Читать книгу SNOW BONE - Guido Grandt - Страница 11
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ОглавлениеAm nächsten Morgen wollte Caleb Philbin eine Bestandsaufnahme der Vorräte machen. Das hatte er sich zwar schon gestern vorgenommen, aber auf dem Weg in die Kühlräume war ihm ein defektes Abflussrohr in der Küche aufgefallen, das er lieber sofort repariert hatte, und danach war er zu müde gewesen.
Hillary war schon zeitig aufgestanden, um in der Hauptküche das Frühstück zuzubereiten. Wie immer glänzte der gekachelte Raum vor Sauberkeit. Die glatten Flächen waren allesamt auf Hochglanz gebracht worden. Es gab zwei Gas- und zwei Elektroherde mit Cerankochfeldern. Dazu einen Brat- und Backofen, Mikrowellen, Dunstabzugshauben, ein Lavasteingrill, eine Standfritteuse, verschiedene Wärme- und Arbeitsplatten, einen Schockfroster, Kühlzellen, beheizte und unbeheizte Hochschränke sowie Arbeitstische aus Chromnickelstahl.
Die Spüle hatte drei Becken, und an einer Wand standen hohe, weiße Schränke, gefüllt mit einem erstaunlichen Sortiment aus Töpfen, Schalen, Pfannen und sonstigem Geschirr.
Auf der anderen Seite hing ein langes Brett mit allen Arten von Schneidewerkzeugen, angefangen von Schäl-, Brot- und Tranchiermessern bis hin zu einem Hackbeil.
Caleb gab seiner Frau, die gerade Kaffee und Tee kochte, einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und ging dann zu den Kühlräumen, die an der Stirnseite lagen.
Der größte von ihnen war der Hauptkühlraum, der eigentliche Tiefkühlraum, dessen Kühlaggregat jedoch ausgefallen war. Die hier deponierten Lebensmittel waren längst aufgetaut und verdorben gewesen, bis Caleb die Misere entdeckt hatte. Es hatte zwei Tage gedauert, um alles zu entsorgen. Tief im Keller hausten Ratten, die aufgrund der Kälte und des Hungers immer wieder einen Weg nach oben zu den Nahrungsvorräten fanden, deshalb hatte er hier Köder mit Rattengift ausgelegt, aber bislang hatte es noch keinen einzigen der Nager erwischt.
Vom leeren und inzwischen warmen Tiefkühlraum aus betrat er die begehbare und abgeteilte Vorratskammer. Die eine Hälfte war gekühlt, in der anderen lagerte das Trockensortiment.
Caleb nahm eine Liste von einem Schreibtisch neben der Tür zur Hand und zählte anschließend die einzelnen Packungen mit Zwieback, Knäckebrot, Cornflakes, Haferflocken, Nudeln, Reis, Gemüse in Dosen, Dauerwurst, Trockenmilch, Marmelade, Öl, Eier und Kartoffeln. Ebenso die Mineralwasser- und Fruchtsaftkästen. Die alkoholischen Getränke ließ er außen vor. Danach ging er hinüber in den kleinen Kühlraum und notierte die Vorräte an gefrorenem Fisch – zumeist Regenbogenforellen, Steinbutt und Seezunge – sowie den verbliebenen Fleischvorrat. Dieser bestand aus Schweine-, Rind- und Hühnerfleisch. Brot gab es keines mehr, denn die siebzig Weiß- und Schwarzbrotlaibe, die einst im Hauptkühlraum gelagert hatten, waren aufgetaut und anschließend verschimmelt.
Caleb konnte so oft zählen, wie er wollte, das Ergebnis blieb ernüchternd. Mit etwas Einsparungen hätte Hillary und ihm der Proviant tatsächlich bis zum Frühjahr gereicht, aber mit fünf zusätzlichen Mäulern, die es bestenfalls in den nächsten Tagen, schlimmstenfalls aber noch Wochen, zu stopfen galt, sah das schon ganz anders aus.
Mit einem tiefen Seufzer suchte er erneut die riesige Küche auf und half Hillary bei den letzten Vorbereitungen. Wenig später saßen sie schweigend mit den unfreiwilligen Hotelgästen an dem großen Tisch im Speisesaal und nahmen das Frühstück ein. Dieses bestand aus Haferflocken, Cornflakes, Toast, Marmelade, Orangensaft, Kaffee und Tee. Die Rühreier waren aus Einsparungsgründen ohne Speck und Schinken zubereitet.
Die Atmosphäre war so vergiftet wie ein mit Terpentin verseuchtes Aquarium. Niemand sprach ein Wort. Nicht einmal Harlan maulte wegen der kargen Mahlzeit herum. Stattdessen kaute er mit weit offenem Mund, sodass jeder den Speisebrei, den er mit seinen unregelmäßigen Haifischzähnen zerkleinerte, betrachten konnte. Ab und zu warf er dem Hausmeister unter seinen Schlupflidern einen vernichtenden Blick zu, senkte ihn aber sofort, sobald dieser ihn erwiderte.
Laura saß wie ein eingeschüchtertes Küken neben ihm. Wahrscheinlich hatte sie gestern Nacht noch die ganze Wut ihres Verlobten wegen seiner Unpässlichkeit abgekommen, vermutete Caleb. Seine Hose war jetzt jedenfalls gewaschen und getrocknet, sodass nichts an sein unfreiwilliges Wasserlassen erinnerte.
Britt stand ebenfalls neben sich. Noch immer verunsicherte sie das, was sie in der vergangenen Nacht aus dem Nebenzimmer gehört hatte, aber sie wagte es nicht, Tobey oder Veronica darauf anzusprechen. Die beiden saßen mit zerzausten Haaren am Tisch, als hätte die Zeit nicht ausgereicht, sich vor dem Frühstück noch ordentlich zu kämmen. Selbst Veronicas Tattoos schienen irgendwie in Unordnung zu sein. Aber das war natürlich nur Einbildung.
»Es hört gar nicht mehr auf zu schneien«, versuchte Caleb, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern. Tatsächlich waren die hohen Fenster auf der einen Seite des Speisesaals jetzt komplett zugeschneit. Deshalb brannte auch das dezente Deckenlicht.
»Vielleicht sollten wir draußen mal nachsehen gehen«, meinte Tobey zwischen zwei Bissen aus trockenem Toast, die er mit heißem Kaffee die Kehle hinunterspülte. Die Windpockennarben stachen momentan wie rote Käfer auf seinem totenbleichen Gesicht hervor und standen im krassen Gegensatz zu dem dichten, dunkelblonden Vollbart.
Doch bevor Caleb eine Antwort geben konnte, klopfte es energisch an der Eingangstür, und zwar so laut, dass es sogar noch im weit entfernten Speisesaal deutlich zu hören war.
Der Hausmeister warf seiner Frau einen schnellen Blick zu, bevor er sich eilig erhob.
»Erwarten Sie etwa Besuch, Philbin?« Harlan lachte auf. Es klang wie das Quieken eines Schweins kurz vor dem Schlachten.
Caleb ignorierte ihn einfach, ging auf den Korridor hinaus und durchquerte die Lobby zur Eingangstür. Das raue Ornamentglas, das in einem dicken Aluminiumrahmen eingefasst war, gab weder einen Blick nach innen, noch nach außen frei. Nur das Tageslicht fiel schwach gebündelt herein.
Noch immer klopfte es ununterbrochen. Bevor er öffnete, atmete er noch einmal tief durch. Er hatte keine Ahnung, wer dort draußen stand, denn es gab in diesem Bereich keine Fenster.
Schließlich gab sich der Hausmeister einen Ruck. Als er die schwere Eingangstür, die einem großen alten Tor glich, aufdrückte, fegte ein schneidender Wind herein, in dem Schneeflocken und Eiskristalle tanzten.
Eine hüfthohe Schneewehe, die sich vor der Schwelle gebildet hatte, brach daraufhin in sich zusammen.
Für einen kurzen Moment schloss Caleb die Augen, denn die Kälte, die brachial hereinströmte, ließ ihn zittern, als würde er unter Parkinson leiden. Draußen gab es keine Sonne mehr. Jegliches Licht schien ausgelöscht zu sein. Nur Halbdunkel, Eis und Schnee, das ohrenbetäubende Heulen des Windes und … vier Männer.
Vermummt in dick gefütterte Parkas, halb erfroren und mit flehenden Blicken unter den vereisten Kapuzen standen sie vor ihm … mehr tot als lebendig. Ausnahmslos trugen sie geräumige und schwere Polyester-Jagdrucksäcke mit integrierten Gewehrfutteralen über den breiten Schultern, in denen Jagdgewehre mit Bisonleder-Riemen steckten.
Niemand sprach ein Wort, denn es war klar, was sie sich wünschten: Einlass und Schutz vor dem Unwetter. Genauso wie vor Kurzem die Wanderer.
Caleb zögerte keine Sekunde. Er war zwar kein guter Christ, aber wenn er diese bewaffneten Männer abwies, würden sie garantiert mit letzter Kraft versuchen gewaltsam eindringen oder draußen in der Kälte erfrieren, und beide Optionen kamen für ihn nicht infrage.
Voller Dankbarkeit kamen die vier erschöpften Jäger herein. Hinter ihnen schlug Caleb die Eingangstür zu.
In diesem Moment dachte er sofort an die knappen Vorräte und an den Hunger, der bald in ihren Eingeweiden wüten würde. Doch gleich darauf wischte er diese finsteren Gedanken wieder beiseite.
Die Männer stellten sich ihm als Jack Shaffer, Eric Waters, Ray Romero und Peter York vor. Tatsächlich waren sie bei einem Jagdausflug in der Sierra Nevada vom Schneesturm überrascht worden.
Caleb händigte ihnen sofort Schlüssel aus, damit sie sich erst einmal aufwärmen, ausruhen und frisch machen konnten. Ihre Zimmer lagen ebenfalls in der ersten Etage. Der Hausmeister wollte nämlich sämtliche Gäste auf einer Etage versammeln, um den Überblick nicht zu verlieren. Außerdem musste er dann auch nur dieses Stockwerk richtig heizen.
Nachdem er wieder in den Speisesaal zurückgekehrt war, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Als er von dem Eintreffen der Jäger berichtete, kam er kurz ins Stocken, denn die Reaktion der übrigen Gäste war natürlich vorhersehbar. Sie schwiegen, bissen die Zähne zusammen oder blickten sich betreten und zornig an. Jeder von ihnen wusste ganz genau, was das für sie bedeutete.
Selbst Hillary wurde fast augenblicklich hysterisch vor Wut. Warum hatte ihr Mann noch mehr Menschen ins Hotel gelassen? Er wusste doch nur zu gut von dem Dilemma, das ihnen nun allen bevorstehen würde.
Wortlos erhob sie sich und verließ mit schnellen Schritten den Speisesaal. Hinter ihr knallte die Doppeltür ins Schloss.
»Sind Sie verrückt geworden, Philbin?« Harlan warf die Gabel, mit der er das letzte Stück Rührei aufgespießt hatte, aufgebracht auf den Teller. Es schepperte laut. »Wir haben kaum noch was zu beißen und sie lassen einfach einen Trupp Jäger herein?«
»Was hätte ich denn bitteschön sonst machen sollen? Ihnen die Hilfe verwehren und sie damit dem sicheren Tod ausliefern?«
»Verflucht noch mal, wenn es sein muss – ja!«, brüllte Harlan zurück. Seine Stimme überschlug sich fast. Laura neben ihm nickte jetzt wie eine Marionette. Auch die anderen Gäste widersprachen ihm nicht. Nur Britt schüttelte den Kopf, wagte es aber nicht, sich offen mit ihrer Meinung gegen die anderen zu stellen.
Caleb atmete tief durch und stieß die Luft geräuschvoll durch die Nasenlöcher aus, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Nur langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Er wusste ja selbst, dass der Bankangestellte eigentlich recht hatte, aber trotzdem hatte er die Jäger nicht einfach dem sicheren Tod überlassen können.
»Ich habe Ihnen schließlich auch geholfen, Harlan«, verteidigte er sich. »Ihnen und all Ihren Freunden.«
Doch der Angesprochene ließ sich nicht beirren. »Ich kann eins und eins zusammenzählen. Die Situation ist doch jetzt eine vollkommen andere. Wenn die Vorräte sowieso schon knapp sind, reichen sie mit weiteren hungrigen Mäulern gar nicht mehr aus. Aber Mathematik scheint für einen Hausmeister wohl zu hoch zu sein!«
In diesem Moment explodierte Caleb. Über den Tisch hinweg griff er nach dem Hemdkragen des Bankangestellten und zog ihn brutal vom Stuhl hoch.
»Halt endlich dein verdammtes Maul!«
Harlan war bleich geworden. Wie ein Fisch zappelte er im eisernen Griff des viel größeren und stärkeren Mannes. Er wartete darauf, dass dieser ihm jeden Augenblick seine Faust ins Gesicht schmettern würde.
Es war Britt, die die Situation schließlich entschärfte. Sie war aufgesprungen und legte ihre schmale Hand besänftigend auf den prall gespannten Bizeps des Hausmeisters. »Nicht, Caleb.«
Nur langsam verrauchte die unbändige Wut, die wie ein Herbststurm in Philbins Eingeweiden wütete. Am liebsten hätte er dem aufgeblasenen Mann vor sich eine Lektion erteilt, die dieser nie wieder vergessen würde.
Widerwillig ließ er den Dicken los. Harlan plumpste auf den Stuhl zurück. Er schluckte, schwieg aber aus Angst, weil er nicht erneut den Zorn des anderen erregen wollte. Als Laura nach seiner Hand greifen wollte, stieß er sie ruppig zurück.
»Wir müssen jetzt das Beste aus der Situation machen«, meinte Caleb, nachdem er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Er bedachte Britt mit einem schiefen Lächeln, das sie sogleich erwiderte.
»Vielleicht ist es ja gar nicht mal so schlecht, dass jetzt Jäger unter uns sind. Dann können sie draußen Wild für uns erlegen.« Tobey Arness, der ewige Optimist, schaute Beifall heischend in die Runde.
»Bei diesem Wetter, du Traumtänzer?«, fuhr ihm Harlan in die Parade, der sich offenbar wieder von dem Schock erholt zu haben schien.
»Gott wird es schon richten, Ned.«
»Scheiß auf deinen Gott!«
Tobey schwieg, warf seinem Freund jedoch einen düsteren Blick zu.
»Gott wird gar nichts richten«, schimpfte Ned Harlan weiter. »Wir werden schon bald nichts mehr zu essen haben, elendig verhungern oder uns selbst zerfleischen.«
Die Anwesenden schwiegen deprimiert. Auch Caleb Philbin sagte kein Wort.
***
Während Ned, Tobey, Veronica und Britt weiter im Speisesaal mit dem Hausmeister diskutierten, ging Laura die breite Treppe hoch, um das Nichtraucher-Doppelzimmer aufzusuchen, das sie sich mit ihrem Verlobten teilte. Sie hatte vorgegeben unter Kopfschmerzen zu leiden, was aber nur bedingt stimmte. In Wahrheit schockierte es sie ebenso wie die anderen, dass noch mehr potenzielle Esser eingetroffen waren. Vor allem aber auch, wie Ned mit ihr am Tisch umgegangen war. Noch nie zuvor hatte er ihre Hand weggestoßen und sie so vor anderen gedemütigt. Noch nie seit sie sich vor Jahren bei einer Veranstaltung in einem Tierheim in Frisco kennen und lieben gelernt hatten, denn Ned war genauso ein Hundenarr wie sie selbst.
Im Hauptkorridor in der ersten Etage steckte Laura die Schlüsselkarte in den Schlitz, zog sie durch und wartete auf das obligatorische grüne Lämpchen. Dann drückte sie die Tür mit der Schulter auf, trat ein und ließ sie hinter sich wieder ins Schloss fallen.
Der große Raum war ein kombiniertes Wohn- und Schlafzimmer mit schlichter Eleganz. Die abwaschbare Vinyl-Tapete hob sich durch ein helleres Blau von der Farbe des dicken, flauschigen Teppichbodens ab. Überall hingen Ölbilder, die Motive von Schlachten zwischen US-Kavalleristen und Indianern zeigten. Rechts von der Tür waren die Kofferablage und ein großer Spiegel angebracht, daneben ein hoher, antiker Holzschrank. Links davon stand das breite Doppelbett mit je einem Nachttisch. Von dort aus führte eine Verbindungstür ins Bad und zu der danebenliegenden Toilette.
Gegenüber der Tür befanden sich zwei große in Richtung Osten gelegene und bis zum Boden reichende Fenster, die einen Blick auf die ansonsten atemberaubende Landschaft ermöglichten. Davor befand sich eine Sitzgelegenheit, ein runder Tisch, zwei weich gepolsterte Sessel mit schwarz-weiß gestreiftem Bezug und Füßen aus matt gebürstetem Edelstahl. In der Ecke stand ein kleiner Fichte-Schreibtisch mit einem Flachbildfernseher und darunter gab es die obligatorische Minibar.
Laura trat an eines der hohen Fenster mit den geöffneten Vorhängen und starrte hinaus in das harte, tiefgraue Licht, das die Winterlandschaft beschien. Noch immer heulte und tobte der Schneesturm und trieb Eisflocken wie Schrotkugeln gegen die verstärkten Scheiben. Die Wipfel der Tannen und Kiefern dahinter bogen sich im schneidigen Wind.
Gewiss, das Unwetter und die daraus folgende Situation überforderten sie alle, aber dennoch war sie Neds Verlobte, die sich nicht so von ihm behandeln lassen musste. Schließlich wollten sie Ende des Jahres heiraten. Laura hatte immer geglaubt, dass sie, solange sie sich hatten, reich waren. Natürlich nicht im materiellen, sondern im zwischenmenschlichen Sinne.
Apropos Reichtum: Sie war fest davon überzeugt, dass Ned es irgendwann vom normalen Bankangestellten zum Abteilungsleiter bringen würde und damit einer Familie auch finanzielle Sicherheit und Rückhalt bieten könnte. Die Qualifizierung dazu hatte er allemal, obwohl sein Vorgesetzter ihn aufgrund seiner cholerischen Ausfälle immer wieder mal kritisierte. Einmal hätte ihr Verlobter nämlich beinahe einen Rentner verdroschen, weil der einen abgeschlossenen Hauskredit-Vertrag, zu dem Ned ihn überredet hatte, kündigen wollte und damit drohte an die Presse zu gehen. Dabei hatte eine vierstellige Provision auf dem Spiel gestanden …
Ein solches Verhalten hätte sich Laura in ihrem Job als Vorstandssekretärin eines IT-Konzernes natürlich niemals leisten können. Ohnehin hatte sie es schon schwer genug, denn immer mehr hübsche, junge und hochqualifizierte Flittchen aus anderen Abteilungen bewarben sich intern auf ihre Stelle. Bislang hatte sie Glück gehabt, dass der CEO zu ihr gehalten hatte, aber der Vorstandsvorsitzende würde bald in Altersruhestand gehen und sein Nachfolger hatte schon angekündigt, seine eigene Sekretärin auf den Posten zu setzen. Schließlich wollte er kein hässliches Entlein in seinem Vorzimmer, mit dem er sich nicht mal einen Blowjob vorstellen konnte.
In der Tat, die Schönen hatten es viel leichter im Leben. Oftmals reichte bei ihnen schon ein Lächeln, Titten oder viel Bein zeigen oder gleich ein Griff in die Hose des Bosses und alles war gebongt. Bei ihr würde man eher eine Kotztüte benötigen, wie ihr ein boshafter Kollege einmal bei einem Streit an den Kopf geworfen hatte.
Natürlich war Laura noch in Ned verliebt, alles andere wäre eine Pervertierung ihrer Zukunftspläne, dennoch hatte sich schon jetzt eine gewisse Trägheit in ihre Beziehung eingeschlichen. Das lag vor allem daran, dass in ihrem Leben nicht viel geschah, und es größtenteils ruhig und gesetzt verlief. Deshalb sehnte sie sich insgeheim manchmal nach etwas mehr Abwechslung, Nervenkitzel oder wie immer man es nennen mochte. Die ganze Wucht des Glückes, das verliebte Paare normalerweise spürten, war mit leisen Schritten an ihnen vorübergegangen und spröden Zeiten der Gleichgültigkeit gewichen.
Nervenkitzel hast du doch jetzt genug! Von der Außenwelt abgeschnitten, eingeschneit in einem Hotel mit fast einem Dutzend anderen Menschen, denen bald die Nahrungsvorräte ausgehen …
Und der Sex? Der war manchmal traurig und verwirrend, manchmal aber auch ruppig oder angemessen. Einmal hatte sie Ned, als sie vom Einkaufen zurückkam, beim Onanieren erwischt. In der Linken hatte er seinen Minischwanz gehalten, in der Rechten sein Smartphone, auf dem er gerade einen Pornoclip abgespielt hatte. Die Darstellerin war blutjung gewesen, wahrscheinlich noch minderjährig, und hatte irgendwie wie ihre Freundin Britt ausgesehen. Blond, zierlich, mit großen, prallen Titten, einem knackigen Arsch und langen Beinen.
»Ich kann dir alles erklären«, hatte Ned gesagt. Doch Laura hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst, sodass der winzige, erigierte Pimmel auf der Stelle in sich zusammengeschrumpft war. Nach dieser erniedrigenden Szene hatten sie fast ein halbes Jahr lang nicht mehr miteinander geschlafen. Nur nach und nach hatten sie sich körperlich wieder angenähert. Aber der Gedanke, dass er dabei an die Sex-Bombe Britt dachte, ließ sie nie wieder los, obwohl ihre Freundin als Letztes etwas dafür konnte. Noch nie hatte Britt Lauras Verlobten irgendwelche Avancen gemacht. Aber wusste der Teufel, was sich in einem triebhaften Männerhirn so alles abspielte. Hinzu kam noch, dass Laura fünf Jahre älter als ihr Partner war. Vielleicht stand er ja doch auf diese jungen Dinger.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie natürlich auch heimliche Begierden. So wünschte sie sich zum Beispiel nichts sehnlicher, als einmal von einem oder gleich zwei Typen so richtig hart rangenommen zu werden. Am besten von Farbigen, die dem Volksmund nach die längsten und dicksten Stangen in der Hose hatten. Ned hingegen war einfach nur unerfahren und ein Softie.
Mit einem tiefen Seufzer dumpfer Bitternis ging die fünfunddreißigjährige Rothaarige ins Bad. Die Badezimmertür war mit Spiegelglas verkleidet und der Boden bestand aus warmem Eichenparkett, ganz anders als bei herkömmlichen Hotels mit den kühlen und steril wirkenden Fliesen. Über den beiden Waschbecken hingen Spiegel und weiße Hochschränke und neben der gläsernen Duschkabine gab es sogar einen Whirlpool als Wanne.
Noch immer roch es hier drin nach Reinigungsmitteln von der Art, die einem noch Wochen nach der Verwendung in der Nase stachen.
Sie brauchte jetzt unbedingt eine heiße Dusche, um wieder klar denken zu können.
Laura zog ihr Oberteil und ihre Jeans aus, danach öffnete sie die Häkchen ihres BHs und streifte ihn von ihren unnatürlich gewölbten Silikonbrüsten. Vor drei Jahren hatte sie ihre unförmigen, schlaffen, voluminösen Möpse künstlich vergrößern, sozusagen aufblasen lassen. Wobei dieser Begriff aufgrund der schweren Silikonkissen mehr als verfehlt war.
Abgesehen von den kleineren Liftings in ihrem Gesicht war dies ihre einzige größere Schönheits-OP gewesen.
Gebracht hat’s allerdings nicht viel. Du siehst immer noch wie ein Hefeteig aus, nur dass deine Nippel jetzt kerzengerade daraus hervorstechen!
Die Haut mit den gesprenkelten Sommersprossen wirkte im Neonlicht noch blasser, als sie ohnehin schon war. Die kurzen, mit Cellulite-Dellen übersäten Beine erinnerten an zwei Säulen, die das Gewicht des drallen Oberkörpers tragen mussten.
Die Spiegel boten wahrlich einen wenig schmeichelhaften Anblick.
Eigentlich hatte Laura sich vor der Hochzeit noch Fett an Schenkeln und Bauch absaugen und sich auch um ihr schwaches Bindegewebe kümmern wollen. Einen Termin dafür hatte sie in einer Beauty-Klinik in Frisco sogar schon gemacht. Der Grund dafür war ganz einfach: Sie strebte nach körperlichem Perfektionismus, obwohl sie meilenweit davon entfernt war.
So weit wie der Mond von der Erde.
Das lag vor allem daran, dass ihr Ex-Mann Oswald – sie war in jungen Jahren bereits einmal verheiratet gewesen – bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Dabei war er grausig verstümmelt, geradezu deformiert worden. Als sie ihn kurz darauf hatte identifizieren müssen, hatte sie außer seinem verschobenen, halb gespaltenen Gesicht nicht mehr viel gesehen, was irgendwie etwas mit ihm gemein gehabt hatte. Diesen grauenvollen Anblick hatte sie nie mehr vergessen. Er verfolgte sie sogar jetzt noch regelmäßig in ihren Albträumen.
Laura fürchtete sich nicht nur vor dem Altern, sondern vor allem auch davor, jemals entstellt zu werden. Das war der größte Horror für sie.
Deshalb strebte sie nach Vollkommenheit, und war mit ihrem Aussehen niemals zufrieden, selbst, wenn sie ausgesehen hätte, wie Britt. Hin und wieder gestand sie sich ein, eigentlich froh sein zu müssen, dass ein Mann wie Ned sich um sie bemühte. Selbst, wenn dieser nicht gerade aussah wie Brad Pitt … eher wie ein Hosenpisser!
Als Laura an die nächtliche Szene zurückdachte, sträubten sich ihr unwillkürlich die Nackenhaare, und das ganz bestimmt nicht, weil ihr Verlobter sich in die Hose gemacht hatte.
Schnell versuchte sie, auf andere Gedanken zu kommen, aber es gelang ihr nicht.
Aufgrund unseres äußeren Erscheinungsbildes werden weder Ned noch ich, jemals den anderen betrügen. Wir sind zwar irgendwie Seelenverwandte, vor allem aber hinsichtlich unserer optischen Unattraktivität vereint.
Keiner von ihnen musste jemals mit der Angst leben, dass ein anderer möglicher und attraktiverer Partner Interesse an ihnen hatte. Nicht einmal für einen harmlosen Flirt. Ohnehin wäre es für einen wie auch immer gearteten Neuanfang längst zu spät. Vor allem, wenn man als Frau Mutterglück erleben wollte.
Brüder und Schwestern im Geiste …
Das schweißte zusammen. Ein Leben lang. Das hoffte Laura zumindest. Aber vielleicht war das alles ja auch nur ein großer Irrtum. Wie hatte ihre verstorbene Großtante immer gesagt: Der Fehler liegt darin, zu glauben, dass es in einer Beziehung immer so weitergehen wird, wie bisher.
Vielleicht bewegten sich Ned und sie ja auch aus Angst im letzten Moment doch noch im Stich gelassen zu werden, unaufhaltsam auf einen Abgrund zu. Sie hatten längst aufgehört, etwas dagegen zu tun, ließen sich einfach nur treiben und warteten auf den Absturz. Was danach passierte, lag nicht in ihrer Hand. Vielleicht war es aber auch nur ein Mangel an Fantasie und Weitsicht oder sie hatten schlichtweg keinen richtigen Plan. Vielleicht war es ein bisschen von allem. Besser, sie redeten sich ein, dass dies eine Art Liebesprobe war, die es zu bestehen galt.
Was für trübe Gedanken für eine Frau, die kurz vor ihrer Hochzeit steht, schalt sich Laura selbst eine Närrin, während die feinen Wasserstrahlen aus dem Duschkopf ihren Körper massierten und die Glaswände der Kabine um sie herum beschlugen.
Nach der Dusche zog sie sich einen Bademantel über und legte sich auf das breite Boxspringbett. Allerdings fand sie es zu hart und die Kissen zu weich.
Kurz darauf ging sie wieder ins Badezimmer zurück, um eine Gesichtscreme zu holen, die sie vergessen hatte aufzutragen.
Als sie einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf, erschrak sie bis ins Mark. Die entsetzlichen Empfindungen, die sie so jäh überfielen, waren mit Worten nicht zu beschreiben. Es kam ihr auf einmal so vor, als ob die Welt um sie herum, wirbelnd und schäumend gegen die Finsternis und gegen eine dunkler werdende, abkühlende Sonne ankämpfte. Der Widerhall entsetzlichen Stöhnens kroch laut wie eine Explosion in ihre Gehörgänge, und überzog ihren vom warmen Wasser noch erhitzten Körper mit einer Gänsehaut.
Laura starrte auf ihr Spiegelbild, doch es zeigte nicht ihr jetziges Aussehen, sondern jenes, das sie vor dreißig Jahren gehabt hatte …
… ein junges, pummeliges und hässliches Mädchen mit rotem Haar, das in zwei Zöpfen seitlich vom Kopf abstand.
Sie lag auf dem Boden in einem Zimmer, das ihr seltsam vertraut vorkam. Über ihr befand sich ein wabernder, grausiger, eiskalter Schatten, der ihr ebenfalls wohlbekannt war. Doch jetzt sah er anders aus.
Ganz anders.
Kahl und haarlos der Schädel, abgeschliffen und von Strahlen verbrannt. Die Gesichtszüge schienen nur noch aus Muskeln und Fasern zu bestehen. Die Pupillen waren weiß und starr, irgendwie tot und doch von etwas Unheiligem beseelt.
Das Gewirr aus stinkendem Fleisch und Haut über ihr wisperte immer wieder dieselben vier Worte:
»Friss du kleine Schlampe!«
So fest sie konnte, presste sie die Lippen zusammen, denn in der rechten Faust des Schattens schimmerte etwas Rundes, Festes.
FRISS …
Milchfarbene Kernseife.
DU …
Die Faust des Schattens sauste nach unten und schmetterte die Seife auf ihren Mund. Ihre Lippen platzten auf wie reife Vogelbeeren. Die obere Zahnreihe barst, als bestünde sie aus Porzellan.
KLEINE …
Beinahe verschluckte sie sich an den spitzen Fragmenten der Schneidezähne, die von innen ihren Rachen aufschlitzten. Die Kernseife drang wuchtig in ihre Kehle, sodass sie neben dem eisernen Blutgeschmack auch die strenge, seifige Natronlauge und Natriumsalze schmecken konnte, die ihre Schleimhäute reizten.
SCHLAMPE …
Immer fester und tiefer stopfte der abgrundtief hässliche Schatten die Seife in ihren Rachen … solange, bis sie alles in ihrem Hals auszufüllen schien, sie keine Luft mehr bekam und nicht einmal mehr husten konnte.
Qualvoll und zuckend erstickte sie wie ein an Land gezogener Fisch …
Die Vision war so heftig, dass Laura wuchtig mit dem Rücken gegen die Duschkabine prallte. Die Glaswände erzitterten unter ihrem Gewicht.
Als Ned Harlan wenig später ins Zimmer kam, fand er seine Verlobte zitternd und wimmernd auf dem warmen Eichenparkettboden im Bad liegend. In ihren Augen stand namenloses Entsetzen.