchie, wenn es Alternativen gab - aber es hatte weniger als fünf Minuten gedauert, hier hinzugelangen. Der Inspektor war fast stolz auf sich.
"Mura-san wird sie persönlich in sein Zimmer führen", sagte Iyekawa, als er den Polizisten durch einen langen Gang zu einem Großraumbüro geführt hatte, wo sicherlich einige hundert Angestellte Platz hatten. Der Inspektor war beeindruckt - so klein schien die Yoshioka-Bank nun doch nicht zu sein. Oder hatte sie einfach keinen kleineren Bürokomplex im Century Tower mieten können? Unwichtig, zumindest vorerst.
Der junge Banker wandte sich zum Gehen, und im selben Moment sah Toritaka, wie ein überraschend hochgewachsener Mann Mitte Vierzig, ebenfalls in einem ausgesprochen teuer aussehenden Anzug auf ihn zutrat. Er trug sein Haar in der selben langen Mähne, die der japanische Ministerpräsident Koizumi Junichiro berühmt gemacht hatte - offenbar setzten sich solche Trends auch in diesen Kreisen durch.
"Herzlich willkommen, Inspektor Toritaka-san", begrüßte der große Mann seinen Gast, verneigte sich nur leicht in seine Richtung und wartete auf die erwiderte Verbeugung vom Inspektor, ehe er ihm seine Visitenkarte mit beiden Händen reichte. "Ich bin Mura Nobuhide, Personalleiter dieses Bankhauses."
"Angenehm", gab Toritaka zurück, zog seine eigene Visitenkarte hervor und nahm die fremde in dem Moment, in dem er seine eigene überreichte. "Mein Name ist Toritaka Shingo, Inspektor vom Dezernat für Öffentliche Sicherheit der Metropolitan Police." Er besah die Visitenkarte des Personalchefs. "Ist das hier handgeschöpftes Papier? Es sieht nach ausgezeichneter Qualität aus."
Mura nickte. "Es ist handgeschöpft, aber nichts besonderes - die Visitenkarten von allen hier in der Bank werden in billiger Massenproduktion hergestellt." Er besah die Karte des Inspektors, die selbstverständlich nur aus einfacher dünner Pappe bestand. "Ist das hier ihre Bürotelefonnummer?" wollte er wissen.
Auch Toritaka nickte. "Ja, aber sie wird tagsüber auf meinen Funk umgeleitet", erklärte er. "Ich bin dort auch zu erreichen, wenn ich nicht im Dezernat bin." Damit war der Etikette Genüge getan - es war üblich, nach der gegenseitigen Vorstellung noch belanglose Fragen über die Visitenkarten auszutauschen, ein Überbleibsel aus den Tagen, als Männer von Stand noch persönliche Banner hatten und es höflich war, sein Interesse am Gegenüber zu zeigen, indem man nach der Symbolik des Banners fragte. "Können wir uns privat unterhalten?"
"Sicher, sicher." Mura verneigte sich nochmals leicht. "Gehen wir in mein Büro."
"Ausgezeichnet." Der Inspektor folgte dem Personalleiter, und der führte ihn zu einem Zimmer, das gegenüber dem Großraumbüro leicht erhöht lag und von dem aus man durch ein Fenster auf die Angestellten herabsehen konnte. Passend für einen Mann in seiner Position.
Mura bot dem Inspektor einen Sessel an und setzte sich selbst, sobald dieser Platz genommen hatte. "Was kann ich denn nun für sie tun?" wollte er wissen.
Mit etwas Mühe versuchte Toritaka sich im reichlich plüschigen Sessel aufrecht zu halten. "Es geht um einen Mitarbeiter ihrer Bank, Masakiri Satoshi", erklärte er. "Sagt ihnen der Name etwas?"
"Masakiri? Aber sicher doch." Mura öffnete ein wenig seine Armhaltung. "Er gehört zu unseren Vertrauensleuten - die Kundenberater, denen wir beim Aushandeln der Fondsverträge größtenteils freie Hand lassen. Soll ich ihn rufen lassen?"
"Das wird weder nötig noch möglich sein", gab der Inspektor zurück. "Masakiri-san ist tot."
Die Augen des Personalleiters weiteten sich in Überraschung, sehr wahrscheinlich echter Überraschung. "Tot?" stieß er hervor. "Meine Güte... wie konnte das passieren? Ein Unfall, nehme ich an?"
Toritaka lehnte sich leicht zurück und legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. "Es wäre gelogen", erklärte er, "wenn ich behaupten würde, wir hätten vollständige Klarheit. Es zeichnet sich natürlich ein bestimmtes Bild ab, aber um das zu bestätigen, brauche ich Informationen über Masakiri-sans Person. Darum bin ich hier."
"Ich verstehe", nickte Mura, etwas gefasster als eben. "Was wollen sie wissen?"
"Zunächst einmal interessiert mich", sagte der Inspektor, "was sie mir über seine Lebensumstände erzählen können. War er ausgesprochen reich, oder hatte er ihres Wissens nach höhere Schulden? Wie sah es denn mit seiner Karriere aus?"
Der Personalleiter überlegte einen Moment. "Ich kann doch davon ausgehen", sagte er, "dass im offiziellen Bericht über den Tod keine Interna dieses Bankhauses auftauchen werden, oder?"
Ruhig nickte Toritaka. "Nur unmittelbar mit dem Todesfall in Verbindung stehende Details werden erwähnt", erklärte er. "Wenn ihr Bankhaus nicht der unmittelbare Grund für den Tod war, wird es nicht im Bericht stehen. Aber einmal rein theoretisch, wenn jemand getötet worden wäre, weil er kurz davor stand, illegale Machenschaften an seinem Arbeitsplatz an die Öffentlichkeit zu bringen, dann würde so etwas natürlich auftauchen..."
"So etwas wäre bei uns natürlich undenkbar", beeilte sich Mura zu sagen, "zumal Masakiri kaum ein Interesse an Problemen für die Yoshioka-Bank haben konnte. Er hat seinen Lebensunterhalt damit verdient, indem er mit unserem guten Ruf Fondsverträge abschloss. Gab es schlechte Nachrichten über die Yoshioka-Bank, schmälerte das direkt seinen Verdienst."
"Und wie schmal war sein Verdienst in letzter Zeit?" Toritaka konnte sich nicht verkneifen, den Finger ein wenig in die Wunde zu legen - im Moment machte keine Bank wirklich gute Geschäfte.
Die Stichelei kam offensichtlich an; der Personalchef versank noch ein Stück tiefer in seinem Sessel. "Ich habe natürlich keine genauen Zahlen", sagte er leicht errötend, "aber es ist kein Geheimnis, dass wir im Moment... schwierige Zeiten durchmachen. Wenn ich mich recht erinnere, haben in den letzten drei Monaten vier oder fünf von Masakiris Kunden ihre Fonds bei uns aufgelöst - ich hatte vor zwei Wochen ein Gespräch mit ihm deswegen. Er hat mir versprochen, bald neue Kunden zu gewinnen. Soweit ich weiß, hatte er einen Insidertipp aus den Vereinigten Staaten an der Hand und hoffte auf überzeugende Kaufargumente für unseren Pharma-Mischfonds."
Interessiert beugte sich der Inspektor näher heran. "Und hat er die neuen Kunden bringen können?" wollte er wissen.
"Oh ja", nickte Mura, "sogar gleich acht."
"Acht?!" Erstaunt blinzelte Toritaka. "Ich dachte, die Zeiten wären so schwierig?"
Der Personalleiter seufzte. "Das lag daran, dass er sehr großzügige Ausstiegsklauseln vereinbart hatte. Er hatte seine eigene Provision als Sicherheit für Verluste innerhalb des ersten Monats hinterlegt und dafür eben für diesen ersten Monat quasi 'auf Probe' die Fonds vermittelt. Verstehen sie... wenn unsere Anleger nach einem Monat sehen, dass der Fond nicht Rendite nach ihren Erwartungen abwirft, können sie bei diesen Verträgen ohne weiteres ihr Kapital zurückziehen."
Nachdenklich sah der Inspektor vor sich hin. "Und wie wahrscheinlich ist es", wollte er wissen, "dass das geschieht?"
"Leider sehr wahrscheinlich", sagte Mura. "Unser Pharma-Mischfonds ist ein Underperformer. Und wenn der Dow Jones noch weiter so abstürzt, wie er das gestern getan hat, dann wird er sogar Verluste machen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zu Generika-Medikamenten in den USA verunsichern die Anleger, und es kommen zu wenig Innovationsimpulse von den Wirtschaftsgrößen. Nicht mal mehr Bayer macht von sich reden, und die Deutschen waren früher immer für angenehme Überraschungen gut."
"Der Dow Jones ist also gestern abgestürzt?" fragte Toritaka noch einmal nach. "Nur dass ich das richtig verstanden habe."
Der Personalchef nickte. "Der tiefste Sturz seit einem Monat, und das am Wochenanfang", bestätigte er.
Langsam erhob sich Toritaka aus dem Sessel. "Damit ist er nicht alleine", sagte er. "Auch Masakiri-san ist tief gestürzt... vom Dach eines Parkhauses in den Innenhof."
"Gestürzt?" Auch Mura stand auf. "Sie meinen... gefallen? Oder gesprungen? Selbstmord?"
"Sehr wahrscheinlich letzteres", sagte der Inspektor, "nach allem, was sie mir eben erzählt haben, hatte er einen guten Grund. Beruflicher Misserfolg ist eins der häufigsten Motive für solche Entscheidungen."
Darüber schien der Personalchef einen Moment nachzudenken. "Das ist seltsam", sagte er dann. "Masakiri schien eigentlich nicht der Typ für einen Suizid. Er stand ziemlich fest mit beiden Beinen im Leben, und er hat sich auch nie wirklich zugrunde gearbeitet. Ich hatte immer den Eindruck, er würde die Balance zwischen Anspannung und Entspannung gut bewältigen."
Toritaka lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. "So täuscht man sich in den Menschen", sagte er. "Jedenfalls vielen Dank für ihre Mithilfe, Mura-san. Ich bin sicher, der Polizeibericht wird ihr Bankhaus bestenfalls am Rande erwähnen."
"Danke auch für ihr Verständnis, Toritaka-san", gab der Personalleiter zurück. "Soll ich sie noch zum Aufzug begleiten?"
"Danke, ich finde alleine hinaus", meinte der Inspektor und verließ das Büro.
Auf dem Weg zurück zu seinem Auto dachte er das Gespräch von eben noch einmal durch. Es hatte sich das erwartete Bild von Masakiri geboten: ein Mann, der vor dem beruflichen Abgrund stand und dem es leichter erschienen war, sich in einen wirklichen Abgrund zu stürzen, anstelle sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Solche Dinge kamen immer noch zu oft vor - Männer, gerade in verantwortungsvollen Positionen, waren nicht bereit, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchten, bis es irgendwann zu spät war, und dann folgten solche Verzweiflungstaten.
Blieb nur noch zu klären, ob Mura-san sich wirklich getäuscht hatte oder ob Masakiri tatsächlich nicht der Typ für einen Suizid war. Im Prinzip konnte man solche Fragen nur beantworten, indem man sich mit der Familie traf, aber der Inspektor war zu taktvoll, um sich jetzt gleich darum zu bemühen. Mit Sicherheit hatte Dezernat 5 heute früh die Angehörigen informiert - das war Standardprozedur, sobald man die Identität eines Toten festgestellt hatte - und wenigstens bis nach der Beerdigung würde man warten müssen, um ein wenig den Anstand zu wahren.
Allerdings gab es noch andere Möglichkeiten für einen Polizisten, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen zu schließen, und diese nutzte Toritaka: Kaum dass er wieder im Wagen saß, orderte er per Funk an, die Polizeiakten nach Informationen über Masakiri zu durchforsten und ihm die Ergebnisse auf den Schreibtisch zu legen. Der Tote war polizeilich nicht als Täter registriert, sonst hätte das Arakami-san vorhin sicherlich als Grund angegeben, die Untersuchungen des Todes bei Dezernat 5 zu belassen, aber so auffällig registriert wurden nur Verbrechen und Vergehen, nicht einfache Ordnungswidrigkeiten und eingestellte Verfahren. Trotzdem gab es natürlich auch über Ordnungswidrigkeiten Aufzeichnungen; die musste man eben nur für jeden Menschen einzeln zusammensuchen. Früher wäre das eine langwierige Sache gewesen, doch im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung war der Aufwand vernachlässigbar.
Der Inspektor war dementsprechend auch nicht überrascht, die gewünschten Informationen bei seiner Ankunft auf seinem Tisch vorzufinden. Er legte den Manila-Umschlag, den er von Arakami erhalten hatte, in seine Schublade und machte sich daran, die Ausdrucke in umgekehrt chronologischer Reihenfolge durchzugehen. Seine Hoffnung war, in der unmittelbaren Vergangenheit des Selbstmörders Hinweise auf psychische Auffälligkeiten zu finden, die eine Tendenz zu einem Suizid nahelegten.
Zu seinem Erstaunen fand sich in den letzten zwanzig Jahren von Masakiris Leben absolut nichts Auffälliges - Strafmandate wegen Falschparkens, eine Anzeige wegen Betrugs, die aber fallengelassen worden war, mehrere Strafzettel wegen Verschmutzung öffentlichen Eigentums. Alles Kleinkram und fast typisch für Gutverdiener. Erst die wirklich alten Akten waren aufschlussreicher, dann aber auch gleich auf eine Weise, die eigentlich nicht mehr misszuverstehen war.
Im Alter von 23 Jahren hatte Masakiri schon einmal versucht, Selbstmord zu begehen, und wie dieses Mal war es durch einen Sprung gewesen. Damals allerdings war es der Sprung vor eine U-Bahn gewesen, nicht der von einem Dach. Man hatte damals sein Leben retten können, und er war wegen "Eingriffs in den öffentlichen Personentransportverkehr" zu einem Bußgeld und Führerscheinentzug verurteilt worden. Wichtiger war allerdings, dass er bei der Vernehmung angegeben hatte, unter erdrückenden Schulden zu leiden und keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Irgendwie war er anscheinend noch einmal auf die Beine gekommen... nur um jetzt, in der gleichen Situation wie damals, zur selben Lösung zu greifen.
Zufrieden lehnte sich Toritaka zurück. Wie es aussah, konnte er auf die Befragung der Familie des Selbstmörders verzichten. Wenn Masakiri schon einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war das hinreichend für die Annahme, dass er es auch ein zweites Mal versucht haben konnte. Das Motiv war damit belegt, und solange es keine Hinweise auf irgend eine Fremdeinwirkung gab, war der Fall klar. Jetzt musste der Inspektor nur noch warten, bis der vorläufige Bericht von der Forensik kam.
Zu seiner Freude waren die ersten Unterlagen schon am Nachmittag auf seinem Schreibtisch. Zwar gab es noch keinen Autopsiebericht, aber die Spurensicherung bestätigte, dass man keine Spuren von anderen Personen im Dachgeschoss des Parkhauses entdeckt hatte, die nicht von den üblichen Parkhausbenutzern stammen konnten. Im Innenhof war eine zerknüllte Zigarettenschachtel Marke "Davidoff" gefunden worden, auf der allerdings nur Masakiris Fingerabdrücke gewesen waren - als hätte er erst die Schachtel heruntergeworfen und wäre dann hinterhergesprungen.
Auch der Mercedes des Toten war inzwischen aufgetaucht - er hatte auf dem obersten Parkdeck gestanden, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo er heruntergesprungen sein musste. Es gab keine Kratzer oder Schäden daran, nicht einmal solche, die das Spurensicherungsteam selbst verursacht hatte (was durchaus einmal passieren konnte), und im Inneren waren auch keine wirklich interessanten Dinge aufgetaucht. Es gab immer noch keinen Abschiedsbrief, keine gekritzelten Notizen, die auf Gläubiger oder Schulden hinwiesen, nur ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen der Marke "Davidoff" und ein Aktenkoffer mit darin befindlichem Laptop. Die Untersuchung der Daten auf dem Laptop stand noch bevor.
Zufrieden heftete Toritaka alle Sachen in eine Akte und legte auf seinem PC eine Falldatei an, für die er die elektronischen Kopien der Dokumente anforderte. Dann öffnete er den Manilaumschlag, in dem sich die persönlichen Gegenstände Masakiris befanden, die man direkt an seinem Körper gefunden hatte, gab ihnen Aktenzeichen und dokumentierte sie in der Falldatei, damit alles übersichtlich gespeichert werden konnte. Es war nicht übermäßig viel, so dass der Inspektor mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, dass er heute endlich einmal zu einer normalen Abendessenszeit zuhause war.
Um kurz nach 17 Uhr hatte er die letzten Arbeiten abgeschlossen, und rein der Form halber warf er noch einen Blick in sein Hauspostfach am Eingang seiner Abteilung. In der Hauspost fanden sich nie irgendwelche fallrelevanten Sachen - was seine Kollegen aus anderen Dezernaten ihm dienstlich schickten, kam direkt auf seinen Schreibtisch, und so wurden eigentlich nur Ankündigungen von Geburtstagsfeiern, Polizeigewerkschaftsversammlungen und Ähnliches auf diesem Weg zugestellt. Theoretisch wären hier auch alle Schreiben angekommen, die jemand unten im Präsidium auf seinen Namen abgegeben oder auf seinen Namen ans Präsidium geschickt hätte, aber das war in seiner Dienstzeit noch nie vorgekommen - er war nie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig gewesen, und Anzeigen, die die Öffentliche Sicherheit betroffen hätten, gingen zu fast hundert Prozent bei der Streifenpolizei in Dezernat 4 ein, weil das die Polizisten waren, die mit den normalen Leuten am meisten zu tun hatten.
So dachte sich Toritaka auch nichts besonderes bei dem Brief ohne Absender in dem einfachen weißen Umschlag, den er ohne Briefmarke aus dem Fach zog und beiläufig aufriss. Das Briefpapier war überraschend dick und fest, was aber immer noch nichts besonderes war, da Feiern oft auf Karten angekündigt wurden. Erst als er das Papier auf dem Weg zurück ins Büro auffaltete, stutzte er und blieb verwundert stehen.
Der Brief war mit einem Kalligraphiepinsel geschrieben worden, das sah man auf den ersten Blick. Die Handschrift war zierlich, aber von der eigentümlichen Kraft, die Schriftzeichen erhielten, wenn jemand mit Verständnis für die klassische Schreibkunst sie zu Papier brachte. Diese Nachricht war nicht einfach nur heruntergeschrieben, sondern mit höchster Präzision gemalt worden. Toritaka war kein Experte dafür, aber so wie er Manga von klassischen Gemälden unterscheiden konnte, war er in der Lage, einfache Schrift und kalligraphische Kunst auseinanderzuhalten.
Die Nachricht selbst war allerdings noch überraschender als die Form:
"Ein Mensch,
der in den Tod geht,
schreit aus Angst vor dem Tod.
Doch ein Mensch,
der zu leben fürchtet,
und nicht zu sterben,
warum sollte der schreien?"
Ein Gedicht? Oder was sollte das sonst sein? Er besah noch einmal Umschlag und Brief. Kein Absender. Eigenartig. Nachdenklich brachte der Inspektor den Brief mit auf sein Büro, und aus einem reinen Impuls heraus zog er aus seinem Schreibtisch eine der Plastiktüten hervor, die man zum Aufheben von Beweismaterial verwendete und steckte das Schreiben mitsamt Umschlag hinein. Vielleicht wurde es noch einmal wichtig, näheres über den anonymen Absender zu erfahren; man konnte ja nie wissen.
Nachdem Toritaka die Tüte verschlossen hatte, dachte er über das seltsame Gedicht nach. Das konnte sich doch nicht auf seinen momentanen Fall beziehen... oder? Erst gestern abend war der Todesfall überhaupt erst geschehen, und offiziell gehörte der Fall ihm erst seit heute früh. Wer hätte sich denn so schnell über seine Beteiligung informieren und ihm eine Nachricht schicken sollen? Nein, das war eigentlich nicht möglich. Aber der Inhalt...
Der Inspektor öffnete noch einmal die Datei, wo er alles aufgezeichnet hatte, was mit dem Fall zu tun hatte. Ganz am Anfang war die erste Anzeige verzeichnet, die gestern abend gemacht worden war - die "Ruhestörung". Ein Zeuge hatte einen Schrei gehört, unmittelbar ehe die Alarmanlage des Autos losgegangen war, und der Aussage nach war das ein langgezogener Angstschrei gewesen. Er musste wohl von Masakiri gekommen sein, der während seinem Sturz geschrieen hatte... und dieses mysteriöse Gedicht hatte recht, warum sollte jemand vor Angst schreien, der sich freiwillig in den Tod stürzte? Aber das war nicht eindeutig - wenn ihn im letzten Moment seines Lebens doch noch die Panik übermannt hatte, oder wenn er jemand war, der nicht stumm aus der Welt scheiden wollte... Schreie von Selbstmördern waren kein guter Anhaltspunkt...
Genau in diesem Moment fiel Toritaka auf, dass es noch ein weiteres Indiz gab, dass mit diesem Selbstmord etwas nicht stimmte. Wenn er sich nicht irrte.
Mit einem Ruck zog er die Schublade seines Schreibtischs wieder auf und fischte den Manilaumschlag heraus, in dem sich Masakiris Sachen befanden. Er öffnete ihn und leerte den Inhalt auf der Tischplatte aus. Tatsächlich... kein Irrtum. Ein Blick auf den Bildschirm in die Akte bestätigte noch einmal den Widerspruch, und alles, was er jetzt noch wissen musste, konnte er mit einem Telefonanruf klären. Er nahm den Hörer seines Apparates ab und drückte die 0 für die Zentrale. "Toritaka hier", sagte er in den Hörer, "Dezernat sechs. Bitte Dezernat fünf, Inspektor Arakami."
Es dauerte einige Sekunden, bis die Verbindung stand. "Guten Abend, Toritaka-san", meldete sich die Ermittlerin vom anderen Ende der Leitung. "Sie haben Glück, mich noch anzutreffen - eben wollte ich gehen."
"Es wird nicht lange dauern", versprach Toritaka. "Ich brauche nur eine Auskunft zu den Ermittlungen von Dezernat 5. Sie haben doch das Auto von Masakiri durchsucht, nicht wahr?"
"Richtig", bestätigte Arakami. "Beziehungsweise, nicht ich persönlich, aber Assistenzinspektor Kor...."
"Darum geht es mir nicht", unterbrach der Inspektor sie aufgeregt. "Sie schrieben, das Auto sei unbeschädigt gewesen, unbeschädigt in jeder Hinsicht, obwohl sie es durchsucht haben, korrekt?"
Einen Moment herrschte erstauntes Schweigen in der Leitung. "Was ist daran so ungewöhnlich", wollte die Frau dann wissen. "Mein Team arbeitet vorsichtig und rücksichtsvoll."
Toritaka atmete einmal tief durch. "Was daran ungewöhnlich ist?" stieß er hervor. "Wie sind sie ins Auto hineingekommen? Sie haben mir die Autoschlüssel heute vormittag mitgegeben, noch ehe sie wussten, wo der Wagen stand! Es war nicht abgeschlossen, oder?"
"Aber..." Arakamis Überraschung war selbst durch das Telefon deutlich zu spüren. "Meine Güte, sie haben recht. Mein Team musste den Wagen nicht aufbrechen. Er muss offen gewesen sein. Aber wieso..."
"Genau", sagte der Inspektor leise. "Wieso geht jemand von der Arbeit ins Parkhaus zu seinem Auto und schließt die Türe auf, wenn er eigentlich vorhat, sich vom Dach zu stürzen?"