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2.

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Plötzlich spürte das kleine Mädchen in der Brust jene unendliche Härte, die immer nahe daran ist, sich in Wasser zu verwandeln. Doch man hält sie im Zaum, solange andere in der Nähe sind und es sehen. Man verbirgt die Veränderung, bis man allein ist und keiner sehen kann, wie man blind wird in seiner eigenen Tiefe und sich weit entfernt von sich selbst und anderen. Man lauscht und späht gleichzeitig herum. Eben deswegen saß sie während der ganzen Fahrt schweigend da und sammelte das, was sie später verdauen und sich im stillen von der Seele weinen wollte, und es schien ihr, als sei sie in einem Käfig auf Rädern unterwegs.

Ein Fahrgast, der vor der Kleinen saß, begann, lauthals vom Land, von der Sonne und von der Erde zu singen, während sie ihre Limonade trank. Sie sah mit eigenen Augen und hörte plötzlich mit den Ohren, was bisher nur in Gedichten und Geschichten existiert hatte, die sie in den Schulbüchern gelesen hatte. Sie war jetzt in der Gegend, von der die Gedichte handelten. Das, was sie sah, machte keinen schlechten Eindruck, wenn man durch das Fenster schaute, während gesungen wurde; hätte sie nur nie ans Ziel kommen und an einem fremden Ort etwas damit zu tun haben müssen.

Über sie legte sich eine dunkle Rauchwolke von dem feuerspeienden Berg, der unvermutet aus Kummer im Innern des Menschen ausbricht, der zum ersten Mal von zu Hause fortgeht. Und für den Rest der Fahrt lag sie unter dieser dunklen Wolke.

Der Omnibus hielt an, der Fahrer wandte sich um, sah sie gleichgültig an und sagte:

Hier mußt du aussteigen. Man ist schon da, um dich abzuholen.

Daraufhin schaute sie hinaus und sah zum ersten Mal den Bauern. Er wartete allein auf der Straße, und nirgends war ein Haus zu sehen, nur der Fahrweg hinter ihm, der zwischen zwei ziemlich flachen Hügeln verschwand.

Sobald sie aus dem Omnibus ausstieg, steif in den Beinen, konnte sie die Vögel hören, und irgendwie auch die langsam wachsenden Pflanzen. Ein Leben, das sie noch nie gehört hatte, tönte überall aus der Ferne der Gewässer und des begrünten Landes. Es schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen, aus der Erde herauf und vom Himmel herab. Zwei verschiedene Klänge verschmolzen in ihren Ohren. Es war ganz anders als dann, wenn sie den Himmel und die Brandung auf den Klippen hörte. Jener Klang hatte mit Getöse alles übertönt, und gleichzeitig verstummte das Land. Das Meeresrauschen war so, wie es war, und der Strand war still in seinem Schweigen.

Der Fahrer war vor ihr hinausgesprungen und hatte eilends ihren Koffer aus der Gepäckluke gezerrt und an den Straßenrand gestellt. Alles, was er tat, geschah ruckartig. Er warf den Koffer dem Bauern vor die Füße. Noch bevor die Kleine guten Tag sagte, schaute sie ihm in die Augen, denn ihre Mutter hatte ihr das eingeschärft und gesagt:

Schau ihm gleich ins Gesicht, bevor du guten Tag sagst. Du hast keine Diebsaugen.

Der Koffer, hier, sagte der Fahrer, sprang schnell wieder in den Omnibus und fuhr ruckartig davon.

Der Bauer trug seine Arbeitskleidung. Das war ein blauer Drillichanzug, und die Jacke war viel verschossener als die Hose. Ihr Rücken war schon fast weiß. Die Sonne hatte die Farbe ausgebleicht, während er sich bei der Arbeit bückte. Jetzt fragte er:

Kannst du deinen Koffer selber heben?

Ja, antwortete sie. Aber nicht sehr weit tragen.

Sie hatten vergessen, sich richtig mit Handschlag zu begrüßen, oder taten es irgendwie flüchtig, indem sie beide gleichzeitig den Handgriff des Koffers berührten.

Du bist stark, sagte er und holte eine Schnur aus der Tasche und band sie um den Koffer, obwohl der ein stabiles Schloß hatte. Dann nahm er ihn mühelos und mit Schwung auf den Rücken und zog ihn noch weiter auf die Schultern hinauf.

Ach, er ist nicht schwer, sagte er und lächelte, als freue er sich darüber, eine Last auf dem Rücken tragen zu dürfen.

Der Koffer war nicht schwer, trotzdem sah der Bauer immer vor sich auf die Erde. Während er ging, war es, als ob er jeden seiner Schritte mitverfolgte, sorgfältig beobachtete, wie er einen Fuß vor den anderen setzte, damit er auf dem ebenen Weg nicht stolperte. Er stellte sich nicht vor, war aber offensichtlich der Bauer auf dem Hof.

Geh mir nach, sagte er. Es ist nicht weit bis zum Haus und nichts fürs Auto. Wir gehen einfach zu Fuß.

Sie ging nicht hinter ihm, sondern ein klein wenig voraus, ein bißchen seitwärts von ihm, und wandte sich manchmal um. Da feuchtete er gerade mit der Zunge seine Lippen an, er feuchtete oft seine trockenen Lippen an, doch er schwieg und wurde nicht langsamer. In der Senke zwischen den Hügeln sah sie, daß der Hof nicht weit entfernt vor ihnen lag, an einem flachen Hang oder auf einer Anhöhe, und auf einmal herrschte um sie herum Totenstille. Der gleichmäßige, schwerfällige und unbeirrte Schritt des Bauern auf dem Weg verstärkte die Stille. Auch der Sonnenschein wurde stärker, und das Licht flutete durch das Schweigen. Als sie zwischen den Hügeln auf die Ebene hinauskamen, glaubte die Kleine, sie müsse in der Weite ersticken. Sie bekam Angst. Die Natur war so schrecklich groß, und sie selbst ganz winzig. Und sie wagte kaum, sich zu bewegen, obwohl sie frei und ohne Gefährdung durch den Verkehr umherlaufen konnte. Trotzdem lief sie nicht. Sie wußte, daß sie in die Weite hinaus gekommen war, zu anderen, die sie durch Pflichten daran hinderten, sich frei zu bewegen, und sie ließ den Bauern an sich vorbeigehen und ging hinterher.

Es kam ihnen ein Mann auf dem Weg entgegen. Der Bauer blieb stehen und stand gebückt mit dem Koffer auf dem Rücken da, während sie sich unterhielten. Obwohl er sich mit dem Mann unterhielt, war es, als spreche er mit niemandem, mit seinen Zehen oder mit der Erde. Das Mädchen verstand nicht, worüber sie redeten, außer, daß sie von irgendwelchem Vieh sprachen. Der Bauer schwitzte nicht unter der Last, aber er kratzte sich oft am Kinn, indem er es an der Kofferecke rieb, die über die Schulter vorstand. Dabei verzog er das Gesicht.

Sie sah sich um, während die Männer miteinander sprachen. Neben dem Weg war ein ziemlich tiefer Graben, und unten in ihm Wasser mit einer schillernden, bräunlichen Schicht auf der Oberfläche. Die Erde an den Rändern war beinahe rot. Als sie sich genauer umschaute, sah sie, daß die Weite nicht ununterbrochen war, sondern von Gräben durchzogen. Dennoch war es kein Ozean von Mooren und Gewässern, sondern es konnte sich nicht entscheiden, ob es Meer oder Land sein wollte. Es war unsicheres Überschwemmungsland. Nur der Weg war sicher unter ihren Füßen und führte durch die Sümpfe. Als sie länger in alle Richtungen blickte, ging ihr auf, wie bedrohlich die Weite sein konnte, obwohl sie an den Bergen in der Ferne endete. Sie behinderte nicht die Augen und den Blick, doch für die Füße war sie unwegsam.

Bei diesem Gedanken wurde sie von dem Gefühl gepackt, daß sie sich emporhebe oder in schwindelnde Höhen hinaufschwebe und binnen kurzem nach unten stürzen werde, und dann würde die Erde sie verschlingen. Es wurde ihr ein wenig übel und sie streifte sicherheitshalber mit den Schuhsohlen über den Weg, der wie ein schmaler Strich von der Landstraße zu den Höfen der Gegend führte. Da verabschiedeten sich die Bauern gerade, und der eine sagte:

Vielleicht schaust du für mich nach dem Vieh.

Dann fragte er ganz plötzlich:

Ist das das Mädchen, das du bekommst?

Ja, sagte der mit dem Koffer.

Sie gingen ihres Wegs, ohne weitere Worte zu wechseln. Da sprang plötzlich ein Hund aus einem Graben herauf und begleitete die Kleine und den Bauern. Ehe sie sich’s versah, waren überall Hunde. Einer schien sogar unter einem Stein hervorzukriechen. Sie liefen dem Mann mit dem Koffer nach. Der, der aus dem Graben heraufgekommen war, war naß, schmutzig und außer Atem und tat, als gehöre ihm der Bauer, der mit ihm zu sprechen begann und ihn gutmütig zurechtwies. Der Hund ließ die Zunge hängen vor Freude über die Schelte.

Das kleine Mädchen empfand Widerwillen. In Gedanken rümpfte es die Nase über die zottigen Tiere. Und nun fingen die Schafe, die am Weg weideten, an, eines nach dem andern den Kopf zu heben und zu schauen, wie der Bauer an ihnen vorbeispazierte. Er rief ihnen etwas zu, und sie fingen gleich an zu blöken und zu scheißen, und der Hund schüttelte den Kopf vor Freude.

Das sind die gesunden und harmlosen Freuden des Landlebens, dachte sie, doch selbst die scheuen Vögel machten ihr keine Freude. Sie flogen aus den Grashökkern am Wegrand auf, die gelbgrün von dichtem, verdorrtem und sprießendem Gras waren, und erschreckten sie.

Plötzlich streckte der Hund die Schnauze vor in den Wind, der ihm über das Fell strich und es nach hinten kämmte. Er schnupperte in die Weite und schloß die Augen.

Na, sagte der Bauer und feuchtete seine Lippen an.

Das schien der Hund zu verstehen, und er begann, heftig zu bellen. Die Kleine wünschte sich, daß der Weg endlos wäre, daß sie ihn nie verlassen müßte, um in ein Haus hineinzugehen, daß er nirgends endete und ihre Reise nur eine Zeichnung auf einem Block wäre: sie, der Bauer, die Hunde, die Sonne, die Schafe, der Hof und die Gegend darum herum. Wenn es so wäre, würde sie die Zeichnung sofort ausradieren. Aber sie kamen den Häusern immer näher. Schon bald war nichts mehr übrig vom Weg, und eine Frau mit kalter, feuchter Hand begrüßte sie.

Guten Tag, sagte sie. Bist du das neue Mädchen?

Der Bauer stellte den Koffer auf die Erde und sperrte den Mund auf, obwohl er nicht außer Atem war. Das Mädchen glaubte, er würde die Mütze abnehmen und sich am Kopf kratzen, doch er stöhnte nur und bat um Kaffee.

Äh, sagte er und fügte noch einige Laute hinzu.

Warum hast du sie nicht mit dem Auto abgeholt? fragte die Frau und führte das kleine Mädchen in ein Zimmer mit zwei Betten. Sie zeigte auf eines von ihnen und sagte:

Das ist dein Bett.

Der Bauer maß den Koffer mit den Augen und schob ihn dann unter das eine Bett. Die Kleine erschrak. Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, sie war jetzt auf dem Land. Ihre Mutter hatte gesagt, daß dort die Koffer immer unter den Betten aufbewahrt würden, und wenn sie hervorgezogen würden, seien Staubflocken darauf vom Unterbett. »So war das, als ich auf dem Land arbeitete, und es ist sicher immer noch so. Auf dem Land ändert sich so etwas nie.«

Der Nachmittag verging ganz langsam, und die Kleine saß meist auf dem Bett. Sie versuchte, leise zu atmen, um die Stille nicht zu verscheuchen. Der Bauer und die Frau schienen gestorben zu sein. Sie regten sich nicht. Die Zeit verging, ohne daß irgendein Lebenszeichen zu hören war. Sie schlich vorsichtig zum Fenster und sah, daß der Hund schlief und die Schnauze auf eine seiner Pfoten gelegt hatte. Die Zeit verging so langsam, daß sie stillzustehen schien. Das Mädchen sah auf der Uhr, daß die Zeit verging, und die Sonne wanderte an den Fenstern auf zwei Seiten des Hauses vorbei. Es kam kein richtiger Abend, aber trotzdem war er da. Da erschien plötzlich die Frau und fragte erstaunt:

Sitzt du hier und gehst nicht hinaus? Du hast doch frei heute.

Die Kleine seufzte, froh darüber, vom Bett aufstehen und sich ungehindert bewegen zu können.

Nach dem Abendessen wurde der Abend zu einem riesengroßen, feuerroten Rachen am westlichen Himmel. Die Kleine schlenderte in der Abenddämmerung um den Hof herum, wie eine appetitlose Zunge, die keine Lust hatte, die Umgebung zu schmecken. Die Frau sah sie forschend an, als sie entdeckte, daß sie wieder auf dem Bett saß.

Du darfst nicht an der Bettdecke kleben bleiben, dann bist du keine große Hilfe bei der Arbeit, und ich versohle dir den Hintern, sagte sie zum Spaß.

Die Kleine blickte zum Fenster. Sie sah die Abendstille draußen und hörte, daß sich das Motorengeräusch eines Autos entfernte. Der Mann und die Frau fuhren irgendwohin und ließen sie allein zurück. Sie dachte, ohne zu denken: Diese Umgebung kann mir gestohlen bleiben.

Dann fing sie an, sich auszuziehen, und schwebte im Halbschlaf eine Zeitlang in der Luft. Als sie von dem Flug zurückkehrte, bevor sie einschlief, beschloß sie, vom Haus daheim zu träumen. Sie nahm sich vor, in Zukunft im Schlaf in der Nacht dort zu bleiben, auch wenn sie im Wachen am Tag arbeiten mußte, vielleicht ihr ganzes Leben lang.

Doch sie träumte etwas ganz anderes, als das, was sie sich vorgenommen hatte. Durch die Tür eines großen Hauses, das voller Garnrollen war, wälzte sich ein komisches Gefäß herein, nachdem sich etwas Unverständliches ereignet hatte, als sie einen Mann traf, den sie noch nie gesehen hatte. Dann geschah nichts mehr im Schlaf in dieser Nacht.

Der Schwan

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