Читать книгу Die Tugend von Tokyo - Götz T. Heinrich - Страница 7

Donnerstag, 8. April 2004, 11.37 Uhr

Оглавление

"Ist das alles? Mehr war nicht herauszuholen?"


Assistenzinspektor Kakiden errötete leicht ob des Tadels, den Toritaka soeben über ihn von sich gab. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er ihn unberechtigt fand, aber es direkt aussprechen - das wäre vor einem Vorgesetzten undenkbar gewesen.

Also musste er sich erklären. "Es ist nur der Anfang, Inspektor", sagte er. "Ich bin erst seit gestern mit Dezernat fünf zusammengeschlossen, und die Forensik hatte erst einen Tag Zeit zur genaueren Spurensuche. Wie sie sehen, gibt es ja bereits Ergebnisse - Fremdfasern, Schweiß, eigentlich eine ganze Menge. Die Spuren deuten zwar noch auf niemand bestimmten hin, aber ich bin mir sicher..."

"Das reicht leider nicht, Kakiden-san", unterbrach ihn Toritaka mit einer knappen Handbewegung. "Spuren, die uns mehr über Kontakte unseres Opfers mit anderen Menschen mitteilen, sind noch uninteressant. Wir brauchen Indizien, dass er zur Zeit seines Todes dort oben nicht alleine war, verstehen sie? Laut dem Bericht hier verstarb er nicht vor 23 Uhr, und er wurde schon gegen halb zwölf gefunden. Ein Fenster von nur einer halben Stunde ist so eng, dass da etwas zu finden sein muss!"


"Ich tue mein Bestes", gab Kakiden etwas gezwungen zurück, "aber ich bin kein Experte für Spurenanalyse, und die Experten sagen mir, dass sie ebenfalls ihr Bestes tun, um zu Ergebnissen zu kommen. Ich glaube nicht, dass ich das alles noch weiter beschleunigen kann."

Der Inspektor atmete tief durch. "Doch, das können sie", widersprach er. "Machen sie diesen Laborratten Feuer unter dem Hintern. Stehen sie bei jeder Gelegenheit fünf Zentimeter neben ihnen und stellen sie Fragen, warum das nicht schneller geht. Halten sie sie davon ab, etwas anderes zu untersuchen als unseren Fall, und vor allem machen sie denen klar, dass ich diese Indizien brauche! Verstehen sie? Ich werde es als ein Versagen ansehen, wenn bei der Forensik nichts gefunden wird!"

Mit einem mindestens ebenso tiefen Durchatmen straffte sich der Assistenzinspektor. "Wie sie wünschen, Toritaka-san", sagte er. Ich werde mich wortwörtlich nach ihren Anweisungen richten."

"Gut." Zufrieden nickte der Inspektor. "Aber zitieren sie mich nicht, verstanden?"

"Verstanden!"


Kakiden verließ das Büro, und Toritaka blieb nachdenklich zurück. Er tat das nicht gerne, andere Menschen unter Druck setzen, aber ohne Druck erreichte man leider zu selten etwas. Gerade sein Assistenzinspektor ließ die Dinge gerne "locker" angehen, und lockeres Herangehen konnte man sich nicht leisten. Nicht bei einem solchen Fall.

Als nächstes würde es um die Untersuchung der Erpressungs-Theorie gehen, die Toritaka sich gestern zurechtgelegt hatten. Der Inspektor war zu vorsichtig, um den Worten eines Yakuza so ohne weiteres Glauben zu schenken. Wenn Masakiri tatsächlich ein Enjo-kusai-"Kunde" gewesen war, dann musste es Leute geben, die ihn gesehen hatten, aber nicht in der Position waren, ihm zu schaden: Arbeitslose, Obdachlose, soziale Randgruppen wie Jugendgangs oder alte Leute hätten kaum die Möglichkeit gehabt, den Leumund eines Bankers zu gefährden. Selbst dann nicht, wenn die erfolgreichen Zeiten des Bankers anscheinend vorbei waren.


Toritaka war kein Spezialist für solche Fahndungen, aber er hatte wegen anderer Fälle schon häufig in solchen Milieus zu tun gehabt: Alte und leicht senile Leute, die Lebensmittel "für Kriegszeiten" im Garten vergruben, bis es eine Rattenplage gab. Scharen von Betrunkenen aus einer Firmenentlassung, die auf Bahngleisen feierten. Motorradgangs, die sich Rennen durch die Wohngebiete lieferten. Alles Fälle für Dezernat 6, alles Dinge, mit denen man bereits in Kontakt gekommen war; der Umgang mit solchen Menschen sollte sich nicht kompliziert gestalten.

Das Wohnumfeld Masakiris war der erste Anhaltspunkt des Inspektors. Zuletzt hatte der Investmentberater in Jimbocho gelebt, eigentlich einem Einkaufsviertel, das für seine vielen Buchhandlungen und Antiquariate berühmt war. Es gab dort allerdings auch Wohnungen, und die Mieten waren auf einem für Tokyo recht niedrigen Niveau; eigentlich nicht die klassische Umgebung, in der man einen Bankangestellten höherer Kategorie erwartete. Um die Finanzen des Mannes musste es wirklich nicht gut gestanden haben. Über solche Menschen gab es mit Sicherheit einiges Gerede...


Toritaka griff seinen Schirm (seinen eigenen guten; den Plastikschirm von gestern hatte er längst entsorgt) und machte sich auf den Weg zur nächsten Haltestelle. So sehr er normalerweise sein Auto schätzte, das Stück vom Präsidium in Chiyoda nach Jimbocho würde beim Verkehr in der Innenstadt eine knappe Stunde dauern... oder drei Haltestellen mit der U-Bahn. Bei solchen Strecken war die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wirklich vorzuziehen, zumal sie für Polizeibeamte ja kostenlos war.

Die U-Bahn war genau so voll, wie der Inspektor es erwartet hatte, aber für die wenigen Minuten Fahrt war es zu ertragen. Aus reiner Routine hielt er die Augen nach Grabschern und Taschendieben offen, entdeckte jedoch nichts Auffälliges, vielleicht weil die erst vor kurzem durchgeführte Polizeiaktion sich herumgesprochen hatte. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er mit den Gedanken nicht völlig bei der Sache war sondern immer noch der Frage nachhing, ob er möglicherweise andere Leute gefährdete, wenn er sie zu einem Todesfall befragte, in den die Yakuza verwickelt war. Er kam nicht wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis.


Der seit gestern anhaltende Dauerregen tauchte ganz Jimbocho in ein eintöniges Grau, als Toritaka aus der Haltestelle heraus trat. Ein Meer von Regenschirmen flutete durch die Straßen, in das der Inspektor sich einreihte, während er sich zur Adresse treiben ließ, an der Masakiri gewohnt hatte. Das Haus war sogar noch jämmerlicher, als er es sich vorgestellt hatte; an der Vorderfront war es ein alter, reichlich verkommener Laden für chinesische Wundermittelchen, während an der Rückfront, die in einen Hinterhof mündete, die Fassade wahrscheinlich schon seit dem Ende des Wirtschaftsbooms in den Achtzigern vor sich hin bröckelte. Dort oben, in einem Apartment im zweiten Stock, hatte der Investmentberater also gelebt.

Aus der Entfernung drang das alberne Lachen von Schulmädchen herüber. Toritaka stieg über die ziemlich angerostete Außentreppe des Gebäudes hinauf, wobei sein Schirm über den Putz der Hauswand schabte und dort eine kleine Kratzspur hinterließ - so aufgeweicht vom Regen war das Material. Oben angekommen warf er einen Blick durch das Fenster in die Wohnung. Alles dunkel. Die Türe war verschlossen, und ein Papiersiegel der Metropolitan Police war am Eingang angebracht worden. Dezernat 5 hatte hier noch nichts durchsucht, aber den Ort sicherheitshalber schon einmal abgesperrt.


Während der Inspektor noch einmal durch ein Fenster sah und überlegte, ob er nicht einfach versuchen sollte, dort hineinzukommen, hörte er, wie wenige Meter neben ihm die Türe zu einem der anderen Apartments aufgeschlossen wurde, hatte sich aber nicht wirklich darum kümmern wollen. Das änderte sich jedoch sofort, als eine ältere, etwas heisere Stimme ihn ansprach: "Masakiri-san ist nicht zuhause", sagte sie.

"Ich weiß", gab Toritaka zurück und wandte sich um. Die Türe des Apartments nebenan war einen Spalt geöffnet worden, gerade so weit, dass die innenliegende Türkette voll gespannt war, und von innen spähte ein Auge hervor, das durch ein dickes Brillenglas starrte. "Masakiri-san ist vor kurzem verstorben."

Das Auge verengte sich misstrauisch. "Wenn sie das wissen", meinte die heisere Stimme, "dann können sie ja gehen."

Der Inspektor lächelte mit besonderer Freundlichkeit. "Leider ist mir das nicht möglich", sagte er und zog zur Erklärung seinen Polizeiausweis aus der Manteltasche. "Ich bin Inspektor Toritaka vom Keishicho." Er verwendete den japanischen Ausdruck für die Metropolitan Police, der vielen älteren Menschen eher ein Begriff als der neuere, englische Name war. "Ich untersuche den Todesfall."

"Ich dachte", sagte die heisere Stimme, "es war Selbstmord?" Das einzelne sichtbare Auge fokussierte den Polizeiausweis.

"Dazu kann ich ihnen leider nichts sagen", gab Toritaka zurück. "Aber sie sind ja offensichtlich bereits gut informiert. Ich nehme an, sie kannten Masakiri-san gut?"

Das Auge entspannte sich etwas. "Wir waren Nachbarn."

Langsam nickte der Inspektor. "Was für eine Art Mensch war er?"

"Das ist..." Die Stimme stockte. "Eigentlich kannte ich ihn gar nicht", setzte sie hastig nach.


"Nicht?" Toritaka zog eine Augenbraue hoch. "Als seine Nachbarin? Das ist aber ungewöhnlich, um nicht zu sagen, verdächtig. Sie waren im Streit miteinander, nehme ich an?"

Das Auge weitete sich entsetzt. "Nein... keineswegs! Ich... ich bin keine verdächtige Person! Warten sie..." Die Türe wurde geschlossen, es gab ein Klicken, dann öffnete sie sich ganz und eine ältliche Dame mit grauem, hochgestecktem Haar trat heraus, wahrscheinlich Anfang sechzig und nur knapp einssechzig groß. Sie war in einen grobgestrickten Hausmantel gekleidet, unter dem der einfache Stoff billiger Kaufhauskonfektion hervorlugte.

Der Inspektor nickte zufrieden - in einfachen bürgerlichen Kreisen genügte meist schon die Andeutung, dass man unter einen Verdacht geraten könnte, um Kooperation hervorzurufen. "Ich möchte ihnen wirklich keine Umstände machen", sagte er beruhigend, "aber ich bin sehr dankbar, dass sie mir weiterhelfen möchten. Wie ist denn ihr Name?"

"Ich bin Suitengo Hikari, Inspektor-san", beeilte sich die Dame zu sagen und verneigte sich hastig. "Su-i-ten-go..."

"Danke, sie müssen ihn nicht buchstabieren", lächelte Toritaka. "Ich werde ihn für die Akten vom Einwohneramt abrufen. Also, sie sagten, sie kannten Masakiri-san nicht besonders gut?"

Der Blick Suitengo-sans wurde wieder etwas enger. "Er war kein Mensch, den man gerne kannte", sagte sie. "Irgendwie passte er nicht hier ins Viertel. Sehr... aus sich herausgehend, verstehen sie, was ich meine?"


Langsam nickte der Inspektor. "Er hat sein Leben wohl zu auffällig gelebt", meinte er. "Ich nehme an, er war nichts anderes gewohnt als Angestellter im Bankgewerbe."

"Auffällig ist das falsche Wort", korrigierte die ältere Frau ihn. "Gekleidet war er immer sehr anständig, und viel von ihm gehört hat man auch nicht. Nur..." Ihre Stimme wurde etwas leiser, und sie trat einen Schritt näher an den Inspektor heran. "Alle hier wussten doch, dass er die Nacht zum Tag macht."

"Wie meinen sie das?" Toritaka war etwas verwirrt. "Er hat nachts gearbeitet?"

Mit großer Geste winkte Suitengo-san ab. "Gearbeitet, von wegen", ereiferte sie sich. "Gefeiert hat er, so ziemlich jedes Wochenende. Er kam an Samstagen nie vor drei Uhr morgens zurück; das hätte ich mir mal erlauben sollen, als ich noch im Büro gearbeitet habe! Und dann war er immer sturzbetrunken; es ist doch furchtbar, wenn Männer sich so gehen lassen!"

Der Inspektor nickte verstehend. "Er war also ein Genussmensch."

"Und wie." Die alte Dame nickte heftig. "Gelegentlich musste ihn sogar ein Arbeitskollege nach Hause bringen, weil er nocht mehr laufen konnte. Und der hat sich nicht mal geschämt, in Gesellschaft von Lolita-Nutten hier aufzutauchen!"

"Lolita-Nutten?" Jetzt wurde es anscheinend interessant. "Woran haben sie erkannt, dass das Prostituierte waren?"

Suitengo-san stemmte die Hände in ihre knochigen Hüften. "Na, das sieht man doch", meinte sie empört. "Warum sonst sollten sich junge Frauen erst schminken wie Filmstars, aber dann Oberschuluniformen anziehen?"

Interessiert klappte Toritaka seinen Notizblock auf. "Wie sahen denn diese Uniformen aus?"

"Das Kleid schwarz", beschrieb die ältere Dame, "aber mit rotem Rand. Der Kragen weiß, auch mit rotem Rand und rotem Halstuch, und weiße lose Socken über den Schuhen. Weiße Bluse, schwarze Weste. Marineschnitt."


"Beeindruckend, ihr Gedächtnis." Der Inspektor nickte anerkennend, während er die Details notierte. "Woher können sie sich so viel merken?"

Auf Suitengo-sans Gesicht zeigte sich ein schmales Lächeln. "Vierzig Jahre in der Kundenberatungszentrale der Stadtverwaltung", sagte sie. "Im Januar hat man mich vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Aber eine gute Erinnerung an Kleinigkeiten habe ich immer noch." Sie tippte an ihr Brillengestell. "Und mit dem da sehe ich so scharf wie ein Wanderfalke."

Toritaka lächelte. "Das glaube ich ihnen", sagte er freundlich. "Aber etwas wüsste ich doch noch gerne... Masakiri-san, hat er sich auch mit... Nutten herumgetrieben?"

"Oh, das weiß ich nicht." Die ältliche Dame zuckte mit den Schultern. "Hierher mitgebracht hat er sie nie, und was er drüben in Shibuya angestellt hat, weiß ich nicht."

"Er war also oft in Shibuya?"

Wieder hob Suitengo-san die Schultern. "Wo soll er sich sonst herumgetrieben haben?"

Dem Inspektor wären auf Anhieb noch eine Menge anderer Orte eingefallen, an denen man Kontake zu Prostituieren anbahnen und sich betrinken konnte, vor allem das Hafenviertel von Odaiba, aber er hatte nicht vor, sich bei seiner Gesprächspartnerin unbeliebt zu machen. "Herzlichen Dank dann nochmals für ihre Auskünfte", sagte er, "ich bin sicher, das bringt mich weiter. Nur fürs Protokoll... der Name von Masakiri-sans Geschäftskollege, wissen sie den zufällig?"

"Das war ein gewisser Honda-san", berichtete die Frau. "Masakiri-san nannte ihn immer 'Nori-kun'."

"Honda-san", wiederholte Toritaka, wärend er den Namen notierte. "Gut, das war dann alles, Suitengo-san. Wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen sie mich doch an." Er zog hinter dem Notizblock eine seiner Visitenkarten hervor und reichte sie ihr. "Ich bin eigentlich immer erreichbar."


Mit einer höflichen Verbeugung verabschiedete sich der Inspektor. Suitengo-san hatte ihm mehr geholfen, als sie wusste, denn Toritaka hatte es vermieden, den "enjo kusai" zu erwähnen, den er eigentlich bestätigt haben wollte und zu dem er nun eine gute Spur hatte. Junge Frauen in Oberschuluniform - der Verdacht lag nahe, dass es sich dabei tatsächlich um Schülerinnen handelte, und er glaubte sogar, die Uniform zuordnen zu können. Schwarz mit weißem Halstuch und roten Akzenten - das klang sehr nach der Metropolitan High School, einer sehr renommierten Oberschule, die direkt Absolventen für die Metropolitan University vorbereitete. Die Metropolitan University war in Sachen Geisteswissenschaften das, was die berühmte Universtät von Tokyo für Medizin und Naturwissenschaften war: die beste Adresse in Japan. Ein teures Pflaster, und mit Sicherheit musste man da auch schon als Oberschüler einiges an Geld haben, um seinem eigenen Sozialprestige zu entsprechen...

Vorerst aber musste geklärt werden, ob Masakiri tatsächlich etwas damit zu tun gehabt hatte und nicht nur sein Kollege, dieser Honda "Nori-kun". Mit dem Vornamen war nicht viel anzufangen - Toritaka bezweifelte, dass der Mann wirklich "Nori", also "Seetang", hieß. "Honda" war auch nicht unbedingt der seltenste Familienname, dennoch konnte man darauf hoffen, dass es unter den direkten Geschäftskollegen Masakiris nur eine Person dieses Namens gab, und falls nicht, würde mit Sicherheit jemand wissen, wer den Spitznamen "Nori" trug: Mura von der Yoshioka-Bank.


Sobald er um eine Ecke war und sich vor dem strömenden Regen untergestellt hatte, zog Toritaka sein Mobiltelefon hervor, kramte nach der Visitenkarte des Personalleiters und wählte seine Nummer. Das Wahlzeichen ertönte nur zweimal, ehe abgehoben wurde. "Hallo", meldete sich eine angenehme weibliche Stimme, mit Sicherheit die Sekretärin Muras. "Was kann ich für sie tun?"

"Hallo, hier ist Toritaka Shingo von der Metropolitan Police", meldete er sich. "Bitte verbinden sie mich mit Mura Nobuhide-san."

"Welche Angelegenheit darf ich melden?" fragte die Stimme zurück. Erstaunlich - gewöhnlich wurde man als Polizeibeamter sofort durchgestellt.

Toritaka verschluckte seinen Ärger vorerst. "Ich hatte vor zwei Tagen ein Gespräch mit Mura-san in einer polizeilichen Angelegenheit", sagte er mit deutlicher Betonung. "Ich hätte noch eine Rückfrage deswegen - es wird nur eine Minute dauern. Würden sie mich bitte durchstellen?"

Kurzes Schweigen, dann: "Einen Moment bitte", gefolgt von der leisen Musik einer Warteschleife. Zum Entsetzen des Inspektors war die Musik ein dümmlicher Pophit von Hamasaki Ayumi. Setzte sich dieses Gedudel jetzt auch schon bei den Banken durch?

"Hallo", erklang die Stimme Muras aus dem Hörer, glücklicherweise noch ehe Toritaka die Geduld verloren hatte. "Sie hatten noch eine Frage, Toritaka-san?"


"Richtig", bestätigte der Inspektor, "und ich muss um Entschuldigung bitten, sie deswegen nochmals zu stören. Gibt es in der Yoshioka-Bank einen 'Honda-san', mit dem Masakiri häufig zusammengearbeitet hätte?"

Ein kurzes Schweigen; Mura schien zu überlegen. "Nein", sagte er schließlich, "von unseren Hondas arbeitet niemand der Kundenbetreuung zu. Aber meinen sie vielleicht Honda Tadenori-san?"

Erfreut lächelte Toritaka - das war also die Erklärung für 'Nori-kun'. "Honda Tadenori-san, genau", sagte er. "Ich dachte, er arbeitet bei ihnen in der Bank?"

"Da hat man sie falsch informiert", erklang Muras Stimme aus dem Hörer. "Honda-san war der Steuerberater von Masakiri-san, ein früherer Schulfreund von ihm. Er hat häufiger hier angerufen. Benötigen sie seine Telefonnummer?"

"Das wäre freundlich", sagte der Inspektor und ließ sie sich durchgeben. "Danke noch einmal für ihre Hilfe, und einen angenehmen Tag."


Toritaka behielt das Handy gleich in der Hand, wählte jedoch nicht die Nummer, die man ihm gegeben hatte, sondern erst einmal die der Zentrale im Präsidium. Eine kurze Anfrage dort mit Honda Tadenoris Namen und Rufnummer, und man konnte ihm über die Netzwerkverbindung zum Einwohneramt die Adresse nennen. Zu seinem Ärger befand sich die in einem der recht neuen Viertel von Akihabara, was bedeutete, dass er das Auto würde nehmen müssen. Nicht, weil es mit der U-Bahn nicht zu erreichen gewesen wäre, aber er hätte sich im Viertel wahrscheinlich die Schuhe auf der Suche nach der richtigen Adresse durchgelaufen: In Tokyo vergab man Hausnummern nicht entlang der Richtung einer Straße, sondern anhand der Reihenfolge der erteilten Baugenehmigungen... und bei einer langen Durchgangsstraße mit mehr als sechshundert Hausnummern war man zu Fuß rettungslos verloren.

Der Inspektor nahm also die U-Bahn zurück zur Haltestelle Kasumigaseki, holte seinen Wagen aus der Garage des Polizeipräsidiums und machte sich auf den Weg nach Akihabara. Es wäre ein leichtes gewesen, durch einen Anruf herauszufinden, ob Honda zuhause war, aber er kündigte sein Eintreffen nicht gerne vorher an. Zu oft war es ihm schon untergekommen, dass sich die Leute eine "Geschichte" zurechtlegten, wenn er sie auf seine Ankunft vorbereitete, selbst wenn sie es gar nicht nötig gehabt hätten. So etwas sorgte nur für Fehlschlüsse und falsche Interpretationen - je schneller man hinter die Wahrheit kam, desto besser.


"Schnell" war allerdings relativ, wenn man nach einer bestimmten Hausnummer suchte, insbesondere im strömenden Regen. Obwohl der Inspektor zügig durch den Innenstadtverkehr gekommen war, musste er nahezu eine halbe Stunde lang durch Akihabara kurven, ehe er endlich Hondas Haus gefunden hatte. Es war ein kleines, geducktes Einfamilienhaus im westlichen Stil. Keine Gartenfläche, Schrägdach. Viel Geld steckte nicht dahinter, aber wenigstens wohnte hier jemand, der sich ein eigenes Grundstück noch im Stadtgebiet leisten konnte. Ein etwas stereotyp anmutendes Metallschild neben der Eingangstüre bezeichnete das Haus als "Steuerfachberatung Honda Tadenori", und der Titel wurde darunter noch einmal auf Englisch wiederholt.

Toritaka stellte seinen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, klemmte seinen Polizeiparkschein hinter die Windschutzscheibe und trat zum Haus. Eine Klingel mit Gegensprechanlage und Kamera war an der Türe angebracht; die Fenster hatten Schutzverblendungen nach außen. Hier legte jemand Wert auf Sicherheit. Der Druck auf die Klingel erzeugte einen harmonischen Zweitongong. Allerdings meldete sich niemand.


Der Inspektor sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Nicht die Zeit, in der ein Steuerberater auf Außendienst unterwegs sein würde. Ob Honda vielleicht gerade innen am Essen war? Er versuchte es noch einmal, und als sich nichts tat, noch ein drittes Mal. Immer noch keine Reaktion. Sein Blick wanderte an der Hausfassade hoch. Im stetig plätschernden Regen war es schwer zu sagen, aber er glaubte nicht, von innen Licht zu sehen. Vielleicht war wirklich niemand zuhause? Dann würde er sich vor dem nächsten Besuch wohl doch ankündigen müssen.

Gerade als Toritaka an sein Auto zurückgetreten war und einsteigen wollte, bemerkte er einen gutgekleideten Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite um eine Ecke gebogen kam. Taubengrauer Geschäftsanzug und darüber ein heller, offener Mantel. Er schien etwa fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt zu sein; leicht graumeliertes, aber noch dunkles Haar, Designerbrille, Markenregenschirm. Er schlenderte ohne besondere Eile durch den Regen, und schließlich zog er einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und trat auf das kleine Haus mit dem Schrägdach zu, wo Toritaka eben gewesen war.


Der Inspektor zögerte nicht und lief mit schnellen Schritten über die Straße. "Honda-san", rief er, "warten sie!"

Der Mann im Geschäftsanzug sah über die Schulter und zog eine Augenbraue hoch. "Wenn sie zu mir wollen", sagte er, "sollten sie ihr Auto besser woanders abstellen. Da drüben ist Parkverbot."

"Das geht in Ordnung", gab Toritaka zurück und zückte seinen Polizeiausweis. "Inspektor Toritaka, Metropolitan Police. Hätten sie einige Minuten Zeit?"

"Die Polizei?" Verwundert betrachtete Honda den Ausweis. "Dezernat für öffentliche Sicherheit? Haben sich die Erdbebenschutzrichtlinien wieder geändert?"

Lächelnd schüttelte der Inspektor den Kopf. "Ich bin nicht in einer ausgesprochenen... Standardangelegenheit hier", sagte er. "Dazu schicken wir auch in den seltensten Fällen Inspektoren. Ich untersuche den Todesfall eines ihrer Kunden, Masakiri Satoshi."

Das Gesicht des Steuerberaters zeigte Verwirrung. "Masakiri-san ist tot?" fragte er nach. "Ich... davon wurde ich noch nicht in Kenntnis gesetzt."

"Ich hätte einige Fragen zur Person Masakiris gehabt", erklärte Toritaka. "Sie haben auch für ihn gearbeitet, nicht wahr?"

"Das..." Honda überlegte kurz. "Das möchte ich nicht hier draußen besprechen. Kommen sie doch einen Moment mit ins Büro."


Er schloss die Haustüre auf, und der Inspektor folgte ihm durch den Flur geradeaus in ein komfortabel eingerichtetes Arbeitszimmer. Ein großer, beeindruckender Schreibtisch aus Teakholz nahm den Großteil der Fläche des Büros ein, der Rest wurde von einem Regal mit zahlreichen Aktenordnern, mehreren Zimmerpflanzen und einigen Stühlen ausgefüllt. Honda bot seinem Gast einen der Stühle an und nahm selbst auf einem großen Ledersessel Platz, der hinter dem Schreibtisch stand.

"Sie werden verstehen", begann er dann die Unterhaltung, "dass ich ihnen keine Auskunft über die finanzielle Situation meiner Kunden geben kann, selbst nicht nach deren Tod. Das Steuerrecht verbietet es mir, Informationen weiterzugeben, wenn ich keinen Auftrag dazu habe. Es sei denn, ein Gericht entbindet mich im Einzelfall von dieser Verpflichtung."

"Das war mir noch nicht bekannt", gab Toritaka zurück, "aber im Moment spielt es auch keine Rolle. Wie ich sagte, benötige ich einige Informationen zur Person Masakiris, nicht zu seiner Situation. Ich nehme an, sie können mir weiterhelfen?"

Honda nickte. "Das kann ich", sagte er, "aber... bitte verstehen sie, die Nachricht über diesen Todesfall kommt sehr plötzlich. Ich muss das erst mal verdauen. Wie ist Satoshi-san denn umgekommen?"

Bedauernd hob der Inspektor die Arme. "Eben das untersuche ich im Moment", erklärte er. "Der Fall ist nicht abgeschlossen. Im Moment wissen wir nur, dass er bei einem tiefen Sturz ums Leben kam."

"Ein Sturz?" Der Steuerberater blickte besorgt. "Selbstmord?"


"Wie ich sagte", wiederholte Toritaka, "ich untersuche das noch. Im Moment schließe ich noch nichts aus - Selbstmord, Fremdverschulden, Unfall. Es ist allerdings interessant, dass sie sofort auf ersteres tippen. Hatte Masakiri einen Grund, sich das Leben zu nehmen?"

Hondas Gesicht verdüsterte sich. "Es tut mir leid", sagte er, "dazu darf ich ihnen keine Auskünfte erteilen."

Mit beruhigendem Lächeln nickte ihm der Inspektor zu. "Dafür habe ich natürlich Verständnis", sagte er. "Ziehen wir eine andere Frage vor: Hat Masakiri 'enjo kusai' in Anspruch genommen, oder waren das nur sie?"

"WAS?!" Dem Steuerberater fiel die Kinnlade herunter. "Was erlauben sie..."

"Beantworten sie die Frage!" befahl Toritaka in plötzlich schneidend scharfem Ton. "Waren es nur sie, der sich mit Schulmädchen herumgetrieben hat, oder hatte Masakiri auch eine Vorliebe dafür?"

Mit langsam röter werdendem Gesicht erhob sich Honda aus dem Sessel. "Ich verwehre mich gegen die Unterstellung, verbotene Kontakte zu Minderjährigen gehabt zu haben!" erklärte er mühsam beherrscht.

Der Inspektor verschränkte die Arme. "Ich habe Zeugen", sagte er, "und die können sie gerne bei einer Gegenüberstellung identifizieren. Möchten sie gleich jetzt ins Präsidium mitkommen?"

"Ich..." Honda stockte, hielt inne und sank dann langsam wieder in seinen Sessel zurück. "Sie waren volljährig", grollte er dann leiser. "Immer volljährig!"

"Wenn sie glauben, dass es das in meinen Augen besser macht, irren sie sich." Toritaka beugte sich vor. "Es waren Mädchen von der Metropolitan High, Mädchen aus gutem Haus. Wenn sie nicht aussagen, zu wem sie Kontakte hatten, wird jeder Richter annehmen, dass es Minderjährige waren, und wenn sie die Namen von erwachsenen Schülerinnen nennen, dann erfahren deren Familien, dass sie ihre Töchter in Verruf bringen. Und dann will ich nicht in ihrer Haut stecken. Sie haben jetzt schon verloren, es sei denn, sie kooperieren."


Der Steuerberater sackte in sich zusammen. "Was verlangen sie von mir?" fragte er tonlos.

Unwillig hob Toritaka eine Augenbraue. "Hören sie mir nicht zu?" fuhr er sein Gegenüber an. "Informationen über Masakiri, das sagte ich ihnen doch bereits! Frage eins: 'Enjo kusai' ja oder nein?"

"Ja", sagte Honda leise. "Er hatte ein gewisses... Interesse an diesen Sachen."

"Na, es geht doch", ermunterte ihn der Inspektor. "Nächste Frage: Haben sie ihn auf die Mädchen gebracht oder er sie?"

Langsam ließ der Mann den Kopf sinken. "Ich ihn", murmelte er. "Zumindest... zumindest, was das Ausgehen betrifft. Wir kennen... kannten uns schon aus der Schule, und wir alle beide... na ja, wir fanden Mädchen eben... interessant."

Toritaka nickte. "Die ersten Kontakte haben aber sie angebahnt?" fragte er nach.

"Richtig", bestätigte Honda. "Aber schon vor Jahren. Und eigentlich... eigentlich habe gar nicht ich damit angefangen. Es waren die Mädchen! Die Mädchen haben von selbst damit angefangen! Sie ahnen gar nicht, was da heute alles..."

"Sparen sie sich die Ausreden", unterbrach der Inspektor ihn, "ich interessiere mich für ihre Motive nicht. Ich interessiere mich nur für Namen. Mit welchen Mädchen war Masakiri am häufigsten zusammen?"

Honda schluckte. "Das weiß ich nicht", sagte er. "Ich kenne ja selbst von denen, die ich persönlich treffe, meistens nur die Vornamen."

Langsam lehnte sich Toritaka in seinem Stuhl zurück. "Dann werden sie mir die Mädchen zeigen müssen", entschied er kurzerhand.


"Zeigen?!" Der Steuerberater riss die Augen auf. "Aber... wie?"

"Nehmen sie sich morgen nachmittag keine Termine und kommen sie um vierzehn Uhr dreißig ins Präsidium des Keishicho. Eins-eins, Kasumigaseki zwei-Chome, Chiyoda-Distrikt. Sie werden es sicher finden. Dann fahren wir gemeinsam vor die Metropolitan High, und sie deuten mir die Mädchen heraus, wenn sie aus der Schule kommen."

Entsetzt schüttelte Honda den Kopf. "Das... das ist unmöglich!" stieß er hervor. "Die werden doch in Scharen da herausströmen."

Toritaka lächelte. "Dann stehen wir eben direkt am Ausgang", sagte er, "und warten auf ihre Bekanntschaften. Sie stellen mich denen als ein Geschäftsfreund vor und fragen, wo ich die anderen treffe, die immer mit Masakiri zusammen waren. Den Rest erledige ich dann."

"Meine Güte." Der Steuerberater zog ein Taschentuch aus dem Jackett und tupfte sich die glänzende Stirne ab. "Sie schrecken vor gar nichts zurück, oder?"

"Ich würde es anders ausdrücken", gab der Inspektor zurück. "Ich habe kein großes Mitleid mit Leuten, die sich moralisch anstößig verhalten, aber trotzdem erwarten, gesellschaftlich akzeptiert zu bleiben. Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht, Honda-san, und ich komme ihnen schon sehr entgegen, indem ich auf eine Strafanzeige verzichte. Wenn ich mit diesem Fall hier fertig bin, werden sie sich von Schulmädchen fernhalten müssen, das ist wahr. Aber niemand wird von ihrem Lolikon erfahren. Es ist fast eine Schande, dass ich sie so billig davonkommen lasse."

Niedergeschlagen ließ Honda die Schultern hängen. "Einverstanden, Inspektor-san", murmelte er. "Ich werde morgen da sein. Könnten... könnten sie jetzt bitte gehen? In einer Viertelstunde habe ich meinen ersten Termin..."

Toritaka nickte. "In Ordnung", sagte er, zog noch eine seiner Visitenkarten hervor und warf sie auf den Tisch des Steuerberaters. "Sollte etwas dazwischenkommen, was ich nicht hoffen will - rufen sie mich an." Dann wandte er sich um und ging. Er verabschiedete sich nicht, und auch von Honda kam kein weiteres Wort mehr.


Als der Inspektor wieder in sein Auto gestiegen war, war seine erste Handlung ein Funkruf an die Zentrale mit der Bitte an Assistenzinspektor Kakiden, sich baldmöglichst bei ihm zu melden. Er hatte einen neuen Auftrag für ihn - die Überwachung von Honda-san. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Steuerberater irgendwelche Dummheiten versuchte, aber besser, man ging kein Risiko ein. Einen Toten gab es schon, möglicherweise durch Selbstmord, und ein zweiter wäre in dieser Lage jetzt äußerst unpraktisch gewesen. Sicher, Honda wirkte nicht wie ein Mann, der sein Leben wegen einer solchen Sache wegwerfen würde, aber auch Masakiri hatte nicht so gewirkt.

Zu Toritakas Ärger gab es bis zu seiner Ankunft im Präsidium keine Rückmeldung über Funk von Kakiden, und das, obwohl die Zentrale ihm bestätigt hatte, den Assistenzinspektor erreicht zu haben. Kam jetzt etwa die alte "Lockerheit" wieder in ihm durch? Ärgerlich. Die Belehrung am Vormittag war doch deutlich genug gewesen...


Der Inspektor fuhr aus der Garage mit dem Aufzug nach oben in sein Stockwerk und wollte eben in sein Büro gehen, als ihn am Eingangsschreibtisch von Dezernat 6 die dort sitzende Beamtin aufhielt. "Einen Moment, Toritaka-san", bat sie, "Asashi-sama hat nach ihnen gefragt. Sie sollen in sein Büro kommen, sobald sie wieder hier sind."

Erstaunt zog Toritaka die Augenbrauen hoch - Superintendent Asashi rief ihn eigentlich nie zu sich ins Büro. Es war auch nicht nötig, da Toritaka ohnehin fast täglich dort vorbeisah, Berichte abgab und sich neue Anweisungen holte. "Bin schon unterwegs", sagte er zur Beamtin und marschierte geradeaus durch den Gang durch, an dessen Ende das Büro des Dezernatsleiters war. Anklopfen würde nicht nötig sein; man erwartete ihn ja.


Als der Inspektor eintrat, legte Asashi soeben den Hörer seines Telefons auf - die Beamtin musste ihn eben über Toritakas Ankunft in Kenntnis gesetzt haben. Seine Miene verriet nichts gutes, als er sich erhob. "Setzen sie sich bitte, Shingo-san", bat er, "wir müssen reden."

Toritaka nahm Platz. "Das klingt ernst, Asashi-san", gab er zurück. "Habe ich Probleme für sie verursacht?"

"Das kann man wohl sagen." Der Superintendent lehnte sich in seinem Sessel zurück. "Raten sie mal, wer mich heute gegen dreizehn Uhr angerufen hat."

"Ich habe keine...".

"Superintendent Shirage vom Dezernat fünf", sagte Asashi. "Und er war sehr ungehalten. Können sie sich vorstellen, warum?"

Der Inspektor zog die Lippen zusammen. "Nein, das kann ich mir nicht vorstellen", sagte er.

Leise seufzte Asashi. "Kakiden-san", sagte er dann. "Sie haben ihn heute vormittag in die Forensik geschickt, nicht wahr?"

"Das ist richtig", bestätigte Toritaka. "Ich benötigte Informationen über..."

"Sie haben ihm offensichtlich den Auftrag gegeben", unterbrach der Superintendent ihn, "die Leute dort nach allen Regeln der Kunst zu belästigen. Darf ich erfahren, was sie auf diese ungeheuerliche Idee gebracht hat?"

Toritaka öffnete den Mund, schloss ihn aber sogleich wieder. Kakiden musste ihn bloßgestellt haben, und es wäre nicht hilfreich gewesen, die Wahrheit zu leugnen. "Es war dringlich", erklärte er schließlich nach einem kurzen Moment des Überlegens. "Sie kennen meine Theorie zu Masakiris Tod, und ich wollte nicht, dass der Fall durch Nachlässigkeiten im Dezernat fünf verschleppt wird."


"Damit haben sie sich und mir keinen Gefallen getan", grollte Asashi. "Dezernat fünf hat Kakiden aus dem Labor werfen lassen, und ich habe zusagen müssen, dass sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und ich denke mal, sie werden auch nicht den besten Ruf dort bekommen, wenn man erfährt, dass die Anweisung von ihnen kam. Wie sieht es aus, werden sie zu Kakiden stehen und sein Verhalten rechtfertigen?"

"Das werde ich nicht", sagte Toritaka knapp. "Er hat mich mit seinem vorlauten und unbedachten Verhalten in Schwierigkeiten gebracht. Ein guter Assistenzinspektor hätte die Schuld alleine auf sich genommen. Meinen Rückhalt hat er nicht mehr."

Der Superintendent nickte. "Wie sie meinen", sagte er. "Dann erwarte ich, dass sie noch heute eine Entschuldigung an Dezernat fünf aufsetzen, so einen unqualifizierten Mann zu ihnen geschickt zu haben, sich deutlich von ihm distanzieren und dann offiziell um einen neuen Assistenzinspektor bitten."

Verwirrt blickte der Inspektor seinen Vorgesetzten an. "Einen neuen Assistenzinspektor?" wollte er wissen. "Ich wusste nicht, dass es in unserer Abteilung noch Beamte gibt, die für einen solchen Posten zur Verfügung stehen. Die nächsten Beförderungen stehen doch erst zum Herbst an."

"Richtig." Asashi nickte langsam. "Und bis zum Herbst werden sie ihrem Posten alleine besetzen müssen, Shingo-san."

"Alleine?! Aber..."

"Keine Widerrede! Sie haben mir schon genug Ärger eingehandelt. Ich schätze sie als einen unserer besten Ermittler, aber ihre exzentrischen... Einfälle müssen langsam aufhören. Sie scheinen kein großes Interesse an Teamarbeit zu haben. Vielleicht tut ihnen ein halbes Jahr alleine im Dienst ja gut."


Toritaka seufzte leise. "Wie sie wünschen, Asashi-san", gab er nach. "Es tut mir leid, dass ich Schwierigkeiten verursacht habe. Ich werde mich bemühen, in Zukunft nicht mehr aufzufallen."

Mit einem sanften Nicken nahm der Superintendent die Entschuldigung an. "Ich weiß, sie werden ihr bestes tun, Shingo-san", sagte er. "Glauben sie mir, dass ich sie nicht gerne bestrafe, aber wir dürfen zwischen den Dezernaten keinen Streit aufkommen lassen. Kakiden-san werde ich vorläufig vom Dienst suspendieren und dann versuchen, ob ich in ihn in Dezernat vier unterbringen kann. Vielleicht treibt man ihm da die Aufsässigkeit aus."

"Danke", murmelte der Inspektor und stand langsam auf. "Darf ich dann gehen?"

"Gerne", stimmte Asashi zu. "Und halten sie mich über ihre Ermittlungen auf dem Laufenden. Ich hoffe, sie kommen auch ohne Kakiden-san gut voran?"

"Ich versuche es", gab Toritaka zurück, verabschiedete sich und ging reichlich geknickt zurück in sein Büro. Es war nicht das erste Mal, dass es mit einem Mitarbeiter Probleme gab... Katsuhara, sein letzter Partner, hatte ihn wegen seines rücksichtslosen Umgangs in Politikerkreisen fallengelassen und sich entsetzt ein neues Dezernat gesucht, ehe jemand noch ihn mit der ganzen Affäre in Verbindung bringen konnte. Neu war allerdings, dass Asashi nicht mehr hundertprozentig hinter ihm stand. Ob von irgendwoher Druck auf ihn ausgeübt wurde?


Leider konnte sich der Inspektor jetzt nicht mehr um diese Angelegenheit kümmern, denn er hatte nun einiges an Verwaltungsarbeit zu erledigen. Asashi wollte einen Ermittlungsbericht, das Entschuldigungsschreiben an Dezernat 5 stand an, und dann galt es noch, eine elegante Formulierung zu finden, mit der er Kakiden loswerden konnte. Eigentlich war es schade um ihn - der Assistenzinspektor war vielleicht etwas träge gewesen, und dass er gleich mit allem herausgeplatzt war, sprach auch nicht gerade für ihn, aber darüber hinaus war er eigentlich eine angenehme Gesellschaft gewesen - ruhig, nicht übermäßig unselbständig und vor allem körperlich fit. Alleine würde Toritaka in allen Dingen etwas langsamer vorankommen und würde keine Risiken mehr eingehen können.

Alles in allem war er aber noch gut davongekommen, dachte er. Es gab keinen Eintrag in seine Personalakte, über die Umstände mit Dezernat 5 wurde Stillschweigen bewahrt, auf ihn fiel kein Makel zurück, und dass er vorerst ohne Partner war, konnte man ihm nicht anlasten - es gab nun mal im Moment niemanden, der geeignet gewesen wäre. Doch, Toritaka konnte zufrieden sein; es hätte wirklich schlimmer kommen können.


Leider irrte er sich. Es kam schlimmer.

Am nächsten Tag war Honda Tadenori tot.

Die Tugend von Tokyo

Подняться наверх