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Freitag, 20. April 1945

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Der sechzehnjährige Armin Lehmann konnte sein Glück nicht fassen: In wenigen Augenblicken würde er seinem Idol Adolf Hitler vorgestellt werden, dem »Führer des Reiches und ersten Soldaten Deutschlands«, wie ihn die Propaganda jahrelang gefeiert hatte. Die Umstände des Zusammentreffens hatte er sich in seinen jugendlichen Fantasien freilich anders ausgemalt. Aufgeregt blickte der Hitlerjunge auf die Gratulantenschar, die sich um ihn herum zur Feier von Hitlers 56. Geburtstag zusammengefunden hatte. Vorbei die Zeiten, als dieser Geburtstag ihm und seinen Getreuen der Anlass gewesen war, sich selbst und ihr »Tausendjähriges Reich« glanzvoll zu inszenieren. Vorbei die Zeiten der prachtvollen Paraden, bei denen Hunderttausende Hitler zugejubelt hatten. Der Geburtstag des »Führers« fand nicht einmal mehr in den aktuellen Meldungen des Großdeutschen Rundfunks vom 20. April Erwähnung. Am Vorabend hatte Propagandaminister Goebbels seinen Meister zum letzten Mal in einer langen Rundfunkansprache gefeiert.

Im kraterübersäten Garten der Reichskanzlei waren nur noch drei dünne Reihen »verdienter Kämpfer« aufmarschiert, die dem »Führer« ihre Glückwünsche überbringen durften. In der Reihe vor Lehmann standen Soldaten der SS-Division Frundsberg, viele davon hochdekoriert mit Ritterkreuz. Hinter ihnen, in der zweiten, mittleren Reihe, hatten sich zwanzig Hitlerjungen aufstellen dürfen, die sich im Kampf um Berlin und anderswo ausgezeichnet hatten, unter ihnen auch Armin Lehmann. Da er der Größte in der Reihe war, stand er als Erster direkt neben dem »Reichsjugendführer« Artur Axmann. In der Reihe dahinter folgten Soldaten der eingeschlossenen Heeresgruppe Kurland, die eigens für diese Zeremonie nach Berlin eingeflogen worden waren.

„Deutschland ist noch immer das Land der Treue. Sie soll in der Gefahr ihre größten Triumphe feiern. Niemals wird die Geschichte über diese Zeit berichten können, dass ein Volk seinen Führer oder dass ein Führer sein Volk verließ. Das aber ist der Sieg.“

Joseph Goebbels, Rundfunkrede am 19. April zum Geburtstag Adolf Hitlers

Langsam, fast zögerlich trat Hitler im Garten der Reichskanzlei auf die Reihen der Soldaten und Hitlerjungen zu. Da es bereits wärmer geworden war, trug er keinen Mantel, sondern eine fellgraue Jacke und eine schwarze Hose. Mit gebeugtem Rücken schritt der »Führer« die erste Reihe ab. Einer der Soldaten überreichte ihm etwas – später hörte Lehmann, es sei ein Scheck für die Winterhilfe gewesen. Dann kam Hitler auf Axmann zu, der ihn mit der linken Hand grüßte, da er die rechte im Krieg verloren hatte. Für Lehmann war es ein Schock, als er Hitler nun zum ersten Mal aus der Nähe sah: »Er kam auf mich zu und fragte, wo ich im Einsatz war und so weiter. Ich war ganz erschrocken. Es war ja sein sechsundfünfzigster Geburtstag, aber er sah aus wie siebzig. Er gab mir erst die rechte Hand und dann auch die linke Hand, und er zitterte am ganzen Körper, auch sein Gesicht zitterte. Das Einzige, was noch stark erschien, war sein Blick, der Ausdruck, sonst sah er aus wie ein Greis.«

Mit Axmann im Gefolge schritt Hitler die Reihe der Hitlerjungen ab, tätschelte den einen oder anderen an der Wange oder Schulter und sagte, dass die Schlacht um Berlin unter allen Umständen gewonnen werden müsse. Kurz darauf brach er ab. Er hatte wohl selbst das Gefühl, nicht mehr überzeugen zu können, es sei denn, durch Mitleid – das war jedenfalls der Eindruck seines bei der Zeremonie anwesenden Rüstungsministers Albert Speer. Am Ende rief Hitler mit müder Stimme: »Heil euch!« Doch niemand antwortete. »Nur in der Ferne«, so heißt es im Bericht des Reichsjugendführers Artur Axmann, »hörte man das Grollen der Front, kaum noch dreißig Kilometer entfernt.«

Die misslungene Gratulationscour im Garten der Berliner Reichskanzlei war Symbol für die desolate Stimmung an der Spitze des »Dritten Reiches«. Noch ein Mal, zum letzten Mal, hatte sich die Führung des Dritten Reiches an diesem Mittag inmitten der zerstörten Reichshauptstadt versammelt, um ihrem »Führer« zum Geburtstag zu gratulieren. Noch ein Mal, zum letzten Mal, hatte sich Hitler hierfür aus seiner Katakombe unter der Reichskanzlei in die oberen, noch halbwegs festlichen Räume begeben. Die mächtigsten Männer des untergehenden Reiches, Hermann Göring, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Martin Bormann, Albert Speer, Joachim von Ribbentrop, und einige Gauleiter sowie die Spitzen der Wehrmacht waren gekommen, um ihre Glückwünsche zu überbringen. Nacheinander traten sie an Hitler heran, »der ihre Glückwünsche den Umständen entsprechend kühl und fast abwehrend entgegennahm«, wie einer der Anwesenden bemerkte. Nach dem kurzen Empfang, bei dem eine heitere Stimmung nicht aufkommen wollte, folgten die Paladine Hitler zurück in den Bunker, wo sie an der anschließenden Lagebesprechung teilnahmen.

Die militärische Lage des Reiches und seiner Hauptstadt war verzweifelt, das war allen Anwesenden bewusst. Ende März war die Rheinfront, die letzte große Verteidigungslinie im Westen, zusammengebrochen. Aus ihren Brückenköpfen bei Remagen und Wesel waren britische und amerikanische Truppen im Eiltempo in das Innere des Reiches vorgedrungen und hatten im Ruhrgebiet die komplette Heeresgruppe B eingeschlossen, die am 16. April kapitulieren musste. 300 000 deutsche Soldaten gingen in Gefangenschaft, während ihr Oberbefehlshaber Feldmarschall Walter Model sich in einem Waldstück südlich von Duisburg erschoss. Schon am 12. April erreichten die Amerikaner südlich von Magdeburg und am 19. April die Briten bei Lauenburg die Elbe. Für einen kurzen Augenblick bot sich ihnen die Chance, Stalin zuvorzukommen und vor den Truppen der Roten Armee Berlin einzunehmen. Insbesondere der englische Premier Winston Churchill bedrängte die amerikanische Führung, sich über die bei der Konferenz von Jalta verabredeten Besatzungszonen hinwegzusetzen und so weit wie möglich nach Osten vorzustoßen. Doch Washington winkte ab. »Berlin ist kein strategisches Ziel mehr«, diktierte der Oberkommandierende der westalliierten Truppen, General Eisenhower, seinen Generälen. Statt über die Elbe auf Berlin zu marschieren, dirigierte er seine Truppen nach Süddeutschland und Österreich.

Währenddessen hatte die Rote Armee in den Morgenstunden des 16. April mit einer riesigen Streitmacht den lang erwarteten Großangriff auf Berlin und den Rest des verbliebenen Reiches begonnen. Drei sowjetische Armeegruppen mit insgesamt 2,5 Millionen Soldaten, 6250 Panzern und Sturmlafetten, 41 000 Geschützen und Granatwerfern waren an den Ufern der Oder und der Neiße angetreten, um die nur noch 60 Kilometer entfernte Reichshauptstadt zu erobern. Im Norden stand die 2. Weißrussische Front unter Marschall Konstantin Rokossowskij. Weiter im Süden bei Küstrin massierte sich die 1. Weißrussische Front unter dem Oberbefehl von Marschall Georgij Schukow. Seine Heeresgruppe war Berlin am nächsten, daher reklamierte Schukow für sich die Ehre, die Hauptstadt des Reiches einzunehmen. »Der Gegner ist auf dem kürzesten Weg nach Berlin zu zerschlagen. Die Hauptstadt des faschistischen Deutschland ist einzunehmen und über ihr das Banner des Sieges zu hissen«, lautete der Tagesbefehl, mit dem er seine Truppen auf die letzte Schlacht einstimmte. Schukow wusste, dass er nicht der Einzige war, der sich Berlin als Siegestrophäe sichern wollte. Sein größter Rivale war der Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front, Marschall Iwan Konjew, dessen Heeresgruppe etwas weiter südlich an den Ufern der Neiße zum Sprung ansetzte. Ein stummer Wettkampf war zwischen den beiden Marschällen entbrannt, der durch Stalin bewusst angestachelt wurde. In den Augen des misstrauischen Diktators war der Kriegsheld Schukow bereits allzu populär geworden. Noch brauchte er ihn, um Hitler endgültig niederzuringen, danach würde man sehen. Auf jeden Fall hielt es Stalin für klug, den selbstbewussten und erfolgsverwöhnten Marschall mit Hilfe seines ehrgeizigen Rivalen Konjew in Schach zu halten.

Um 3 Uhr morgens am 16. April stießen auf Schukows Befehl 300 000 Rotarmisten vom Brückenkopf bei Küstrin in Richtung Seelower Höhen vor, eine hufeisenförmige Hügelkette im Nordwesten der Stadt Seelow. Das Inferno begann mit einem Dauerfeuer aus mehr als 20 000 Geschützen. Ihr Mündungsfeuer und der Flammenschein der detonierenden Granaten tauchten die Hügelkette in ein gespenstisches Licht und hinterließen bei Angreifern und Verteidigern einen unauslöschlichen Eindruck. »Es war eine Art Höllengewitter, wie man es sich einfach nicht vorstellen kann«, schilderte ein dort eingesetzter Hitlerjunge den Angriff. »Man sitzt im Loch, und die Minuten werden zu Viertelstunden, und die Viertelstunden werden zu Ewigkeiten. Die Zeit läuft nicht mehr. Alles wurde umgepflügt mit fürchterlichen Opfern. Da wussten wir alle: Das war das Ende unserer Kindheit – im Grunde das Ende unserer Jugend. Nichts würde mehr so sein wie bisher.« Verbissen kämpfte die deutsche Abwehr gegen den vielfach überlegenen Angreifer. Wie schon oft zuvor seit den Tagen von Stalingrad hatte Hitler ein Zurückweichen der Truppe kategorisch ausgeschlossen. »Widerstand bis zum letzten Mann«, lautete die stets aufs Neue wiederholte Parole.

Tatsächlich konnten die deutschen Soldaten und Volkssturmangehörigen die Rote Armee in den ersten Tagen unter empfindlichen Verlusten zurückschlagen. Doch rücksichtslos jagte Schukow seine Truppen in immer neue Angriffe auf die Seelower Höhen – zumal ihm bewusst war, dass sein Konkurrent Konjew im Süden die Neiße überquert hatte und seine Heeresgruppe zügig in Richtung Westen vorankam. Erneut pochte Schukows Nebenbuhler darauf, an der Eroberung Berlins beteiligt zu werden – und tatsächlich erteilte ihm Stalin jetzt die Genehmigung, mit zwei Panzerarmeen Richtung Norden auf Zossen und Berlin einzuschwenken.

Zeitgleich setzte sich nun aber auch an den Seelower Höhen das vielfache Übergewicht der Angreifer gegen die zermürbte Verteidigung durch. Am 19. April war die gesamte Hügelkette von Seelow bis hinauf nach Wriezen in sowjetischer Hand. Mehr als 20 000 Tote hatte der Kampf um die Seelower Höhen Schukows Heeresgruppe gekostet, während die Verluste der Deutschen mit etwa 10 000 Soldaten wesentlich geringer ausfielen. Doch nach drei Tagen Kampf hatte Schukow sein Ziel erreicht. Zwischen seinen Truppen und Berlin gab es keine zusammenhängende deutsche Front mehr. Bereits am nächsten Tag, dem 20. April, eroberten seine Armeen das nur gut 15 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Städtchen Bernau. Der Endkampf um Berlin, die letzte Schlacht, hatte begonnen.

Die verzweifelte militärische Lage im Westen und Osten des Reiches, wo der Feind nun bereits bis auf wenige Kilometer an Berlin herangekommen war, bot wenig Ermutigendes für die hochkarätige Gratulantenschar, die sich bei der Lagebesprechung um Hitler drängte. Hauptthema war das schnelle Vordringen der Roten Armee Richtung Elbe, das ihre baldige Vereinigung mit den dort schon stehenden Amerikanern und Briten und damit eine Trennung des Reiches in Nord und Süd immer wahrscheinlicher machte. Hitler setzte daher eine bereits vorbereitete Weisung in Kraft, die den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, für diesen Fall den Oberbefehl im Nordraum zuwies. Im Süden sollte der Oberbefehlshaber West, Feldmarschall Albert Kesselring, das Kommando übernehmen.

Bis zum Vorabend hatte Hitler noch mit dem Gedanken gespielt, sich in sein Domizil auf dem Obersalzberg abzusetzen und von dort aus den Endkampf weiterzuführen. Goebbels hatte ihm heftig abgeraten, »ein Mann von seiner Größe dürfe sich nicht in seinem Sommerhaus verkriechen«. Nur in Berlin, auf das die Augen der Welt gerichtet seien, könne ein »moralischer Welterfolg« erzielt werden. Wahrscheinlich war es dieser Hinweis, der den stets auf Wirkung bedachten Diktator überzeugte. Er sei mit sich über Nacht ins Reine gekommen und werde in der Hauptstadt bleiben, erklärte Hitler den überraschten Anwesenden. Als diese ihn nach kurzem Schweigen bestürmten, Berlin, »solange es noch ginge«, zu verlassen und den Kampf vom Obersalzberg weiterzuführen, wies Hitler alle Argumente und Bitten zurück. »Wie soll ich die Truppen zum entscheidenden Kampf um Berlin bewegen, wenn ich mich im gleichen Augenblick in Sicherheit bringe.« Dem anwesenden Albert Speer schien es, als wäre Hitler in diesem Augenblick von seiner eigenen Entscheidung, in Berlin zu bleiben und sein Leben aufs Spiel zu setzen, selbst ergriffen gewesen.

Während des langen Vortrags saß Hermann Göring wie auf glühenden Kohlen. Der Reichsmarschall, laut Erlass Hitlers noch immer zweiter Mann im Staat, war entschlossen, die Stadt auf den immer schmaler werdenden Fluchtkorridoren so schnell wie möglich Richtung Süddeutschland zu verlassen. Schon seit Monaten hatte er seine Flucht aus Berlin vorbereitet. Als im Januar 1945 sowjetische Truppen nahe an die heile Welt seines pompösen Landsitzes Karinhall gerückt waren, hatte er seine Frau Emma und die gemeinsame Tochter Edda nach Bayern gebracht. Während Dresden im Inferno unterging, schickte er erste Ladungen seiner Kunstschätze per Lastwagen nach Berchtesgaden, wo sie in einem Bergstollen versteckt wurden.

In der Reichskanzlei war er an diesem Tag nicht mehr in seiner silbergrauen Uniform mit den fünf Zentimeter breiten, goldgeflochtenen Achselstücken erschienen, sondern hatte sich in ein blaugraues Tuch gezwängt, auf das schlicht sein Rangabzeichen, der goldene Reichsmarschall-Adler, geheftet war. »Wie ein amerikanischer General«, flüsterte einer der Anwesenden, doch Hitler schien sich an der Verwandlung seines Paladins nicht zu stören. Kaum war die Lagebesprechung beendet, die Generäle verabschiedet, als sich Göring verstört an Hitler wandte. »Göring erklärte«, schilderte Albert Speer die Szenerie, »er habe in Süddeutschland dringendste Aufgaben zu erledigen. Hitler sah ihn geistesabwesend an. Mit gleichgültigen Worten gab er Göring die Hand, ließ sich nicht anmerken, dass er ihn durchschaute. Ich stand wenige Schritte von beiden entfernt und hatte das Gefühl eines historischen Augenblicks. Die Führung des Reiches ging auseinander.«

Der Abgang Görings war das Startsignal für den großen Exodus der Parteioberen und Minister. Nacheinander drängten sich die Gratulanten an Hitler heran, um sich mit einigen verlegenen Worten zu verabschieden und Berlin den Rücken zu kehren. »Hitler war von dem Wunsch seiner Paladine, ihn jetzt zu verlassen, tief enttäuscht, ja erschüttert. Er hat lediglich mit dem Kopf genickt und verabschiedete sich wortlos von den Männern, die er einst mächtig gemacht hatte«, sagte sein langjähriger Adjutant Julius Schaub später aus. Am Abend rief Hitler gegen 22 Uhr die Mitglieder seines persönlichen Stabes zusammen und erklärte, dass er durch die Ereignisse der letzten Tage gezwungen sei, einen Teil von ihnen nach Süddeutschland zu schicken. Vielleicht werde er nachkommen, setzte er beim Abschied hinzu, obwohl er sich bereits dagegen entschieden hatte.

Zu denen, die in den nächsten Tagen nach Berchtesgaden ausgeflogen wurden, gehörten unter anderem Hitlers Sekretärinnen Johanna Wolf und Christa Schroeder sowie sein Leibarzt Dr. Theodor Morell, der ihn seit Jahren mit Aufputschspritzen versorgt hatte. Auch seinen Lieblingsdiener Wilhelm Arndt schickte Hitler mit einer Kiste voller Akten und Schriftstücke in den Süden. Seine Maschine, eine Ju 352 der Führerstaffel, sollte als einzige unterwegs bei Börnersdorf abstürzen und so Jahrzehnte später den Ausgangspunkt für eine der größten Fälschungen des 20. Jahrhunderts bieten: die »geheimen Tagebücher Adolf Hitlers«.

Nachdem er seine Mitarbeiter verabschiedet hatte, zog sich der Diktator früher als üblich in seine privaten Zimmer im Führerbunker zurück. Zur gleichen Zeit gab Martin Bormann die Weisung aus, dass die obersten Reichsbehörden Berlin zu verlassen hätten, bevor die letzte Straße nach Süden blockiert sei. Heimlich hoffte er, dass auch Hitler sich noch entschließen würde, aus Berlin zum Obersalzberg zu flüchten. In Windeseile breitete sich die Nachricht aus, dass der Weggang aus Berlin für die Spitzen des Regimes freigegeben sei.

Eine lange Reihe von Antragstellern bildete sich am Kommandantenhaus in der Nähe des Berliner Schlosses, wo die Passierscheine ausgestellt wurden. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, meinte einer der Offiziere, die den Ansturm der Antragsteller zu bewältigen hatten. Mehr als 2000 Passagierscheine wurden in nur wenigen Stunden ausgegeben, während Greifkommandos die Hauptstadt auf der Suche nach wehrtüchtigen Männern für die Endschlacht um Berlin durchkämmten. In der Nacht und am nächsten Morgen rollten Fahrzeugkolonnen mit Hitlers Elite aus Berlin heraus nach Westen, um sich dem drohenden Zugriff der Roten Armee zu entziehen.

Einer, der bleiben musste, war Otto Busse. Seit September 1944 diente der Soldat der Waffen-SS als Ordonanz in der Reichskanzlei. Drei Jahre Fronteinsatz in der Leibstandarte Adolf Hitler lagen hinter dem Zweiundzwanzigjährigen, dreimal war er verwundet worden, zuletzt in der Normandie, von wo aus er in eine Genesendenkompanie nach Berlin verlegt worden war. Eines Morgens hatte sein Kompaniechef sich vor ihm aufgestellt und erklärt, er solle sich in der Personalstelle der Reichskanzlei melden. Die Versetzung war Busse als großer Glücksfall erschienen; für ihn war der Fronteinsatz erst einmal vorbei – und noch besser: In der Küche der Reichskanzlei, das konnte er bald feststellen, gab es so viel Eintopf, wie er nur essen wollte. Darüber hinaus war sein Dienst nicht besonders hart. Mit anderen Kameraden zusammen betreute er die zahlreichen Generäle und hohen Stabsoffiziere, die im ständigen Wechsel zu den täglichen Lagebesprechungen kamen und gingen und manchmal auch zum Schlafen in den Gästezimmern unterhalb der alten Reichskanzlei untergebracht wurden. Die Uhrzeiten seines Dienstes waren freilich alles andere als normal. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass das Leben in der Reichskanzlei und im Führerbunker dem Rhythmus Hitlers zu folgen hatte, der die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machte. Viele Lagebesprechungen begannen erst nach Mitternacht und dauerten bis in die frühen Morgenstunden. Erst wenn Hitler sich endlich zur Ruhe begab, wurde es friedlicher, bis in den frühen Nachmittagsstunden erneut die Lagebesprechungen einsetzten.

Der Tag begann für Otto Busse mit einer erfreulichen Überraschung: Während er eifrig herumwirbelte, um für die hochkarätige Gästeschar zu sorgen, stand plötzlich seine Verlobte Inge Meier vor ihm. Bei einem früheren Genesungsurlaub in Berlin hatten die beiden sich kennen und lieben gelernt. Als Busse in die Reichskanzlei versetzt wurde, hatten sie sich häufig sehen können, bis Inge zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und auf ein Gut nach Mecklenburg geschickt worden war. Von dort war sie geflohen, als die Russen näher rückten. Busse war es gelungen, ihr eine Stelle beim Telegrafenamt in Berlin zu verschaffen. Nun, da der Donner der russischen Geschütze in ganz Berlin zu hören war, hatte sie erneut ihre Siebensachen gepackt, um bei ihm in der Reichskanzlei Schutz zu suchen.

Busse überlegte nur kurz. Was in normalen Zeiten undenkbar gewesen wäre, erwies sich jetzt als unproblematisch. Schon einige Bedienstete der Reichskanzlei hatten ihre Frau, Verlobte oder Freundin bei sich untergebracht. Die Reichskanzlei galt wegen ihrer vielen Bunker als einer der sichersten Orte in Berlin. Niemand schien sich an diesem eigenmächtigen Handeln zu stören, zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt. Die strengen militärischen Umgangsformen, die im Hauptquartier bislang geherrscht hatten, lösten sich auf, ohne dass von höherer Stelle dagegen eingeschritten wurde. Die Keller unter der Reichskanzlei verwandelten sich allmählich in ein Feldlager. Vor allem in das Bunkerlabyrinth unter der Neuen Reichskanzlei – etwas abseits von Hitlers Bunker – drängte sich ein wirres Gemenge von Mächtigen und Schutzsuchenden. Hitlers Sekretär Martin Bormann hatte hier sein Quartier aufgeschlagen, ebenso Hitlers Chefpilot Hans Baur und der Verbindungsoffizier Himmlers im Führerhauptquartier, SS-Gruppenführer Hermann Fegelein. Hier waren auch Hitlers Sekretärinnen, die Wachmannschaften, Ordonanzen und Funker untergebracht. In einem anderen Teil der Räume war ein Notlazarett eingerichtet worden, in dem Bombenopfer, verwundete Soldaten, Schwangere und Kinder ihre Zuflucht gefunden hatten. Mit jedem Tag stieg ihre Zahl, bis die Überfüllung fast unerträglich wurde.

Einen besonderen Termin hatte in dieser Nacht der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Auf dem Rückweg von der Reichskanzlei in das nördlich von Berlin gelegene Sanatorium Hohenlychen, wo er, von tiefen Depressionen gequält, Quartier genommen hatte, äußerte er sich kopfschüttelnd über »die im Bunker«, die sämtlich »den Verstand verloren« hätten. Nicht weniger verstiegen waren allerdings seine eigenen Fantasien, wie ein Ausweg aus der scheinbar hoffnungslosen Lage noch möglich sein solle. Angetrieben von seinem Untergebenen, dem Chef der Auslandsspionage, Walter Schellenberg, und gequält von der Angst um sein Leben, träumte Himmler von einem Separatfrieden mit dem Westen, den er – da Hitler am Ende schien – persönlich aushandeln wollte. Als Reichsführer SS, Minister des Innern und Chef des Ersatzheeres wollte er Briten und Amerikanern seine vermeintliche Macht und Hilfe anbieten, um gemeinsam den Bolschewismus zu schlagen.

Dass mit ihm, dem Vollstrecker des millionenfachen Mordes, niemand verhandeln würde, wollte der Reichsführer SS nicht wahrhaben. Stets auf Symbole bedacht, überlegte er bereits, ob er Eisenhower bei einem Treffen die Hand geben solle oder nicht. Um den Boden für Verhandlungen mit dem Westen vorzubereiten, hatte er sich in das Landgut seines Leibarztes Felix Kersten in Hartzwalde bei Berlin für diese Nacht einen ungewöhnlichen Gast eingeladen. Getreu Hitlers Wahn, das internationale Judentum beherrsche die Welt, hatte er einen Vertreter ebendieser »Macht« zu sich gerufen. Unter strengster Geheimhaltung hatte die SS den Vertreter des Jüdischen Weltkongresses, Norbert Masur, aus dem neutralen Schweden eingeflogen.

Als Himmler ihm jetzt gegenübertrat, grüßte er ihn mit überraschender Freundlichkeit: »Willkommen in Deutschland, Herr Masur! Es ist Zeit, dass ihr Juden und wir Nationalsozialisten die Streitaxt begraben.« Masur antwortete nüchtern: »Dafür ist zu viel Blut zwischen uns. Aber ich hoffe, dass unsere Begegnung vielen Menschen das Leben retten wird.« Masur legte eine Namensliste vor: Wenigstens diese Menschen sollten freikommen, darunter 1000 Jüdinnen aus Ravensbrück und die holländischen Juden in Theresienstadt. Himmler zeigte sich entgegenkommend: Natürlich, alle Häftlinge auf den Listen würden entlassen werden – nein, Gefangene würden ab jetzt nicht mehr »evakuiert«, das heißt auf Todesmärsche geschickt werden. Weitere Abmachungen wurden in dieser Nacht nicht getroffen, doch allein die genannten Vereinbarungen hätten Hitler, wenn er davon erfahren hätte, zum Toben gebracht. Aber erst Tage später und auf andere Weise sollte er vom Verrat seines »getreuen Heinrich« erfahren.

Während die einen durch Flucht, die anderen durch Verrat ihre Haut zu retten suchten, war es im Führerbunker nach Hitlers Rückzug ruhig geworden. Unter denen, die nach den aufwühlenden Ereignissen des Tages nicht schlafen konnten, war Hitlers langjährige Geliebte Eva Braun. Hitler hatte ihr geraten, nicht nach Berlin zu kommen, sondern auf dem Obersalzberg zu bleiben. Doch Anfang März 1945 hielt sie es nicht mehr aus, wie ihre Vertraute Margarete Mitlstrasser schilderte: »Freiwillig ist sie in das belagerte Berlin rausgefahren, am 7. März ‘45, mit dem Sonderzug. Und dann ist sie oben geblieben – obwohl Hitler entsetzt war und sie sofort zurückschicken wollte. Aber sie war nicht mehr davon abzubringen.«

Selbstzerstörerische Torheit oder letzter Liebesbeweis? »Jetzt zeigte sich, dass die Freundschaft Evas zu Hitler mehr war als die spekulative Schönwetterfreundschaft einer lebensgierigen kleinen Frau; und jetzt zeigte sich auch, dass Eva für Hitler mehr war als ein Spielzeug für wenige Stunden«, schrieb Evas Onkel Alois später. Was Hitlers Geliebte wollte, war die lang ersehnte Anerkennung, wenn nötig, um den Preis des Lebens. Im Bunker war sie eine der wenigen, die noch Lebenslust zeigten. Als Hitler sich nach dem Geburtstagsempfang in seine Bunkerzimmer zurückgezogen hatte, sammelte Eva Braun die verbliebenen Gäste ein und führte sie hoch zu einer Nachfeier in der »Führerwohnung« der Reichskanzlei.

Traudl Junge, die als Sekretärin bei Hitler arbeitete, hat das letzte Fest in der Reichskanzlei beschrieben: »Wen sie traf, wer ihr über den Weg lief, den nahm Eva Braun mit hinauf in ihr altes Wohnzimmer im ersten Stock, das noch erhalten geblieben war, wenn auch die schönen Möbel drunten im Bunker standen. (...) Sogar Reichsleiter Bormann wich von Hitlers Seite und verließ seinen Schreibtisch, der dicke Theo Morell kam aus seinem sicheren Bunker trotz des ständigen Dröhnens des Artilleriefeuers. Irgendwoher brachte jemand ein altes Grammophon mit einer einzigen Schallplatte. Blutrote Rosen erzählen dir vom Glück ... Eva Braun wollte tanzen. Ganz gleich, mit wem, und sie riss alle mit in einen verzweifelten Taumel, wie jedermann, der schon den leichten Hauch des Todes gefühlt hat. Es wurde Champagner getrunken und schrill gelacht, und ich lachte mit, weil ich nicht weinen wollte. Dazwischen ließ eine Explosion die Gesellschaft für einen Moment verstummen, eilte einer zum Telefon, holte ein anderer wichtige Meldungen ein. Aber keiner sprach vom Krieg, keiner vom Tod. Gespenster gaben hier ein Fest. Und immer erzählten rote Rosen vom Glück ...«

Die letzte Schlacht

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