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Der Sternenhimmel im Leben der Menschen – Was eigentlich ist Kulturastronomie? Einführende Bemerkungen zum Thema

Michael A. Rappenglück (Gilching)

Abstract

Sky and heaven have been present in people’s lives least since time immemorial. In the course of many millennia, the importance of phenomena and processes in the sky for the rhythm of life, way of life, orientation and spirituality (sky then changes into heaven) of the individual and society grew. The archaic and ancient beliefs were essentially based on the unity of the network of forces in the world with which they were basically connected. Heaven was important, but still only one aspect of the respective world, which at least contained earth and the underworld or was divided into many different cosmic spheres in between. The respective view of the cosmos interacted with the way people lived in the associated ecosphere. The archaic and ancient cosmologies were ecomorphic, i.e. modelled on the living world. It is therefore more appropriate to describe the discipline not as archaeoastronomy or cultural astronomy, but as cultural cosmology as a generic term for various sub-disciplines. The scope and methodology of such a science can be determined from the discussions on content and methodology, which takes up previous approaches from archaeoastronomy to cultural astronomy and integrates them with a transdisciplinary methodology. It is necessary to distinguish the research area from non-science, fringe science, pseudoscience. Cultural cosmology deals with the self-understanding of a culture in its world (cosmos). This definition also allows to include in cultural cosmology the continuous cosmic changes of perspective – geocentrism, heliocentrism, galactocentrism … multiverse, or from the singularity of the position of the Earth and man in the cosmos to the plurality of worlds – which started with the Modern Age (15th/16th century). Focussing on the ‘blue planet’ as the only ecosphere and home of mankind so far, the advance of space travel into interplanetary space and at the same time an extreme widening of the view into the diversity of the structures of the cosmos, the topic of a cultural cosmology is forming anew: How do man – earth – cosmos belong together?

Zusammenfassung

Ortungskunde, Archäoastronomie, Astroarchäologie, Paläoastronomie, Ethnoastronomie, … Seit ihren Anfängen im 16./17. Jahrhundert hat sich die heute zumeist unter dem Begriff „Archäoastronomie“ bekannte und sehr populär gewordene Disziplin in verschiedenste Fachrichtungen entwickelt. In der Anfangszeit ging es wesentlich darum, Ausrichtungen von Baudenkmälern und Grabstätten auf eine etwaige astronomische Ausrichtung hin zu untersuchen. Die Forschung wurde auf die Grundlage von archäologischen Befunden gestützt. Später zeigte sich, dass Kulturen mit mündlicher Überlieferung, entweder aktuell dokumentiert oder historisch schriftlich tradiert, reichhaltiges Wissen über den Sternenhimmel und seine Erscheinungen besitzen. Ebenso konnten alte Instrumentarien und Techniken, mit denen man zum jeweiligen Wissen kam, studiert werden. Es wird deutlich, dass seit dem Paläolithikum archaische und vor-neuzeitliche Himmelsbilder und Kosmovisionen weltweit eine bedeutsame Rolle im Leben des Menschen spielen. Diese beantworteten grundlegende menschliche Fragen nach dem Warum und Wozu von Mensch und Welt. Im Blick zum Firmament fanden die alten Kulturen irdische Strukturen und Vorgänge wie in einem Spiegel reflektiert. Aber der Himmel wurde auch in erdgebundenen Relikten greifbar: in Boden- und Baudenkmälern, auf Gegenständen, Kleidung, in Mythen und Ritualen, sogar in Spielen. Himmelsphänomene besaßen gemischt religiöse, soziale, politische, ökonomische, ökologische und künstlerische Aspekte. „Vom Himmel“ kam auch Lebenshilfe (Kosmopraxis), z.B. Orientierung, Navigation, Zeitrechnung, Zukunftsdeutung, Lebensregeln, politische Herrschaftsmodelle. Heute wird immer offensichtlicher, dass die Thematik nicht alleine in archaischen Fassungen der Astronomie sich erschöpft, sondern weitaus mehr mit kosmografischen und kosmopraktischen Modellen der Einbettung und Beziehung des Menschen in der Welt/dem Weltall gefasst werden muss. Es geht also um Kulturastronomie, als einer interdisziplinärer und integralen Wissenschaft, die Himmelsbeobachtung, Kosmografien und Kosmopraxis archaischer, historischer und heutiger Kulturen erforscht und rekonstruiert. Sie enthält als Teilgebiete: Archäoastronomie – das Studium der menschlichen Beschäftigung mit den Himmelserscheinungen und ihre Beziehung zum Leben in urgeschichtlichen Kulturen. Die Forschung basiert hauptsächlich auf archäologischen Daten; Ethnoastronomie – die Erforschung von Himmelsbeobachtung und Kosmovisionen in rezenten und zeitgenössischen Kulturen mit Bezug zur Anthropologie; Historische Astronomie – Die Verwendung alter astronomischer Aufzeichnungen zur Lösung astronomischer Probleme; Geschichte der Astronomie – das Studium historischer Aufzeichnungen, um altes wissenschaftlich basiertes astronomisches Wissen in Praxis und Theorie zu rekonstruieren; Geschichte der Astrologie – das Studium der geschichtlichen Entwicklung der Beziehungen und Unterschiede von Astrologie und Astronomie; Astronomische Phänomene/Astronomie im Zusammenhang mit Musik, Literatur, Schöne Künste, Politik, Futurologie etc. Die Methodik der Kulturastronomie sollte deshalb multidisziplinär und interdisziplinär, quantitativ und qualitativ ausgerichtet sein. Sie folgt der hermeneutischen Spirale als Prozess der Sicherung integrativen Verständnisses und könnte sich dabei auf das Modell der Kohärenz der Befunde (Wahrheiten, Wahrscheinlichkeiten) stützen.

1.1 Einführung

Die Archäoastronomie als Zweig der Kulturastronomie ist populär, äußerst medienwirksam und vermarktbar und steht auf einer Stufe mit Dinosauriern, prähistorischen Menschen, Naturkatastrophen, schwarzen Löchern und Außerirdischen. Die Faszination gepaart mit einem Höchstmaß an Phantasie, mit wenig oder keinem methodischen Anspruch, führt dazu, dass manche Menschen archäologische Objekte nur aus (heutigen) astronomischen Perspektiven interpretieren. Die „Entdeckungen“, die den Autoren meist überraschend stimmig erscheinen, werden mit Begeisterung in den neuen Medien veröffentlicht. Eine wachsende Zahl solcher Konstrukte, deren Beweise meist fragwürdig und methodisch unbegründet sind, zirkuliert weltweit und vermittelt Laien und Experten ein verzerrtes Bild der Archäoastronomie, ihrer Begründung, Forschungsobjekte, Methoden, Ergebnisse und Grenzen. Der Ausdruck reiner Ideen, ohne sich der zeitaufwendigen Arbeit methodisch fundierter Begründung und wissenschaftlicher Diskussion zu stellen, gilt bereits als „Stand der Erkenntnis“.

Ein treffendes Beispiel für bestimmte Interpretationen, die offensichtlich, schlüssig und sogar zwingend erscheinen, aber bei genauerer Betrachtung tatsächlich schief gehen, gibt Cornelis de Jager in einer kurzen Studie mit dem Titel „Radosophie – oder alles passt so perfekt“ (Jager 1992). Aus den Längenverhältnissen eines niederländischen Standardfahrrades im Verhältnis zum Durchmesser des Pedalweges, des Vorderrades, der Frontlampe und der Glocke, gemessen in ‚heiligen Fahrradzoll‘ von 17mm (Primzahl 1 und 7), lassen sich mit mathematisch einfachen Formeln physikalisch signifikante Konstanten ableiten.


Abbildung 1.2:

Im Feld: Messarbeiten an Steinsetzungen in Schottland

© Michael A. Rappenglück

Es ist daher notwendig, methodische Fragen der bisher unter den Namen Archäoastronomie oder Kulturastronomie bekannten Wissenschaft zu diskutieren und das Problem der Abgrenzung zwischen Nicht-Wissenschaft, Randwissenschaft und etablierter Wissenschaft herauszuarbeiten. Ich habe dies in einer früheren Arbeit mit Beispielen aus der Paläoastronomie (Rappenglück, M. A. 2013a, S. 84–85) und zur Nebra-Scheibe (Rappenglück, M. A. 2016b) begonnen. Die vorliegende Studie vertieft die Diskussion der früheren Arbeit mit drei Zielen: der Herausarbeitung des inhaltlichen Rahmens, der Etablierung einer geeigneten multidisziplinären, inter- und transdisziplinären Methodik und die Prägung eines Wissenschaftsbegriffs, der dem gesamten Forschungsgebiet gerecht wird: kulturelle Kosmologie.

1.2 Von der Astro-Archäologie zur Kulturellen Kosmologie

Ein Blick auf die Entwicklung der Archäoastronomie bis hin zur Kulturellen Kosmologie trägt zu einem tieferen Selbstverständnis dieses Forschungsgebietes und seiner Beziehung zu anderen Wissenschaften, insbesondere der Archäologie, bei. Seit dem 18. und 19. Jahrhundert versuchten einige Autoren zu beweisen, dass archäologische Relikte mit einer urzeitlichen „Astronomie“ in der Vor- und Frühgeschichte in Verbindung stehen (Bolten 1781–1782, S. 249, Fussnote; Büsching 1824; Moore 1835, S. 24-49, 80–83; Preusker 1841, S. 15, 1844, S. 173– 176; Clostermeier 1848, S. 1–2; Nissen 1873, 1878, 1885a, 1885b, 1906; Lockyer 1894, 1909; Gaillard 1897; Johnson 1912, S. 225; Baudouin 1916a, 1916b, 1917, 1919, 1921, 1923; Hawkins 1963; Michell 1977; Rappenglück, M. A. 1999, S. 15– 16, 291; Hoskin 2001, S. 7).

Die ersten Ansätze einer wissenschaftlichen Aufarbeitung führten zum Konzept der Astro-Archäologie (Michell 1977). Gegenstand der Archäoastronomie ist die Untersuchung der menschlichen Beschäftigung mit Himmelserscheinungen und deren Beziehung zum Leben in prähistorischen Kulturen. Die Forschung basiert hauptsächlich auf archäologischen Daten. Im 18. und 19. Jahrhunderts haben sich andere Autoren (Bailly 1775, 1787; Schlegel 1875b, 1875a, 1875c; Dupuis 1781, 1797, 1822, 1835-1836; Barrett 1800; Ideler 1809, 1825, 1826; Monck Mason 1818; Martin 1864; Burgess 1866; Lenormant 1868; Williams 1871; Schwartz 1872, 1874, 1879, 1881, 1888; Mannhardt 1875a, 1875b; Bilfinger 1886; Lethaby 1892; Seltman 1899; Brown 1899–1900; Hurt 1900) daran gemacht, die verschiedenen Formen der Astronomie, wie sie in den Kulturen weltweit mündlich und schriftlich überliefert sind, zu untersuchen.

Diese Forschungsrichtung entwickelte sich zur Ethnoastronomie. Sie untersucht Himmelsbeobachtungen und Kosmologien in neueren und zeitgenössischen Kulturen mit Bezug auf die Anthropologie. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wurden Ansätze der Archäoastronomie, Ethnoastronomie und der Astronomiegeschichte alter Kulturen mit verschiedenen thematischen Ausgangspunkten intensiv weiter betrieben. Die Literatur dazu ist bereits zu umfangreich, um einzeln zitiert zu werden. Dies soll in einer zukünftigen ausführlichen Arbeit zur Forschungs- und Rezeptionsgeschichte geschehen. Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten wird die Archäoastronomie und Ethnoastronomie im deutschsprachigen Bereich ideologisch instrumentalisiert (Teudt 1929–1936; Wirth 1934, 1936; Reuter 1934; Huth 1936; Müller 1936a, 1936b). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Archäoastronomie auf Vermessungstechniken gestützt vor allem durch britische Forscher (neu) begründet (Thom 1955; Hawkins 1963) und dann zusammen mit der sich ebenfalls neu formierenden Ethnoastronomie weltweit betreiben. Einen gewissen Überblick zu Inhalten, Richtungen, Methoden und zur Literatur findet man z. B. im Handbook of Archaeoastronomy and Ethnoastronomy (Ruggles 2015), in den E. C. Krupps Überblicken (Krupp 1999, 1984, 2012). Ein kurze Übersicht über die Entwicklung des Forschungsgebiets von der Archäoastronomie zur Kulturellen Astronomie gibt Tirapicos (Tirapicos 2019) ohne allerdings die älteren Vorläufer im 17./18. und im 19. Jahrhundert zur Gänze zu zitieren.


Abbildung 1.3:

Stonehenge bei Amesbury, England, UK, (51° 10’ 44” N, 1° 49’ 35” W), 3100–1600/1400 v.Chr. Aufnahme mit Blick zum Heel Stone in der Morgendämmerung

© Michael A. Rappenglück

Die Historische Astronomie verwendet alte schriftliche astronomische Aufzeichnungen, um astronomische Probleme zu lösen. Die Geschichte der Astronomie ist historischen Aufzeichnungen gewidmet, um alte wissenschaftliche astronomische Erkenntnisse in Praxis und Theorie zu rekonstruieren. Sie beginnt teilweise schon mit antiken Naturphilosophen und Astronomen, die als Basis ihrer eigenen Studien die Überlieferung der Vorgänger zusammenstellen, z. B. Aristoteles von Stageira (384–322 v. Chr.) in Περὶ οὐρανού (De Caelo) – Über den Himmel (Jori, Grumach & Flashar 2009) oder in Diogenes Laertios’ (3. Jh. n.Chr.) Diogenis Laertii vitae philosophorum (Marcovich & Gärtner 1999, 2002; Apelt & Reich 2015). Die Geschichte der Astrologie untersucht die historische Entwicklung der Beziehungen und Unterschiede zwischen Astrologie und Astronomie. Weitere Forschungsschwerpunkte sind astronomische Phänomene, Prozesse und Modelle im Zusammenhang mit Musik, Literatur, bildender Kunst, Politik, Zukunftsforschung usw.: Dies führte im 21. Jahrhundert zum Konzept der Kulturastronomie, womit ein Oberbegriff für alle alten und möglichen neuen Forschungsgebiete geschaffen werden sollte.

1.3 Wie kann das Themenspektrum und die Methodik der Kulturastronomie bestimmt werden?

In ihrer noch jungen Geschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, das Themen- und Methodenspektrum der Archäoastronomie zu definieren (Pedersen 1982; Aveni 1986; Ruggles 1993b; McCluskey 2004; Sinclair 2005; McCluskey 2005; Aveni 2014). Übersichten geben Auskunft über Inhalte und wissenschaftliche Standards des Faches (Baity et al. 1973; Ruggles 1993a; Schlosser & Cierny 1996; Ruggles 2005; McCluskey 2004; Gummerman & Warburton 2005; McCluskey 2005; Ruggles 2011; Aveni 2014; Ruggles 2015; Magli 2016). Die Antwort auf diese Frage ist seit mehreren Jahrzehnten dringend und auch heute noch offen. Von besonderer Bedeutung war und ist die Diskussion und Kritik an den angewandten Methoden (Aveni 1981; Bialas 1986, 1988, 1989; Aveni 2006; Sims 2007, 2016; Ruggles 2011; Rohde 2012; Antonello 2013; González García 2013; Rappenglück, B. 2013; Rappenglück 2013a). Es wurde auch zwischen der grünen und der braunen Archäoastronomie unterschieden (Aveni 1989, S. 1). Während sich die erstere hauptsächlich mit Alignments befasst und statistische Methoden verwendet, ist die letztere eher kulturanthropologisch begründet. Wie kann man methodisch vernünftig und hinreichend genau vorgehen, um auf diesem Gebiet wissenschaftlich zu forschen und sich nicht immer „in den gleichen Kreisen zu bewegen“ (Ruggles 2011)?

Wichtige Arbeiten zur Kulturastronomie und zur Positionierung der Archäoastronomie als Forschungsdisziplin wurden im Laufe der Jahre von Stanislaw Iwaniszewski veröffentlicht (Iwaniszewski 1991, 1995, 2001, 2003, 2007, 2010). Aber ist der Begriff Kulturastronomie überhaupt angemessen, um die Forschungsobjekte zu beschreiben? Die vorliegende Studie prägt einen neuen Begriff – Kulturelle Kosmologie – und schlägt eine multidisziplinäre, inter- und transdisziplinäre Integrale Methodik vor (Rappenglück 1999, 2013a). Ungenügende, wissenschaftliche, aber auch pseudowissenschaftliche und unwissenschaftliche Ansätze habe ich an anderer Stelle anhand von Fallbeispielen aus dem Paläolithikum und aus der Bronzezeit diskutiert (Rappenglück, M. A. 2013a, 2016b). Später werde ich in dieser Studie einige fragwürdige Beispiele nochmals knapp gefasst vorstellen: An ihnen kann man erkennen, dass dieselben oder ähnliche methodische Probleme auch bei Untersuchungen an Funden aus anderen Epochen bestehen.

1.3.1 Worum geht es? Menschliche Ökosysteme und (archaische) Weltmodelle

Das Themenspektrum der Archäoastronomie/Kulturastronomie rund um den Globus sowie bezogen auf alle Epochen seit dem Paläolithikum ist sehr umfangreich geworden (Baity et al. 1973; Kelley & Milone 2011; Selin 2012; Ruggles 2015). Die Literatur dazu wuchs außerordentlich an (Kelley and Milone 2011; Ruggles 2015). Heute wird zudem immer offensichtlicher, dass die Thematik nicht alleine in archaischen Fassungen der Astronomie sich erschöpft, sondern weitaus mehr mit kosmologischen und kosmopraktischen Modellen der Einbettung der Menschen in die Welt und die Beziehungen zur ihr gefasst werden muss (Rappenglück, M. A. 2009, 2013b, 2014b, 2018a, 2018b, 2019b, 2020, 2014a; Ruggles 2015; Ruggles 2011; Rappenglück, M. A. et al. 2016d). Es geht also eigentlich um eine Kulturelle Kosmologie, als einer multidisziplinären, interdisziplinärer, transdisziplinären Wissenschaft, die genuine Himmelsbeobachtung, aber wesentlich auch Kosmovisionen, Kosmogonien, und Kosmopraxis (in Architektur, Chronologie, Orientierung und Navigation, Ökologie, Ökonomie, Politik, Soziologie, Religionen etc.) archaischer und historischer oder auch rezenter Kulturen erforscht und rekonstruiert.

Zu den grundlegenden Bedingungen der menschlichen Existenz gehört es, sich in Lebensräumen einzurichten – zu wohnen – oder an außergewöhnlichen Orten besondere (spirituelle) Seinserfahrungen zu machen (Rappenglück, M. A. 2014b). Die Struktur, Anordnung und Gewichtung von Lebensräumen, ihre Einordnung und Einbettung in die grundlegenden Ordnungen von Raum und Zeit sind Tätigkeiten, die die Menschen seit dem Paläolithikum beschäftigt haben. Die menschlichen Aktivitäten dafür kommen symbolisch, mythisch und rituell in Objekten, Gebäuden und Landschaften sinnlich-symbolisch zum Ausdruck. In ihnen wird die Wahrnehmung von Ordnungen in Raum und Zeit sowie der Umgang mit ihnen (Gefühl, Nachdenken) angesprochen. Auch die Erweiterung und Transformation der ‚normalen‘ Lebenswelt an den ‚Nahtstellen‘ – Geburt, Tod, jenseitige Existenz, Ekstase – zu anderen gespürten Erfahrungsbereichen, verbunden mit den existentiellen menschlichen Fragen nach dem Warum und Wozu der Welt und der Stellung des Menschen in ihr, werden thematisiert. Archaische Kosmologien (inklusive Kosmogonien) können als ganzheitliche, vielschichtige Modelle sich entwickelnder menschlicher Ökosysteme verstanden werden können, die in symbolisch-mythisch-ritueller Ausdruck helfen, die Welt lebenswert zu machen, aber auch spirituell zu transzendieren. Aus ihnen werden zudem Systeme der sozialen, politischen und religiösen Differenzierung sowie Ordnung, insbesondere Rangordnung abgeleitet. Sie dienen zur Autorisierung und Legitimation von Machtstrukturen. Machtgewinn und Machterhalt werden durch Raum- und Zeitkontrolle (kosmischer Kräfte) erreicht, die durch astronomische Kenntnisse und Messverfahren gesichert werden. Kosmologien und Herrschaftsformen korrelieren: Zentrierte Weltbilder, z. B. Geo- oder Heliozentrik gehen mit monarchischen Staatsformen zusammen, polyzentrische Kosmologien mit demokratischen Formen der Beherrschung.

Der Begriff Ökosystem bezieht sich auf eine natürliche Struktur, die sich als ein interagierendes System entwickelt, das aus verschiedenen lebenden Organismen (Biozönosen, biotische Faktoren) und den verschiedenen Teilen der Umwelt, in der dieses System existiert (Biotope, abiotische Faktoren, Physiotope), besteht (Rappenglück, M. A. 2014b, S. 237–241). Zu den Ökosystemen, die vom Menschen beeinflusst werden, gehören die komplexen Beziehungen, die der Mensch mit der Natur als Teil des Reiches der Lebewesen hat. Der Begriff Kosmologie bezieht sich auf eine allgemeine Wahrnehmung der Welt einschließlich ihrer Struktur, ihres Ursprungs und ihrer Entwicklung (‚Kosmogonie‘) und der Beziehung zum menschlichen Leben innerhalb eines bestimmten Ökosystems, wie es von den Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe geteilt und repräsentiert wird. Auch heute noch sind bestimmte archaische Visionen des Kosmos präsent und spielen im Alltag der Landbevölkerung und damit auch in der Arbeit der Entwicklungshilfe eine wichtige Rolle. Archaische Kulturen versuchten, das menschliche Leben mit diesem grundlegenden Ökosystem zu synchronisieren. Diese besondere Art, sich auf die zeitlich-räumliche Struktur des Kosmos zu beziehen, kann als lebendige Kosmovision bezeichnet werden. Häufig ist diese Vorstellung mit den Begriffen der ‚lebenden‘ Astronomie, Geographie, Meteorologie oder Biologie verbunden, die ebenfalls miteinander in Beziehung stehen. In diesen archaischen Ansichten ist die Welt eine raum-zeitliche Domäne interagierender Kräfte, die meist als individuelle und kollektive Wesen auftreten.

Indem der Mensch seine Welt durch Kosmologien im wahrsten Sinne des Wortes domestizierte (lat. domus: Haus), etablierte er Systeme, die ihn leiten und orientieren und damit die anthropologisch gegebene exzentrische Position (Plessner 1975; Fischer 2000) in zentriertes Leben verwandeln. Da der Mensch im Wesentlichen eine erneuet ‚Zentrierung‘ benötigt, sind im Laufe der Zeit kognitive und pragmatische Modelle entwickelt worden, die eng mit den jeweiligen Kosmologien verbunden sind. Sie dienten auch dazu, die grundlegenden Fragen der Menschen nach der Struktur der Welt und den Rätseln von Leben und Tod zu beantworten. Die Struktur und das Geflecht der Wechselwirkungen der jeweiligen Ökosphäre werden unter dem Modell der assoziierten Kosmologie zu geordneten und bewohnbaren Lebenswelten. ‚Wilde Natur‘ wird durch den Menschen und für ihn ‚domestiziert‘ und mit Bewertungen und Bedeutungen, mit einer Semantik von ‚Sinnkomplexen‘ versehen: Kulturelle Kosmologie.

Für die archaischen und die alten Kulturen war die Lebenswelt raum-zeitlich organsiert. Sie bildete einen Chronotopos, ein Begriff der im Zusammenhang mit der Thematik der Allgemeinden Relativitätstheorie zunächst auf die Biologie und dann auf die Literaturwissenschaft angewandt wurde, der aber ausgezeichnet die Auffassung archaischer und alter Kulturen wiedergibt (Bachtin et al. 2008; Günzel 2010, S. 294–304; Frank 2015). Das kosmologische Modell ‚verortete‘ den Menschen in der (Lebens)Welt. Es lieferte zudem ein ‚Gehäuse‘, in dem er sich je nach seinen gegebenen Fähigkeiten bewegen und entfalten konnte: Lokalisierung, Orientierung und Navigation (Rappenglück, M. A. 2005, 2009, 2013b, 2014b, 2014a, 2016c, 2018b, 2019b, 2020). Es bot mit der zeitlichen Komponente auch die Eingliederung in Wandlungsvorgänge, Entwicklungsabläufe und Synchronisierungen an. Zeitrechnungen und später durchkonstruierte Kalendersysteme verhalfen himmlische Abläufe mit irdischen Prozessen (maritime, biologische, meteorologische, soziale ökonomische Rhythmen), die man schon seit dem Paläolithikum (Rappenglück, M. A. 2015a, 2015b) sehr genau beobachtete, abzugleichen. Man wollte die Wechselwirkung, den Widerstreit und Wettstreit von Kräften und Mächten in der Welt erfassen und daraus Regeln ableiten, zu welcher Zeit wie gehandelt werden soll: Der ‚rechte Augenblick‘ war angestrebt, um Wirkungen zu optimieren. Der Himmel mit seinen Erscheinungen und Abläufen bestimmte auch Zeiten des Heiligen (sakrale Zeiten) und des Alltäglichen (profane Zeiten), der Ruhe und des Tuns (vita contemplativa / vita activa). Neben der Absicht das gegenwärtige räumlich-zeitliche Wirkungsgeflecht zu verstehen und zu beeinflussen, wollte man sich auch zukünftiges Geschehen aus den Abläufen am Himmel und den Prozessen im Kosmos deuten (Mantik/Divination; Astrologie), um daraus Richtungen des Handelns zu bestimmen (Hogrebe 2005; Becker 1981; Maul 2013; Campion 2008, 2009, 2012).


Abbildung 1.4:

Astrologisches Divinationsbrett aus Grand (Dép. Alsace-Lorraine, Frankreich, 2. Jh. n. Chr.)

Musée d’Archéologie nationale, Domaine National de Saint-Germain-en-Laye, Saint-Germain-en-Laye, Frankreich – © Michael A. Rappenglück

Die archaischen und alten kulturellen Kosmologien beruhten weltweit und durch alle Epochen hindurch auf der Anschauung und dem Bewusstsein des Prinzips der Entsprechungen: die kosmischen Sphären – in alter Sprache: die obere Welt (Himmel), die mittlere Welt (Erde) und die untere Welt (Unterwelt) – spiegeln sich in ihren Strukturen und Vorgängen. Kosmisches wurden ‚erdgebunden‘ greifbar: in der Landschaft, in Boden- und Baudenkmälern, auf Gegenständen, Kleidung, in den schönen Künsten, in Spielen, in religiösen, sozialen, politischen Symbolen, Mythen und Ritualen, teilweise bis in die heutige Zeit (Rappenglück, M. A. 2013b, 2016c, 2016a, 2018b). Die kosmologischen Modelle nutzen die astronomische Sprache und Konzepte (den astronomischen Code) um menschliches Leben (Individuum und Gesellschaft) in der jeweils gegebenen Ökosphäre verstehbar zu machen. Sie diente ebenso dazu insbesondere die Einbettungen, die Bezüge und die Übergänge in und zu einem spirituelltranszendenten Hintergrund fassbar werden zu lassen.

Die aufgeführte Vielfalt der Themen, Fragestellungen, Methoden erfordert, je nach Forschungsgegenstand, die Einbeziehung und Zusammenführung von Ergebnissen auf der Ebene der Syntax (Archäologie, Astronomie, Geowissenschaften, Biologie, Chronobiologie, Chronologie, Semiotik, etc.) und der Semantik/Pragmatik (Kultur- und Sozialanthropologie, Ethnowissenschaften (Ethnologie, Volkskunde, Ethnoastronomie, Ethnomathematik, Ethnomedizin, Ethnopsychologie, Symbolwissenschaft, Mythologie, Religionswissenschaft, etc., dazu der [kritische] Blick auf alte Vorstellungen, wie z. B. Astrologie, Mantik, etc.). Die Kulturelle Kosmologie ist damit ihrem Themenspektrum und ihrer Multidisziplinarität nach beschrieben. Wie könnte eine zugehörige inter- und transdisziplinäre Methodik ausssehen?

1.3.2 Die Integrale Methodik als wissenschaftlicher Ansatz

Die anzuwendende Integrale Methodik ist multidisziplinär, interdisziplinär und transdisziplinär. Sie basiert auf einem systemtheoretischen Modell (Rousseau et al. 2018) und folgt dem Kohärenzprinzip (Rescher 1973; Thagard 2000), um die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese oder Theorie zu erhöhen. Dabei geht es um den Zusammenhang von Aussagen zu einem Sachverhalt. Kohärenz kann im Wesen, über ein Kriterium oder ein Indiz bestehen. Die Reihenfolge gibt auch die Stärke der Kohärenz an. Kohärenz setzt nicht die Widerspruchslosigkeit aller Aussagen voraus. Sie bildet auch nicht völlig die Tatsachen ab (Korrespondenz). Es gibt unterschiedliche Grade der Kohärenz (BonJour 1985). Für größtmögliche Kohärenz wird für die Menge der Aussagen u.a. gefordert: maximaler Vernetzungsgrad, optimale Erklärungsstärke, minimale Inkonsistenz (Widersprüche), Minimierung von Subsystemen mit geringen Vernetzungsgrad, minimale Anomalien und Konkurrenz, maximale Stabilität. Die Methodik folgt insbesondere der sogenannten hermeneutischen Spirale als Prozess der Sicherung des integrativen Verständnisses (Stegmüller 1996). Ich habe bereits erste Ideen für eine Integrale Methodik entwickelt (Rappenglück, M. A. 1999, 2013a). Es geht nicht einfach darum, Ergebnisse und Methoden aus verschiedenen Wissenschaften zu sammeln (Multidisziplinarität), kritisch zu prüfen und zusammenzuführen oder zu kombinieren (Cross-/Interdisziplinarität), sondern sie transdisziplinär zu integrieren (Rousseau et al. 2018, S. 47–62). Wichtige Grundlagenfächer sind Anthropologie (insbesondere Kulturanthropologie), Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft (einschließlich Wissenschafts- und Technikgeschichte) und Astronomie. Es gibt auch eine größere Anzahl anderer Natur- und Geisteswissenschaften, die je nach Bedarf hinzugefügt werden. Sie modelliert somit sehr gut das Weltbild der Kulturen, die vor der Neuzeit existierten. Dieses war durch eine ganzheitliche und ökomorphe Wahrnehmung und Interpretation der Welt in Bezug auf das menschliche Leben und die Lebenswelt gekennzeichnet (Rappenglück, M. A. 2009, 2013b, 2014b). Das Ziel einer kulturellen Kosmologie ist die Rekonstruktion archaischer prähistorischer und historischer Kosmologien (und Kosmogonien) sowie der jeweils aktuellen Vorstellungen über die Stellung des Menschen im Kosmos. Im Folgenden werden einige Punkte einer Integralen Methodik mit Bezug auf ausgewählte Fallbeispiele aus dem Paläolithikum skizziert. Die Methodik ist aber allgemein für das Fachgebiet relevant. Ein gutes anderes Beispiel bietet der Fall der Nebra-Scheibe, den ich der Integralen Methodik folgend, untersucht habe (Rappenglück, M. A. 2016b).

Einige Punkte einer Integralen Methodik

Die Grundlage für einen methodischen Ansatz ist die klassische sprachliche Dreiteilung der Referenzen: Syntax, Semiotik und Pragmatik (Rappenglück, M. A. 2013a, S. 85). Der syntaktische Faktor bezieht sich auf die Konstruktion und Anordnung von Symbolen, die geeigneten Messwerkzeuge und -techniken, die Bildung von Objektklassen und formale Beziehungen für die Datenerhebung. Für die Aufbereitung der Daten werden strukturelle, logische, statistische und messtechnische Methoden eingesetzt. Der semantische Faktor umfasst die Beziehung von Symbolen und zugehörigen Bedeutungen. Geisteswissenschaften mit einer Vielzahl von Methoden, z. B. Anthropologie (insbesondere Kulturanthropologie, biologische, linguistische Anthropologie), Ethnowissenschaften, Mythologie, Religionswissenschaften, Psychologie liefern Interpretationen. Der pragmatische Faktor wirkt sich auf die Lebenswelt und die Lebenspraxis der jeweiligen Kultur aus. Archaische Kulturen waren in besonderem Maße in der Lage, verschiedene Aspekte und Bedeutungsebenen ihrer Weltsicht in eine einzige Konzeption zu integrieren und sich dabei intensiv einer symbolischen, mythischen und rituellen Sprache zu bedienen. Die kulturelle Kosmologie erfordert ein Verständnis der Wahrnehmung, Konzeption und kohärenten Weltbilder antiker Kulturen, die sich aus Ideen, Prozessen und Bewertungen zusammensetzen, mit denen wir normalerweise nicht mehr vertraut sind, wie z.B. Wahrsagerei, Astrologie und bestimmte religiöse Konzepte. Darüber hinaus ist die Praxis, bestimmte Messinstrumente und Beobachtungsmethoden für die Himmelsbeobachtung zu verwenden, ein weiteres notwendiges, meist vernachlässigtes Forschungsgebiet. Experimentelle Rekonstruktionen können helfen, Möglichkeiten und Grenzen zu ermitteln.

Phänomenologischer Ansatz

In einem ersten Schritt wird ein phänomenologischer Ansatz (Husserl 1986) begonnen. Die eigene Beobachtung hat, wenn möglich, Vorrang. Wo immer möglich, sind primäre Wissensquellen den sekundären vorzuziehen. Bei der Verwendung von Sekundärquellen sollte sichergestellt werden, dass diese zuverlässig und nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft anerkannt sind. Die Forschung sollte mit möglichst vielen verschiedenen Sinnen und Instrumenten durchgeführt werden: Alles, ob offen oder noch versteckt, kann für die spätere Auswertung und Interpretation von Bedeutung sein, auch wenn es im Moment nicht verstanden wird. Neben einer rein rationalen Sichtweise kann auch der Wert der eigenen emotionalen Erfahrung von Bedeutung sein. Die spezifische zeitliche Distanz zu der untersuchten Kulturepoche muss berücksichtigt werden (hermeneutische Differenz: sprachlich, historisch, biologisch/psychologisch, etc.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Umwelt und die Lebensweise (signifikant) verändern können. In jedem Fall: Selbst (quantitativ gemessene) ‚Fakten‘ (González García 2013, S. 50) treffen nicht ‚per se‘ auf die Wahrheit. Sie basieren nicht nur auf den erforderlichen offengelegten Annahmen (Geräte, Messverfahren, Umstände während der Messung, Auswahl der Ausgangspositionen und Randbedingungen, Umweltbedingungen in der jeweiligen Epoche usw.), sondern auch auf Annahmen, die zum Zeitpunkt der Beobachtung und Messung unbekannt oder unbewusst verborgen sind. Daher ist es notwendig, durch sorgfältige phänomenologische Beschreibung, durch die Definition von Merkmalsklassen und die Beobachtung der Wahrnehmungsweisen vorgefasste Vorstellungen zu vermeiden. Dies erfordert den Verzicht auf eine Vorverurteilung der Daten und eine aufgeschlossene Herangehensweise sowie die Bereitschaft, für die Eigenschaften des Objekts empfänglich zu sein. Man sollte sich der Wahrnehmungspsychologie (menschliche Sinneswahrnehmung, Informationsverarbeitung im Gehirn, Phantasien, Vorstellungen usw.) bewusst sein. Die verschiedenen Fallstricke von Hirnwahnvorstellungen, wie sie aus der Wahrnehmungspsychologie bekannt sind, müssen berücksichtigt werden. Die Kenntnis der Gesetze der Gestalt, der Wahrnehmungspsychologie und der kognitiven Psychologie sind hilfreich (Çetin et al. 1999; Bollnow 2010; Wearden 2016; Galotti 2018; Hergovich 2018; McBride & Cutting 2019). Bei der Forschung ist die erste, zu überwindende Schwierigkeit die Vielfalt der menschlichen Wahrnehmung und Kognition. Normalerweise kümmert sich kaum jemand um die Eigenschaften kognitiver Illusionen, die eigenen verborgenen Vorlieben, Vorurteile und das erkenntnistheoretische Interesse (Chabris & Simons 2011). Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, diese in den Vordergrund zu rücken, darüber nachzudenken und die Voraussetzungen der jeweiligen Ansätze, Annahmen und Arten von persönlichen Präferenzen und Vorurteilen zu diskutieren. Daher ist eine Ausbildung notwendig, um mehrdeutige Illusionen, Trennung vom Boden, Figur-Grund-Umkehrungen, Fiktionen und Probleme des Kontexts zu erkennen. Astronomen sind mit verschiedenen Arten solcher kognitiven Illusionen vertraut, z. B. der Wahrnehmung von Mustern in der Anordnung der Sterne (Sterngruppen/Konstellationen), Formen oder Gesichter in den Mond- oder Marskanälen.

Je nach dem Kontext (semantisch, pragmatisch) der jeweiligen Kulturen wird ein bestimmtes Sternenmuster (Syntax) unterschiedlich interpretiert. Zudem haben die Menschen des Jungpaläolithikums selbst absichtlich nur einen Großteil dieser kognitiven Illusionen zur Veranschaulichung mehrerer Bedeutungsebenen in Einzeldarstellungen verwendet (Alpert 2008, S. 119–192). Dies erhöht die Anzahl der Fallen, in die man tappen kann. Und schließlich muss man auch über die emotionale Durchdringung – wir haben verborgene Vorlieben und Abneigungen – sowie über die ökologische Basis unseres eigenen Denkens Bescheid wissen (Gibson 2015; Hergovich 2018). Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass zumindest während des Jungpaläolithikums diejenigen, die das Kunstwerk schufen, eine gewisse raum-zeitliche Wahrnehmung hatten, die sich vom Durchschnitt der heutigen Menschen unterschied. Sie waren in der Lage, die besonderen Verhaltensweisen von Tieren zu beobachten und darzustellen (Rappenglück 1999, 2015a, 2015b), manchmal viel besser als in der Neuzeit. Als Jäger und Sammler hatten sie ein Gespür für dynamische Prozesse, die sie in ihren Kunstwerken veranschaulichten, z. B. durch die Auflösung kontinuierlicher Bewegungen in eine Überlagerung aufeinanderfolgender Bilder (die sich in einen ‚Film‘ umkehren lassen). Darüber hinaus wurde die Dreidimensionalität durch die Bewegung erfahren, wodurch der Begriff des hodologischen Raumes entsteht (Lewin 1934; Rappenglück, M. A. 1999, S. 218; Bollnow 2010, S. 156– 157). Diese kognitiven Fähigkeiten der Völker des Jungpaläolithikums haben ihre Wahrnehmung astronomischer Phänomene stark beeinflusst (Rappenglück, M. A. 1999).

Umfassende detaillierte Analyse

In einem zweiten Schritt muss für jedes Objekt eine umfassende Detailanalyse und Beschreibung der angewandten Methode(n) mit der erforderlichen Genauigkeit durchgeführt werden. Dazu sind die folgenden Fragewörter hilfreich: Was? Wo? Wann? Wer?


Abbildung 1.5:

Mondmaske – Calvin Hunt, Kwak waka’wakw (Kwakiutl), 1985

Linden-Museum, Stuttgart – © Michael A. Rappenglück

Neutrale Beschreibung: Der phänomenologische Ansatz wird von der Verwendung einer neutralen Beschreibung begleitet. Skepsis gegenüber anderen und den eigenen bewussten und unbewussten, unterschwelligen Deutungen (Epoche: Abstinenz) ist notwendig: Nicht nur die Fallstricke kognitiver Illusionen (s.o.) müssen berücksichtigt werden, sondern auch Vorurteile und pauschale Aussagen, wissenschaftliche Mainstreams, die richtig oder falsch sein können, eigene und fremde Partikularinteressen („Präferenzen“, „Erwartungen“, „Einschätzungen“). Fragen, Hypothesen, Definitionen, Begriffe, Kategorisierungen, Experimente, Instrumente und Methoden sollten fundiert und gut definiert sein. Wenn die Dekoration möglicherweise als figurative Schrift gelesen werden könnte, sollte der Schwerpunkt auf ikonographischer syntaktischer, semantischer und pragmatischer Konsistenz liegen.

Probleme: Zahlenjongleure, Überlagerungsfreaks, Probleme bei der Rekonstruktion und Wiederherstellung, Datierungshüpfer, Genauigkeitsfanatiker

Viele Autoren sind Zählfanatiker und fasziniert von kohärenter Numerologie (Rappenglück, M. A. 2013a, S. 86–87, 2016b). Sie zählen und berechnen alles, was zählbar und berechenbar sein könnte. Aber zunächst einmal: Ist das Objekt mit den vorgeschlagenen Zählmengen, z.B. ein Knochen mit Marken zum Zählen, vollständig? Dann: Was zählt wirklich? Zuerst muss eine gut definierte Typisierung vorgenommen werden. Einige wenige Sätze zählbarer Typen sind nicht ausreichend: Hier wird die statistische Methode unentbehrlich. Häufig wird auch gezählt, ohne die ursprünglichen Einheiten zu kennen (‚Apfel und Birnen zusammenzählen‘). Gibt es neben der reinen Zählung einen zusätzlichen „Kontext“, der es erlaubt, den Zählsätzen einen Wert zuzuordnen? In den meisten Fällen lässt sich eine Verzerrung der Zahlenjongleure bezüglich der zu erzielenden Ergebnisse und eine Faszination für die Kohärenz der Zahlenbezüge beobachten. Auch die unwissentliche Antizipation – oder die Vermutung astronomisch relevanter Zahlen durch den Autor – kann ein Ergebnis verzerren. Außerdem muss man zeigen, dass ein Muster, das als eine Art Zählung gelesen werden soll, keine reine Dekoration ist oder dass das Muster durch eine andere vernünftige Interpretation erklärt werden könnte. In jedem Fall ist es notwendig, Merkmalsklassen von Zählmengen auf dem jeweiligen Objekt, das den Code trägt, zu definieren und den Typ des untersuchten Objekts zu berücksichtigen. Dann ermöglicht ein zusätzlicher semantischer Input aus den Sozialwissenschaften dem Forscher die Erstellung eines Modells, das wiederum durch die Analyse vergleichbarer Objekte verifiziert werden muss. Dies erfordert einen statistischen Ansatz.


Abbildung 1.6:

Die Maschine von Antikythera, Griechenland, ist eine der wichtigsten Entdeckungen antiker Technik. Es ist der derzeit älteste bekannte Mechanismus, der als wissenschaftliches Instrument für astronomische und andere Zwecke eingesetzt wurde, konstruiert und gefertigt 150–100 v. Chr.

Ausstellung im Archäologischen Nationalmuseum, Athen 2012/2013 – © Michael A. Rappenglück

Oft unkritisch, d. h. mit wenig Berechtigung, werden Sterngruppen aus dem präsentierten Material gebildet oder mit ihm identifiziert. Es gibt viele Beispiele dafür, viele davon von mir bis 2014 gesammelt und diskutiert (Rappenglück, M. A. 1999, S. 18–24, und Kap. 1, fn. 46, 2013a) oder neueren Datums: Collins (2019), Burles (2017). Es gibt zahlreiche weitere Beispiele zum Paläolithikum im Internet und in der grauen Literatur. Auch Göbekli Tepe wurde auf die gleiche pseudowissenschaftliche Weise interpretiert (Burles 2017; Sweatman and Tsikritsis 2017a, 2017b; Sweatman 2019; Collins 2019). In Ergänzung ist hier auch z. B. die Nebra-Scheibe mit ihren diesbezüglichen Deutungen zu nennen (Rappenglück, M. A. 2016b). Eine Identifizierung sollte nicht nur von der Ähnlichkeit mit Sterngruppen, die in anderen Kulturen existieren, abgeleitet werden, sondern muss mit Bezug auf einen breiteren syntaktischen und semantischen Kontext gemacht werden. In sehr weit entfernten Epochen, z. B. im Jungpaläolithikum, müssen auch die Eigenbewegungen einiger Sterne berücksichtigt werden (Rappenglück, M. A. 1999, S. 78, 2013a). Es ist sehr wichtig, die Genauigkeiten und Fehler der verwendeten Software zu kennen und zu benennen (Rappenglück, M. A. 1999, S. 76–80, 2013a; Lorenzis & Orofino 2018).

Es ist absolut notwendig, sich über die Originalität und Integrität eines Objektes (und auch einer Landschaft) im Klaren zu sein. Die Probleme der Restaurierung und des Wiederaufbaus dürfen nicht ignoriert werden (Rappenglück, M. A. 2013a, S. 88, 2016b). Wenn die Untersuchung an einer Replik durchgeführt wird oder durchgeführt werden muss, weil das Original nicht vorhanden ist, muss sichergestellt werden, dass es das Original authentisch wiedergibt.

Immer wieder wird die relative und absolute Altersbestimmung von archäologischen Funden, für die astronomische Bezüge vermutet oder behauptet werden, unzureichend einbezogen und diskutiert. Für eine mögliche astronomische Interpretation ist es unerlässlich, das Alter der untersuchten Objekte mit Hilfe verschiedener unabhängiger, wissenschaftlich abgesicherter Datierungsmethoden möglichst genau zu bestimmen. Es ist wichtig, dass sich die verschiedenen Methoden gegenseitig unterstützen und ergänzen (Rappenglück, M. A. 1999, S. 43–48). Bei der möglichst genauen Datierung von gezielten Darstellungen in der ober- und mittelpaläolithischen Zeit tritt ein sehr ernstes Problem auf (Rappenglück, M. A. 2013a, S. 93–94). In den meisten Fällen gibt es keine Möglichkeit, ein direktes und endgültiges Ergebnis zu erhalten. Obwohl die Felsbilder in einer Komposition stilistisch ähnlich sind, unterscheiden sie sich im Alter deutlich. Es ist möglich, dass die Fehler bei der Datierung dadurch entstehen, dass die Künstler der Altsteinzeit bereits altes Material verwendet haben. Aber die Unterschiede in der Datierung innerhalb der gleichen Darstellungen werden nicht wirklich verstanden (Corchón et al. 2012, S. 134). Forschungen zu verschiedenen radiometrischen Methoden verstärken das Datierungsproblem. Bislang gibt es keine wirkliche Übereinstimmung über die Eindeutigkeit der Datierungsmethoden und -ergebnisse. Daher ist eine Datierung auf der Grundlage verschiedener, möglichst unabhängiger Methoden wie Radiometrie, Stratigraphie, Pollenanalyse, Stil etc. und Kalibrierungsverfahren notwendig und hilft bei der Eingrenzung des Bereichs möglicher Datierungen, die dem Objekt zugeordnet werden. Daher bietet nur die Vielzahl und Auswertung archäologischer Datierungen einen gewissen Zeitrahmen für astronomische Aussagen (Rappenglück, M. A. 1999, S. 43–48). Äußerst problematisch ist dabei die wilde Verknüpfung verschiedener Untersuchungsobjekte über mehrere Epochen hinweg mit Bezug auf einige wenige Daten hier und da und ohne Diskussion der Fehler von Altersbestimmungen und Standardabweichungen (Sweatman and Tsikritsis 2017b; Sweatman 2019). Daher müssen alle anwendbaren relativen und absoluten Datierungsmethoden, einschließlich astronomischer Altersbestimmungen (falls verfügbar und vertretbar), einbezogen und in Bezug auf ihre Fehler und Diskrepanzen diskutiert werden. Gegenseitige Berücksichtigung und Kalibrierung sind wichtig.

Der Einsatz heutiger technischer Messinstrumente und Computer verleitet einige Autoren dazu, entweder den alten Kulturen große Mängel in ihren Beobachtungen und Ergebnissen vorzuwerfen (Bialas 1986, S. 221) oder umgekehrt, ihnen extreme Fähigkeiten zuzuschreiben (Sweatman 2019). Um diese beiden Fehleinschätzungen zu vermeiden, ist es notwendig, die postulierten Fähigkeiten archaischer Kulturen mit dem nach heutigem Wissensstand vorhandenen archäologischen und anthropologischen Wissen zu korrelieren. Eine Art ‚experimentelle Archäoastronomie‘ ist auch hier hilfreich: Wie könnte man welche Beobachtungen mit welchen Instrumenten machen? Welche Fehler werden dabei gemacht? Welche Schlussfolgerungen waren für die ‚Experten‘ der damaligen Zeit möglich? Hatten sie eine Art Protomathematik und wie sah diese aus? Ich habe einige Beispiele für die paläolithische Zeit ausführlich beschrieben (Rappenglück, M. A. 2019a).

Kultureller Kontext

Der aktuelle Wissensstand über das jeweilige kulturelle Umfeld (Lebensumfeld und Lebenspraxis) ist zu berücksichtigen: Die Kulturanthropologie ist hier hilfreich. Steht ein Unikat oder nur einige wenige Objekte und die dazu gemachten Aussagen im Mittelpunkt, ist ein reichhaltiger und differenzierter Kontext besonders wichtig. Es ist notwendig, das Objekt (oder/und die Landschaft) möglichst genau anzusprechen und zu beschreiben, es zu lokalisieren und zu datieren und in den Kontext seiner früheren Lebenswelt zu stellen. Individuelle und kollektive Fähigkeiten unterschiedlicher Detailliertheit und Komplexität können an verschiedenen Orten derselben Epoche koexistieren. Archaische Kulturen (Jäger und Sammler, Gartenbauern, Hirten, Fischer, Ackerbauern) haben ihre eigenen Perspektiven und Herangehensweisen an ihre Welt, die sich von unserer unterscheiden. Sie können jedoch unter diesen anderen Wegen ein beträchtliches Niveau an Wissen und Fähigkeiten erreichen das nicht als untergeordnet zu unserer kulturellen Ebene betrachtet werden sollte. Archaische Kulturen integrieren verschiedene Bedeutungsbereiche in ihre Artefakte und ihre Weltsicht und bedienen sich dabei intensiv symbolischer, mythischer und ritueller Darstellungsformen. Es ist notwendig, die Charakteristika der Menschen der jeweiligen Epoche, ihrer Lebenswelt und Lebenspraxis zu berücksichtigen, um den kulturellen Rahmen zu entwickeln, in dem astronomisches Wissen ein Thema gewesen sein mag. In welchen Landschaften haben die Menschen gelebt und sich bewegt? Welches Klima war vorherrschend? Wie war die Flora und Fauna beschaffen? Wie waren die Merkmale der jeweiligen menschlichen Spezies? Welche Gesellschaftsform und welches Wirtschaftssystem gab es? Welche Himmelslandschaft war zu sehen? Diese Fragen und andere mehr werden meist kaum oder gar nicht gestellt und beantwortet. Sie sind jedoch wichtig für astronomische Rekonstruktionen, z. B. die Sichtbarkeit von Himmelsobjekten, Orientierungs- und Zeitreisefähigkeiten der Kulturen und Interpretationen mit Bezug auf die damalige menschliche Lebenswelt. Es ist gut dokumentiert, dass Jäger und Sammler, ähnlich wie die Bauern, in der Lage waren, Himmelserscheinungen sorgfältig zu beobachten und das astronomische Wissen weiterzugeben (Rappenglück, M. A. 1999, 2015a, 2015b; Hayden and Villeneuve 2011).

Beziehungen

In einem dritten Schritt werden Bezüge sichtbar gemacht (Relation): Die Beziehung der Teile ist hier von Bedeutung. In diesem Stadium ist eine multidisziplinäre und interdisziplinäre Methodik sehr wichtig. Qualitative und quantitative Verfahren können und müssen gemeinsam eingesetzt werden. Es muss jedoch darauf geachtet werden, dass quantitative oder qualitative Methoden angemessen und nicht übermäßig eingesetzt werden. Es wird berücksichtigt, wie die Komponenten und Methoden miteinander verflochten sind (Überlagerung, Verschränkung), sich gegenseitig ergänzen (Komplementarität, Polarität) oder einander widersprechen (Inkonsistenz, Dichotomie). Wenn ausreichend große und standardisierte Datensätze zur Verfügung stehen, können statistische Methoden (univariate, bivariate, multivariate) zur Erkenntnisgewinnung eingesetzt werden. Besonders wichtig sind statistische Hypothesentests und Bayes’sche Statistiken, wenn eine geringere Informationsmenge und der Grad der Überzeugung von einem Ereignis die Grundlage bilden. Es ist wichtig, die Genauigkeit, Fehler und Zuverlässigkeit von Beobachtungen, Kategorisierungen, Messungen, Berechnungen, Datenverarbeitung, -übertragung und -übersetzung, Quellen und Referenzen zu diskutieren. Die Fehlerberechnung ist hilfreich bei der Bestimmung des Toleranzbereichs von Messgrößen und auch bei der wissenschaftlichen Datenverifizierung. Die Überdehnung der Statistik als Mutter aller Methoden ist jedoch fehlerhaft: Der Nachweis der statistischen Methodik und der Clusteranalyse ist wichtig und notwendig (González García 2013), erfordert aber eine gut strukturierte, gut definierte und umfassende Datenbank und Erhebungsmethode. Darüber hinaus müssen die Probleme und Paradoxien der Statistik berücksichtigt werden (Stegmüller 1973). Wenn dies nicht rigoros und ernsthaft geschieht, treten Fehler und Trugschlüsse auf (Gardenier and Resnik 2002; Campell 1987), die in der Gefahr enden, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen und sie als wissenschaftlich bestätigt auszugeben. Leider geben Sweatman und Tsikritsis (Sweatman and Tsikritsis 2017a, 2017b; Sweatman 2019) ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man sich in mehrere der oben genannten Fallstricke manövrieren kann. In ihren Studien über Göbekli Tepe präsentieren sie eine extrem schwache wissenschaftliche, manchmal sogar pseudowissenschaftliche Argumentation, die darin gipfelt, die die statistische Methode als einzigartigen Königsweg der ‚Beweisführung‘ ausgeben und zugleich sich gegen jegliche Kritik daran zu immunisieren (Notroff et al. 2017). Ihre Forschungsergebnisse beruhen auf unzureichenden Daten, einem mangelnden Verständnis der ikonographischen Kategorisierung und der astronomischen Bedingungen, dem Weglassen der Diskussion von Datierungsproblemen und der Vernachlässigung der jeweiligen archäologischen Befunde. In jedem Fall sollte die aus den Daten entwickelte Hypothese verifizierbar und überprüfbar sein. Sie sollte nicht gegen Tests „immunisiert“ werden. Dasselbe gilt für Theorien. Trotz der multidisziplinären und interdisziplinären Methodik sollte darauf geachtet werden, dass die Annahmen einigermaßen wirtschaftlich sind. Das Folgende gilt aber auch heuristisch: Führen Sie keine unbegründete mentale Akrobatik aus und folgen Sie nicht dem Wunsch, bei Widersprüchen „die Dinge zu glätten“.

Synopse und Integration

Ein vierter Schritt führt schließlich zur Synopse und Integration mit Hilfe einer transdisziplinären Methodik, die auf der Allgemeinen Systemtheorie basiert (Rousseau et al. 2018). Die Interpretation der Daten folgt zwei weiteren Fragen: Warum und wie haben Menschen dies getan? Dieser Ansatz erfordert, dass die Vielfalt der Daten und Methoden aus den Geistes- und Naturwissenschaften komplementär und unter strikter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten und Umstände genutzt wird. Es ist notwendig, Forschungsergebnisse mit der Bedeutung/Funktion astronomischer Objekte, Phänomene und Prozesse in Beziehung zu setzen: Astronomische Objekte, Bilder und Begriffe können als sprachliche Codes (z.B. Kosmogramme, Symbole, Mythen, Embleme, Allegorien usw.) verwendet werden, um andere Inhalte zu vermitteln. Die Astronomie dient dann als Werkzeug für den eigentlichen Zweck, der auf ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer, politischer oder spiritueller Ebene liegt. Hier ist eine geringe quantitative Genauigkeit ausreichend, mit hohen Anforderungen an das qualitative Modell. Die Ergebnisse können als quasi-astronomisch eingestuft werden. Astronomische Phänomene, Prozesse und Strukturen stehen im Vordergrund: Dazu werden z. B. Observatorien gebaut, Messinstrumente und Messmethoden, exakte Zeitberechnungs- und Navigationstechniken und eine exakte Kartographie des Sternenhimmels entwickelt. Die Ergebnisse können als exaktastronomisch eingestuft werden, können aber mit verschiedenen Nebensächlichkeiten verbunden sein. Für die Interpretation(en) ist es unerlässlich, mehrere Bedeutungsebenen (Synopse) wahrzunehmen, auszuarbeiten und in Beziehung zu setzen. Außerdem ist es notwendig, das Phänomen der Konvergenz zu kennen: Unterschiedliche Prozesse können zu ähnlichen Phänomenen/Ergebnissen führen. Widersprüche, Inkonsistenzen und zirkuläre Schlussfolgerungen der jeweiligen Interpretation(en) sind offenzulegen, zu diskutieren und wenn möglich unter einem neuen Wissensmodell (Transdisziplinarität) einzuordnen.

1.4 Zusammenfassung

Der Himmel war mindestens seit dem Jüngeren Paläolithikum im Leben der Menschen präsent. Im Laufe der vielen Jahrtausende wuchs die Bedeutung der Phänomene und Abläufe am Himmel für die Lebensrhythmik, Lebensweise, Orientierung und Spiritualität des Einzelnen und der Gesellschaft. Die archaischen und alten Anschauungen gingen wesentlich von der Einheit des Wirkungsgeflechts der Kräfte in der Welt aus mit dem sie sich im Grunde verbunden fühlten. Der Himmel war wichtig, aber doch nur ein Aspekt der jeweiligen Welt, die mindestens Erde und Unterwelt enthielt oder sich in viele verschiedene kosmische Sphären dazwischen gliederte. Die jeweilige Anschauung des Kosmos stand in Wechselbeziehung mit der Existenzweise der Menschen in der zugehörigen Ökosphäre. Die archaischen und alten Kosmologien waren ökomorph, d. h. der Lebenswelt nachgebildet.

Es ist daher angemessener die Disziplin nicht als Archäoastronomie oder kulturelle Astronomie zu bezeichnen, sondern als kulturelle Kosmologie als Oberbegriff für verschiedene Teildisziplinen. Aus den inhaltlichen und methodischen Diskussionen lässt sich der Umfang und die Methodik einer solchen Wissenschaft bestimmen, die bisherige Ansätze von der Archäoastronomie bis zur Kulturastronomie aufgreift und mit einer transdisziplinären Methodik integriert. Dabei ist es notwendig das Forschungsgebiet von Nicht-Wissenschaft, Randwissenschaft, Pseudowissenschaft abzugrenzen. Die kulturelle Kosmologie befasst sich mit dem Selbstverständnis einer Kultur in ihrer Welt (Kosmos). Diese Definition erlaubt es auch den mit der Neuzeit (15./16. Jh.) einsetzenden fortlaufenden kosmischen Perspektivenwechsel – Geozentrik, Heliozentrik, Galaktozentrik … Multiversum, oder von der Singularität der Stellung der Erde und des Menschen im Kosmos zur Pluralität er Welten – in die Kulturelle Kosmologie einzubeziehen.


Abbildung 1.7:

Kosmischer Perspektivenwechsel: Aus Anlass des 30jährigen Jubiläums der Aufnahme der Erde durch Voyager 1 aus 6 Milliarden km Entfernung wurde durch NASA/JPL-Caltech ein verbessertes Bild des Pale Blue Dot (des blassen blauen Punkts), der Erde, aus dieser Distanz fotografiert, aufbereitet: eine neue Ebene der kulturellen Kosmologie.

© NASA/JPL-Caltech, PIA23645

Mit dem Mondflug von Apollo 8 wurde am 24.12.1968 durch William Anders das erste Farbbild (NASA: AS8-14-2383HR) des Erdaufgangs über dem Mond (‚Earthrise‘) aufgenommen. Dieses Bild, die später (seit Apollo 17, 1972) unter dem Begriff ‚Blue Marble‘ firmierenden Fotografien der Erde, sowie die aus großer Distanz von Raumsonden (Voyager 1, 6 Milliarden km Entfernung, 14.2.1990; Cassini-Huygens, 1,45 Milliarden km Entfernung, 19.7.2013) genommenen Bilder, als ‚Pale Blue Dot‘ (blassblauer Punkt) bezeichnet, sind dazu gedacht, ein ‚planetares‘ Bewusstsein zu befördern. Mit Fokus auf den ‚blauen Planeten‘ als die bislang einzige Ökosphäre und Heimat des Menschen, den Vorstoß der Raumfahrt in den interplanetaren Raum und gleichzeitiger extremer Weitung des Blick in die Mannigfaltigkeit der Strukturen des Kosmos formt sich das Thema einer kulturellen Kosmologie erneut: Wie gehören Mensch – Erde – Kosmos zusammen?

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Abbildung 2.1:

Der ‚Weltbaum‘ von Sanxingdui (China) aus der Zeit der Shang-Dynastie (ca. 1600 to 1046 v. Chr.): Ein beeindruckend kompliziert aufgebautes Bronzeobjekt Nr. 1 (3,95 m hoch) aus der Opfergrube Nr. 2, das auf ca. 1200 v. Chr. datiert wird.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File: %E2%85%A0%E5%8F%B7%E5%A4%A7%E5%9E%8B%E9%9D%92%E9%93%9C%E7%A5%9E%E6%A0%91.jpg (CC BY-SA 4.0, Tyg728).

Maß und Mythos, Zahl und Zauber - Die Vermessung von Himmel und Erde

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