Читать книгу Die letzte Schlacht - Guido Knopp - Страница 5
Samstag, 21. April 1945
ОглавлениеAm frühen Morgen stand die 30. Sowjetische Artilleriebrigade, die zu Schukows Front gehörte, südlich von Bernau, nicht weit vom Berliner Ring. Am Tag zuvor hatte Oberfeldwebel Alexander Ribowskij eine Karte von Berlin und den Auftrag erhalten, die Koordinaten für den Beschuss an diesem Morgen zu errechnen. Schon diverse Male hatte er eine ähnliche Aufgabe gelöst, die Rechnung mit etwas Trigonometrie und analytischer Geometrie fiel ihm nicht schwer, auch wenn die Entfernung etwas großer war als sonst üblich. Und doch hatte er diesmal ein besonderes Gefühl verspürt, als ihm sein Vorgesetzter die Ziele nannte, für die er die Koordinaten errechnen sollte: Reichskanzlei und Reichstag – das tatsächliche und das symbolische Zentrum der Macht im Herzen des Deutschen Reiches.
»Das war schon ein besonderes Gefühl. Die Stimmung war sehr gut bei uns. Wir waren begeistert, dass wir nun in den letzten Kampf zögen, und dann würde Frieden sein. Wir spürten den Frieden schon und sehnten ihn herbei. Manche von uns waren schon viereinhalb Jahre an der Front. In der sowjetischen Armee erhielt ein Soldat oder Unteroffizier keinen Urlaub. Man verließ seine Truppe nur, wenn man verwundet oder tot war. Jetzt waren wir begeistert und glaubten, keine Macht könne uns stoppen. Alle waren überzeugt, dies war der letzte Kampf und der Weg führte nur nach vorne«, erinnert er sich heute. Während die Kanoniere sich bereit machten, rechnete Ribowskij ein letztes Mal die Koordinaten nach. Alles schien in Ordnung. Der Beschuss konnte beginnen.
Der Morgen begann für Hitler mit einer unliebsamen Überraschung. Um 9.30 Uhr weckte ihn sein Diener Heinz Linge, der durch Artillerieeinschläge im Stadtzentrum aufgeschreckt worden war. In dichter Folge waren Granaten am Brandenburger Tor, am Reichstag und bis zum Bahnhof Friedrichstraße eingeschlagen. Unmöglich konnte die Rote Armee schon so nahe sein! In heller Aufregung rief Hitler den Generalstabschef der Luftwaffe, Karl Koller, an: »Wissen Sie, dass Berlin unter Artilleriefeuer liegt? Das Stadtzentrum.« – »Nein.« – »Hören Sie das nicht?« – »Nein! Ich bin in Wildpark-Werder.« Hitler weiter: »Starke Aufregung in der Stadt über Artillerie-Fernfeuer. Es soll eine Eisenbahnbatterie schweren Kalibers sein. Die Russen sollen eine Eisenbahnbrücke über die Oder haben. Die Luftwaffe hat die Batterie sofort auszumachen und zu bekämpfen.«
Vergebens versuchte Koller klarzustellen, dass es gar keine intakte Eisenbahnbrücke über die Oder mehr gab und der Beschuss bereits von Feldgeschützen der vorrückenden Einheit kam, die über Nacht in die Vororte Berlins eingerückt war. Hitler witterte hinter jedem Widerspruch Verrat, war zu einem halbwegs normalen Gespräch nicht mehr fähig. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen die Einsicht, dass die deutsche Verteidigung an der Oder von der Roten Armee zerschlagen worden war und die Eroberung Berlins nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein konnte. Umso lieber ließ er sich von seinem Propagandaminister Goebbels die eigenen, fadenscheinig gewordenen Parolen der Siegesgewissheit wiederholen. Der gläubige Geselle suchte wie er selbst nur allzu gern Trost in vermeintlichen historischen Parallelen.
Über dem Schreibtisch im Arbeits- und Wohnraum seines Bunkers hatte sich Hitler ein Gemälde Friedrichs des Großen aufhängen lassen. Das verzweifelte Ausharren des Preußenkönigs, der im Siebenjährigen Krieg einer Niederlage gegen eine übermächtige Koalition nur durch allerlei glückliche Umstände entronnen war, war für Hitler ein häufig beschworenes Vorbild für den eigenen Kampf. Um ihn aufzumuntern, las Goebbels ihm aus Thomas Carlyles Geschichte Friedrichs des Großen vor: »Tapferer König, warte noch eine Weile, dann sind die Tage deines Leides vorbei, schon steht hinter den Wolken die Sonne deines Glücks und wird sich dir bald zeigen. Am 12. Februar starb die Zarin, das Wunder des Hauses Brandenburg war eingetreten.« Mit Tränen in den Augen lauschte Hitler Goebbels Worten. Beide suchten in geschichtlichen Vorbildern brüchigen Halt, um die inneren Krisen und Zweifel zu bestehen.
Die Abfolge der verheerenden Niederlagen, das verzweifelte Ankämpfen gegen das Unvermeidliche hatten Hitler gezeichnet. »Er bot körperlich ein furchtbares Bild. Er schleppte sich mühsam und schwerfällig, den Oberkörper vorwärts werfend, die Beine nachziehend, von seinem Wohnraum in den Besprechungsraum des Bunkers. Ihm fehlte das Gleichgewichtsgefühl; wurde er auf dem kurzen Weg aufgehalten, musste er sich auf eine der hierfür an beiden Wänden bereitstehenden Bänke setzen oder sich an seinem Gesprächspartner festhalten. Er hatte die Gewalt über den rechten Arm verloren, die rechte Hand zitterte ständig. Die Augen waren blutunterlaufen; obgleich alle für ihn bestimmten Schriftstücke mit dreimal vergrößerten Buchstaben auf besonderen ›Führerschreibmaschinen‹ geschrieben waren, konnte er sie nur mit einer scharfen Brille lesen. Aus den Mundwinkeln floss ständig der Speichel – ein Bild des Jammers und des Grausens«, beschrieb ein älterer Generalstabsoffizier seine Eindrücke.
Schon in früheren Jahren hatte in den Hauptquartieren eine merkwürdige Atmosphäre geherrscht. »Halb Kloster, halb Konzentrationslager«, hatte einer seiner engsten Berater, General Alfred Jodl, das Leben im innersten Machtbereich um Hitler einmal beschrieben. Nun, im Bunker der Reichskanzlei, bewegte sich der Diktator endgültig in einer düsteren Scheinwelt. Acht Meter unter der Erde im stetig grellen Licht der Glühbirnen verschwamm der Unterschied zwischen Tag und Nacht vollends, die letzte Lagebesprechung endete meist gegen 6 Uhr morgens. Vernünftige Ratschläge zur militärischen oder politischen Situation nahm der Kriegsherr längst nicht mehr entgegen. War eine deutsche Abwehrlinie durchbrochen, kannte er hierfür nur einen Grund: Verrat, wie auch die gesamte Ostfront nur durch Verrat zusammengebrochen sei. Doch obgleich sein Gesicht und sein Körper von Krankheit und Erschöpfung gekennzeichnet waren, entfaltete Hitler noch immer eine erstaunliche Suggestionskraft. Noch immer war er der Dreh- und Angelpunkt des »Dritten Reiches«. Gewiss häuften sich im Angesicht der Niederlagen die Eigenmächtigkeiten seiner Paladine und Generäle, aber noch immer hielt er die Zügel in der Hand. Solange er den Willen dazu hatte, wurde weitergekämpft. Niemand in seiner Umgebung hatte den Mut, offen gegen diesen Wahnsinn zu rebellieren.
Unter denen, die Hitlers Durchhaltebefehle treu befolgten, war auch Generaloberst Alfred Jodl. Als Chef des Wehrmachtsführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht war er seit Kriegsbeginn Hitlers engster militärischer Berater. An mehr als 5000 Lagebesprechungen hatte er nach eigener Berechnung im Hauptquartier teilgenommen und die großen Siege der Anfangsjahre und die immer verheerenderen Niederlagen von hier verfolgt. Schon seit Frühjahr 1942, so erklärte er in diesen Wochen, sei er sich im Klaren gewesen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Und spätestens seit der gescheiterten Ardennenoffensive im Dezember 1944, so bekannte er später, habe auch Hitler den Krieg endgültig verloren gegeben: »Sein weiteres Verhalten und viele seiner Befehle sind nur noch mit dem Verhalten eines Schiffbrüchigen zu erklären, der, wenn auch ohne die mindeste Aussicht auf Errettung, eben schwimmt, solange seine Kräfte reichen. Der Gedanke, durch einen sofortigen Schluss die letzten Opfer und Zerstörungen im Sinne des Volkes zu vermeiden, ist ihm wohl nicht näher in seine Überlegungen gekommen. (...) Was ihm vorschwebte, war wohl ein heroischer Untergang, aus dem vielleicht spätere Geschlechter die Kraft zur Wiederauferstehung finden würden ...«
Früher als die meisten hat Jodl begriffen, dass es Hitler nicht mehr um den Sieg, sondern um die Inszenierung seines Abgangs ging. Die Aussicht auf ein großes Nachleben in der Geschichte war die einzige Quelle, aus der der Diktator angesichts der auf ihn niederprasselnden Katastrophen noch eine gewisse Befriedigung schöpfte. Ein großes Drama, das hatten ihn die Opern seines Lieblingskomponisten Richard Wagner gelehrt, endet immer in einem Weltuntergang und in Götterdämmerung. Trotz dieser Einsichten ist Jodl und den anderen Mächtigen in Hitlers engster Umgebung offenbar nicht der Gedanke gekommen, dass es ihre Aufgabe hätte sein können, die eitle Selbstinszenierung des Diktators zu stören, die den Tod Hunderttausender als Kulisse verlangte. Abseits der später hervorgekehrten Gehorsamspflicht scheinen die dunklen Farben des Untergangs auch ihn fasziniert zu haben.
„Wenn wir so schmachvoll von der Weltbühne abtreten würden, dann haben wir zwecklos gelebt. Ob man das Leben noch eine Zeit lang fortführt oder nicht, ist völlig gleichgültig. Lieber den Kampf ehrenvoll beenden, als in Schande und Unehre ein paar Monate oder Jahre weiterleben.“
Adolf Hitler, 25. April 1945
Die Schlacht um Berlin gleiche dem »Kampf der Ostgoten am Vesuv«, teilte er, offenkundig ergriffen, seiner Frau in diesen Tagen mit. Wie andere hohe Generäle des Regimes setzte er das Leben Hitlers mit dem Schicksal Deutschlands gleich. In der Treue zu Hitler glaubte er, Deutschland die Treue zu halten – obwohl er sah, dass Hitler das Reich in eine militärische Katastrophe führte, obwohl über seinen Schreibtisch Befehle liefen, die Tausende in den sinnlosen Opfertod schickten. Dass höchste Stellung auch höchste Verantwortung bedeutet, akzeptierte er ebenso wenig wie sein Vorgesetzter Feldmarschall Wilhelm Keitel, den alle wegen seines unbedingten Gehorsams gegenüber Hitler nur »Lakeitel« nannten. Beide spielten in den Tagen der Schlacht um Berlin eine unheilvolle Rolle.
Ohne moralische Gegenwehr nahmen viele in der Umgebung Hitlers hin, wie sich dessen Vernichtungswut nun offenkundig gegen das eigene Volk richtete. Es war das Werkzeug seines zerstörerischen Wahns und hatte doch zuletzt aus seiner Sicht versagt. Nach Hitlers Vorstellung von Geschichte, die er aus dem Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts schöpfte, war diese nichts anderes als ein Kampf der Völker um Macht und Raum, bei dem der Unterlegene zu weichen hatte. Bereits im November 1941, kurz vor den ersten großen Niederlagen, hatte er gesagt: »Ich bin auch hier eiskalt. Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden. Ich werde dem deutschen Volk keine Träne nachweinen.«
Im März 1945 hatte er seinen Worten Taten folgen lassen und den Befehl erteilt, den Siegern verbrannte Erde zu hinterlassen. Alle Verkehrswege, alle Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sollten zerstört werden, bevor sie in alliierte Hände fielen. Für den Diktator hatte das deutsche Volk mit der Niederlage sein Lebensrecht verspielt und verdiente es, mit ihm unterzugehen. Bislang hatten die deutschen Kommandeure vor Ort solche Befehle, die den deutschen Rückzug seit Jahren automatisch begleiteten, zumeist ausgeführt, ohne auf das Schicksal der ohnehin Not leidenden Bevölkerung in den geräumten Gebieten Rücksicht zu nehmen. Jetzt jedoch, da innerhalb Deutschlands gekämpft wurde, änderte sich die Einstellung. Hitlers Rüstungsminister Albert Speer persönlich unterlief den Sabotagebefehl Hitlers. Auch viele Kommandanten vor Ort leisteten ihm keine Folge mehr. In Hitlers Umgebung aber wagte niemand dem Diktator offen entgegenzutreten.
In den zurückliegenden Wochen und Monaten hatte Hitler sich zunehmend darauf versteift, dass die Hauptstadt an der Oder verteidigt würde. Er selbst hatte die Anstrengungen torpediert, Berlin auf den Ansturm der Roten Armee vorzubereiten. Am 7. März stellte der neu ernannte Stadtkommandant von Berlin, General Helmuth Reymann, resigniert fest, außer einigen dürftigen Panzersperren sei nichts geschehen, was darauf schließen lasse, dass Berlin eine Festung sei. Reymann legte einen Plan mit mehreren Verteidigungslinien vor, die im Uhrzeigersinn in die acht Abschnitte A bis H unterteilt waren. Abschnitt Z, der neunte Bereich in der Mitte, der das Regierungsviertel umfasste, erhielt den Kampfnamen »Zitadelle«.
In großer Eile wurden nun rund 70 000 Arbeitskräfte zusammengezogen: Männer der Organisation Todt, des Reichsarbeitsdienstes, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Berliner Zivilisten. Viele Berliner betrachteten die Bemühungen mit Skepsis und Angst. In der Tat schien es kaum möglich, eine Millionenstadt binnen weniger Wochen in eine Festung zu verwandeln. Die Verteidigungsanlagen außerhalb des Zentrums hatten allenfalls symbolischen Charakter. Immerhin waren der innere Verteidigungsring, der sich an den S-Bahn-Ring anlehnte, und die letzte Verteidigungslinie um das Regierungsviertel, die »Zitadelle«, bis Mitte April halbwegs ausgebaut. Hier wurden alle natürlichen Hindernisse geschickt verstärkt, Panzergräben angelegt, Geschütze und Maschinengewehre in gut getarnte Stellungen eingebaut, die Brücken zur Sprengung vorbereitet.
Das Rückgrat der Verteidigung bildeten die rund 180 Flakbatterien im Raum Berlin, die eine beachtliche Feuerkraft besaßen. Allerdings waren sie meist ortsfest eingebaut und konnten daher umgangen werden. Wie mächtige Trutzburgen ragten die sechs Berliner Flaktürme aus dem Häusermeer. 1942 hatte man diese bis zu 40 Meter hohen Bunker unter anderem am Zoo, in Friedrichshain und Humboldthain gebaut, um die Innenstadt vor Luftangriffen zu schützen. Unter meterdickem Beton fanden hier nicht nur militärische Kommandozentralen, sondern auch Tausende von Zivilisten Schutz vor Bomben und Granaten.
Schon jetzt waren die Schutzräume hoffnungslos überlaufen. Der Anhalter Bunker war für eine maximale Kapazität von 3000 Menschen ausgerichtet, doch mehr als 10 000 drängten sich hier zusammen. Die Lüftungsschächte konnten die Ausdünstungen der vielen Schutzsuchenden kaum mehr bewältigen, die Toiletten waren völlig überlastet. Ein überwältigender Gestank nach Kot und Urin hing in den Räumen. Jeder der Bewohner versuchte auf seine Art, die schier endlosen Stunden im Bunker zu überstehen. Einige Jungen spielten Karten, andere flüsterten miteinander, viele schliefen vor Erschöpfung ein. Wenn sich die schweren Stahltüren nach einem Luftangriff wieder öffneten, strömten die Menschen ins Tageslicht und atmeten die neue Luft ein, auch wenn diese nach Rauch stank.
Nur ganz wenige in Berlin ahnten zu diesem Zeitpunkt, wie krass das Missverhältnis zwischen Angreifern und Verteidigern war. Dem Millionenheer Schukows und Konjews standen in Berlin zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 44 000 deutsche Soldaten gegenüber, die durch 42 000 Volkssturmangehörige und rund 5000 Hitlerjungen »unterstützt« wurden. Stadtkommandant Reymann war sich wohl bewusst, dass die Verteidigung im Wesentlichen auf den Schultern der regulären Verbände der Wehrmacht und der Waffen-SS ruhen würde. Alte Männer und Hitlerjungen würden die Rote Armee nicht lange aufhalten können, zumal ihre Bewaffnung aus einem Sammelsurium an Beutewaffen bestand, für die kaum Munition vorhanden war.
Ungeachtet der schlechten Ausrüstung und Ausbildung, waren es jedoch gerade die Kindersoldaten, die mit großer Verbissenheit und erstaunlichem Idealismus in die Schlacht zogen. Weit mehr als altgediente Frontsoldaten und Kriegskrüppel waren sie noch empfänglich für Parolen, wie sie Reymann in seinem grundsätzlichen Befehl zur Verteidigung Berlins herausgab: Jeder Häuserblock, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Hecke, jeder Granattrichter sei bis zum Äußersten zu verteidigen: »Es kommt gar nicht darauf an, dass jeder Verteidiger der Reichshauptstadt die Technik des Waffenhandwerks bis ins Einzelne gut beherrscht, sondern vielmehr darauf, dass jeder Kämpfer vom fanatischen Willen zum Kämpfen-Wollen beseelt und durchdrungen ist, dass er weiß, dass die Welt mit angehaltenem Atem diesem Kampf zusieht und dass der Kampf um Berlin die Kriegsentscheidung bringen kann.«
Es waren die üblichen Phrasen, die sich in den Jahren des Rückzugs abgenutzt hatten. Die nächsten Tage würden zeigen, wie viele Soldaten, Volkssturmmänner und Hitlerjungen bereit waren, diesen Worten zu folgen. Die Prognosen waren wenig optimistisch. »Bei äußerlich meist gelassener Haltung ist die Stimmung der Berliner doch so ziemlich auf den Nullpunkt herabgesunken«, meldete der Stimmungsbericht der Wehrmacht für Berlin bereits Mitte April 1945. »Es ist nicht die Art der Berliner, aus irgendeiner Verzagtheit heraus voreilig aufzugeben, aber man sieht im Allgemeinen keinen Ausweg mehr. Und so wird häufig verstandesgemäß gefolgert, dass die Fortsetzung des Kampfes eine unnötige Verlängerung des Blutvergießens sei.«
Wie angespannt die Nerven auch bei denjenigen waren, die von Berufs wegen den Sieg verkündeten, zeigte sich in der letzten Pressekonferenz, die Goebbels an diesem Tag im Propagandaministerium abhielt. Zum Schutz gegen Fliegerangriffe waren die Fenster mit Pappe vernagelt, und nur Kerzen erhellten den Raum, in dem Goebbels sich in endlosen Tiraden über die »wahren« Schuldigen an der jetzigen Misere des deutschen Volkes erging: Bei der Machtergreifung habe man sich leider mit den Offizierskorps und den alten Kräften verbinden müssen, doch dies sei im Nachhinein ein großer Fehler gewesen. Immer wieder, von der mangelhaften Aufrüstung noch in Friedenszeiten bis hin zum Versagen angesichts der alliierten Invasion in der Normandie, habe die alte Kaste nur Verrat geübt. Als einer seiner Untergebenen, Ministerialdirigent Hans Fritzsche, den Einwurf wagte, man dürfe doch die Treue, den Glauben und die Opferbereitschaft des deutschen Volkes nicht ganz vergessen, rief Goebbels aus, dass auch das deutsche Volk versagt habe.
»Was fange ich mit einem Volk an«, schrie er mit zornrotem Gesicht, »dessen Männer nicht einmal mehr kämpfen, wenn ihre Frauen vergewaltigt werden.« Im Osten laufe es davon, und im Westen empfange es den Feind mit weißen Fahnen. Im Übrigen könne er kein Mitgefühl für ein Volk empfinden, dass sich sein Schicksal selbst erwählt habe. Bei der Volksabstimmung über den deutschen: Austritt aus dem Völkerbund habe es sich gegen die Unterdrückung und für das Wagnis entschieden. Dieses Wagnis sei nun eben missglückt. Aufgebracht erhob er sich und fügte noch hinzu: »Ja, das mag für manche Leute eine Überraschung sein. (...) Geben Sie sich keinen Illusionen hin! Ich habe ja niemand gezwungen, mein Mitarbeiter zu sein, so, wie wir auch das deutsche Volk nicht gezwungen haben. Es hat uns selbst beauftragt. (...) Jetzt wird ihm das Hälschen durchgeschnitten!« Erregt stapfte er zur Tür, doch bevor er den Raum und seine versteinerten Mitarbeiter verließ, drehte er sich ein letztes Mal zu ihnen um und schrie: »Aber wenn wir abtreten, dann soll der Erdkreis erzittern!«
Im Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres (OKH) in Zossen südlich von Berlin herrschte am Mittag des 21. April helle Aufregung. Am Tag zuvor noch hatten die Militärs bei Geburtstagsappellen des »Führers« gedacht, jetzt wurden in aller Eile die wenigen noch verfügbaren Kraftfahrzeuge beladen und abfahrtsbereit gemacht, um das Hauptquartier vor der heranstürmenden Roten Armee zu evakuieren. Seit Tagen hatte sich die Katastrophe angekündigt. Im Grunde war es den Verantwortlichen klar gewesen, dass die deutsche Wehrmacht der gewaltigen sowjetischen Streitmacht an Oder und Neiße nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen hatte. Die deutsche Verteidigung beruhte im Wesentlichen auf den Truppen der Heeresgruppe Weichsel, die von Generaloberst Gotthard Heinrici befehligt wurde.
Ihm standen vor allem das 56. Panzerkorps unter General Helmuth Weidling zur Verfügung und etwas weiter südlich im Raum Halbe die 9. Armee unter General Theodor Busse, die insgesamt 15 der 24 Divisionen der Heeresgruppe umfasste und noch über 130 000 Mann verfügte. Immer wieder hatte Heinrici Hitler und den Generalstabschef des Heeres, General Hans Krebs, telefonisch gebeten, seinen Truppen den taktischen Rückzug von der Oderfront zu erlauben, um eine durchgehende Verteidigungslinie aufrechtzuerhalten. Insbesondere fürchtete er, dass die bei Halbe stehende 9. Armee von Busse von den aus Osten und Süden vordringenden Truppen Schukows und Konjews eingeschlossen würde. Ein ums andere Mal war seine Forderung kalt zurückgewiesen und er selbst von Hitler darauf verpflichtet worden, alle Stellungen zu halten. Jetzt bekam der Kriegsherr die Quittung dafür.
Am Vormittag erreichte Krebs’ Adjutanten, Major Bernd Freytag von Loringhoven, eine Kette von Hiobsbotschaften. Erst meldete General Busse die bevorstehende Einschließung der 9. Armee, dann traf im OKH die Meldung ein, dass zwei sowjetische Panzerarmeen der Heeresgruppe Konjew nach Süden eingedreht und schon bis auf wenige Kilometer an Zossen herangekommen waren. Eilig überlegte Loringhoven, was zu tun sei. Dem OKH stand nur noch eine Stabswache in Kompaniestärke, etwa hundert Mann, zur Verfügung. Schnell wurde diese dem Feind entgegengeschickt, um ihn wenigstens eine Weile aufzuhalten, doch bald kam die Meldung, dass sie nichts ausrichten könne. Hektisch rafften Loringhoven und seine Kameraden alle wichtigen Unterlagen zusammen, die dem Feind nicht in die Hände fallen durften. Bereits vor Tagen hatte General Hans Krebs Hitler dringend um die Genehmigung gebeten, das Hauptquartier verlegen zu dürfen, doch erst jetzt, während sich die Angriffsspitzen bereits Zossen näherten, stimmte Hitler zu.
Für Loringhoven war es nicht die erste Flucht vor der Roten Armee in letzter Minute. Der Spross aus altem baltischem Adel war 1934 als Zwanzigjähriger in die Reichswehr eingetreten und hatte als Kommandeur einer Panzerkompanie den Vormarsch auf Stalingrad mitgemacht. Dort hatte er das Glück gehabt, als einer der Letzten aus dem Kessel ausgeflogen zu werden. Im Juli 1944 war Loringhoven, mittlerweile zum Major ernannt, Adjutant des Generalstabschefs des Heeres, General Heinz Guderian, geworden. Als dieser im März 1945 von Hitler entlassen wurde, hatte Loringhoven Guderians Nachfolger Krebs gefragt, ob er sich nicht einen anderen Adjutanten nehmen wolle. Doch Krebs hatte abgewinkt und seinem Untergebenen unerwartet offen erklärt: »Der Krieg ist in vier Wochen vorbei. Dann ist alles aus!«
Auch wenn Loringhoven die Meinung seines Vorgesetzten teilte, lag es ihm dennoch fern, angesichts der unausweichlichen Niederlage des Dritten Reiches auch persönlich zu resignieren. In den Tagen der Auflösung legte der einunddreißigjährige hoch gewachsene Generalstabsoffizier weiterhin Wert auf eine gepflegte Erscheinung und zumindest den Anschein gelassener Ruhe. Den »eleganten Offizier«, dem man nie eine persönliche Regung anmerkte, nannte ihn der Ordonnanzoffizier bei Krebs, Rittmeister Gerhardt Boldt, der zum älteren und ranghöheren Loringhoven als Vorbild aufblickte.
Der plötzliche Aufbruch ließ Loringhoven, Boldt und den anderen keine Zeit für eine gründliche Vernichtung des zurückgelassenen Hauptquartiers. Als die Rote Armee am nächsten Tag Zossen einnahm, waren die Fernmeldeverbindungen in der weitgehend unversehrten Bunkeranlage noch betriebsbereit, und Lagekarten hingen an der Wand. Gegen 15 Uhr passierte die Fahrzeugkolonne mit den Resten des OKH in hohem Tempo die Hauptwache des Stammlagers.
Noch vor Erreichen der Ortsdurchfahrt Zossen wurde die Kolonne von deutschen Flugzeugen mit Bordwaffen angegriffen und zwei Fahrzeuge in Brand geschossen. Die Piloten hatten die Kolonne irrtümlicherweise für die Spitzen der sich schnell nähernden sowjetischen Panzerverbände gehalten. Nach diesem Zwischenfall gelangte der Rest der Kolonne unbeschädigt bis 20 Uhr in das neue vorläufige Hauptquartier in einer Luftwaffenkaserne in Potsdam-Eiche. Die Flucht aus Zossen erforderte nun noch einen letzten symbolischen Schlussakt. Auf allen Lagekarten musste das taktische Zeichen gelöscht werden, das seit Kriegsausbruch dort stets den Stammsitz der deutschen Heeresführung gekennzeichnet hatte.
Angesichts der selbst von Hitler eingesehenen Unmöglichkeit, mit den in Berlin vorhandenen Kräften einen Gegenstoß zu unternehmen, ruhten die Hoffnungen des Kriegsherrn auf den Truppen außerhalb der Stadt. Sie sollten Berlin aus dem ansetzenden Würgegriff der Roten Armee befreien. Um 14.30 Uhr fanden sich der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Feldmarschall Wilhelm Keitel, und Großadmiral Karl Dönitz im Führerbunker zur Lagebesprechung ein. Die ganze Aufmerksamkeit der Runde galt der Entwicklung im Norden Berlins.
In dem tiefen Vorstoß der Roten Armee, der von dort gemeldet wurde, sah Hitler die günstige Gelegenheit zu einem Gegenstoß. Die Kräfte dazu entnahm er einem strategischen Zeichen im Norden der Stadt, das die Bezeichnung 11. Panzerarmee führte. Ihr Kommandeur, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Felix Steiner, war seit langem ein »Lieblingskind« der NS-Führung. Im Januar hatte er den Oberbefehl über die 11. Armee erhalten, die sowohl aus Verbänden der Waffen-SS als auch aus regulären Heeresverbänden bestand. Obwohl sie kaum über Panzer verfügte, wurde sie bald darauf in 11. Panzerarmee umgetauft. Auf Steiner setzte Hitler nun seine verzweifelte Hoffnung.
Steiner erhielt den Befehl, alle verfügbaren Einheiten in seiner Nähe zur »Armeegruppe Steiner« zu vereinigen und dann von Eberswalde aus südwärts nach Berlin vorzustoßen. »Von dem Erfolg Ihres Auftrags hängt das Schicksal der deutschen Hauptstadt ab«, ermahnte ihn Hitler, nicht ohne zugleich zu drohen: »Ein Ausweichen nach Westen ist für alle verboten. Offiziere, die sich dieser Anordnung nicht bedingungslos fügen, sind festzunehmen und augenblicklich zu erschießen. Sie selbst mache ich mit Ihrem Kopf für die Durchführung dieses Befehls verantwortlich.« Gleichzeitig erhielt die 9. Armee unter General Busse den Befehl, eine durchgehende Frontlinie von Berlin über Königswusterhausen bis Cottbus wiederherzustellen und zugleich die in ihrem Rücken durchgebrochenen beiden Panzerarmeen Konjews anzugreifen.
Die Befehle zeigten erneut den völligen Realitätsverlust, der sich in den Räumen des Führerbunkers breit gemacht hatte. Während Steiner im allgemeinen Chaos nicht einmal wusste, wo die Einheiten standen, mit denen er angreifen sollte, war Busse vollauf damit beschäftigt, die drohende Einkesselung seiner Armee zu verhindern. Als der Führer der Heeresgruppe Weichsel, General Gotthard Heinrici, dem Steiner und Busse unterstanden, von den Befehlen Hitlers erfuhr, war er entsetzt. Sofort ließ er sich mit Krebs verbinden: Die Operation Steiner sei ganz und gar undurchführbar und gefährde nur seine Einheiten, drang er auf den Generalstabschef des Heeres ein. Außerdem müsse er darauf bestehen, dass die 9. Armee, die unmittelbar von der Einkesselung bedroht sei, zurückgenommen werde. Andernfalls, so Heinrici, müsse er seinen Rücktritt erklären. Er werde lieber als einfacher Volkssturmmann weiterkämpfen, als Befehle zu befolgen, die nur die sinnlose Opferung von Menschenleben bewirken würden.
Doch weder die Rücktrittsdrohung noch der Hinweis auf die gemeinsame Verantwortung, die sie beide für die Truppe zu tragen hätten, konnten Krebs umstimmen. »Diese Verantwortung trägt der Führer«, erklärte er Heinrici knapp. Wie wenig Hitler gewillt war, den aussichtslos gewordenen Kampf aufzugeben, um Menschenleben zu retten, konnte Alfred Jodl an diesem Tag erfahren. »Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich werde so lange kämpfen, solange ich noch einen Soldaten habe. Wenn mich der letzte Soldat verlässt, werde ich mich erschießen«, erklärte Hitler dem ihm treu ergebenen Chef des Wehrmachtsführungsstabes.
Der Mann, auf den Hitler an diesem Tag seine großen Hoffnungen setzte, hatte als einer der wenigen höheren Kommandeure der Waffen-SS eine klassische militärische Ausbildung durchlaufen. Der achtundvierzigjährige Felix Steiner hatte lange Jahre als Berufsoffizier in der Reichswehr gedient und war erst 1935 in die SS eingetreten, wo er einer der Gründungsväter der neuen Waffen-SS wurde. Als Kommandeur der SS-Division »Wiking« und später des »3. Germanischen Panzerkorps« hatte er seine aus vielen Nationen zusammengesetzten Verbände in harte Kämpfe an allen Ecken der Ostfront geführt. Auf einen SS-General wie ihn, dem Goebbels noch im März 1945 einen »hervorragenden Eindruck« bescheinigte, glaubte sich Hitler eher verlassen zu können als auf die Generäle des Heeres, die er mehr und mehr der Untreue und des Verrats bezichtigte.
Doch zum ersten Mal zögerte auch Steiner, einen Führerbefehl auszuführen. Mehrfach riefen ihn Hitler und Jodl im Laufe des Tages an, bestürmten ihn, den Angriff so schnell wie möglich zu beginnen, doch Steiner zögerte die Offensive weiter und weiter hinaus. »Ich hatte ja nichts, womit ich hätte angreifen können«, sagte er wenige Jahre nach dem Krieg aus. »Die drei Reservedivisionen, die mir in der Schorfheide unterstanden, sollten auf Befehl des OKW der verzweifelt kämpfenden 2. Armee beistehen und waren in einem vergeblichen Versuch, die westwärts drängende russische Lawine aufzuhalten, verschlungen worden. Die beiden neuen, von der Heeresgruppe Weichsel versprochenen Divisionen kamen erst gar nicht an. Mich aber der unerfahrenen, eilends zusammengebrachten Gruppen zu bedienen, weigerte ich mich. Ich wollte nicht die Soldaten an ein Unternehmen verlieren, das von Anfang an zu einem vernichtenden Fehlschlag geworden wäre. Der Angriffsplan gründete sich auf Fakten, die nicht mehr vorhanden waren und die nur noch in der Einbildung der Reichskanzlei bestanden.«
Auch im Kleinen hielten sich viele nicht mehr an die Durchhalteparolen der Führung. Auf einem Feld im Nordosten Berlins zwischen Weißensee und Hohenschönhausen war der fünfzehnjährige Manfred Szubiak in diesen Stunden im Schanzeinsatz. Eigentlich hatte er Anfang April die Aufforderung erhalten, sich im Olympiastadion einzufinden, wo die Reichsjugendführung die älteren Hitlerjungen für Kampfeinsätze sammelte. Aber sein Vater hatte ihm rundheraus verboten, sich dort zu melden. Es war nicht das erste Mal, dass sie in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung gewesen waren. Als ehemaliges SPD-Mitglied hatte sich sein Vater nie so recht für das nationalsozialistische Regime erwärmen können, auch wenn er seine Distanz mit Rücksicht auf seine drei Kinder nur im privaten Kreis kundtat. Zum Entsetzen seines Sohnes, der eifrig die Bilder berühmter Jagdflieger und Ritterkreuzträger sammelte, hatte er dort schon früh geäußert, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei.
Erst als sein Onkel mit abgefrorenen Zehen aus Stalingrad heimgekehrt war, hatten sich auch in Manfred Szubiaks jugendliche Heldenträume leichte Zweifel eingeschlichen. Das Beispiel eines älteren Freundes, der im Krieg einen Arm verlor, dämpfte seine Kriegsbegeisterung weiter. Noch immer aber hielt er es für seine Pflicht, dem Aufruf zur Verteidigung Berlins zu folgen. Als sein Vater ihn zu einer Tante nach Weißensee schickte, damit eventuelle Rekrutierungstrupps ihn nicht zu Hause anträfen, meldete er sich zum Schanzeinsatz, um wenigstens etwas zu tun. Wie seine Freunde glaubte er fest an den von der Propaganda versprochenen Entlastungsangriff, der Berlin befreien würde. Voller Eifer schaufelte er mit einem guten Dutzend anderer Hitlerjungen aus seinem Fähnlein unter Aufsicht eines Feldwebels Schützengräben.
Ihre Lage war an diesem Nachmittag allmählich ungemütlich geworden. Immer häufiger schlugen russische Granaten ein, und immer näher kamen die Einschläge dem Feld, auf dem sie gruben. Schließlich wurde es dem älteren Feldwebel, der sie anleitete, zu viel, wie sich Manfred Szubiak erinnert: »Der hat uns dann gesagt, wir sollen machen, dass wir nach Hause kommen. Der Krieg sei zu Ende. Ich sehe ihn noch vor mir, das war so ein älterer rothaariger Mann, der wahrscheinlich selber flitzen wollte. Er hatte wohl auch nichts mehr zu befürchten, denn die SS war schon weg, und wir lagen ohne Waffen an der vordersten Front.« Folgsam und mit uneingestandener Erleichterung machte sich Manfred Szubiak auf den Weg. Er entschloss sich, nicht länger bei seiner Tante in Weißensee zu bleiben, sondern zu seinen Eltern in die Grellstraße im Prenzlauer Berg zurückzukehren.
Der Weg dorthin erwies sich als nicht ganz ungefährlich. Einmal konnte er sich mit einem Freund gerade noch in einen Hauseingang drücken, als einige Granaten einer Stalinorgel direkt neben ihnen einschlugen. Ein kleiner Splitter traf ihn in die Wade, verursachte aber nur eine Schramme, die etwas brannte. Schließlich kam er zu Hause an, wo ihn seine Mutter in die Arme schloss. Ab jetzt, so wurde beschlossen, würde er bei der Familie im Keller bleiben.
Stunde um Stunde verging, während Hitler auf erste Erfolgsmeldungen von Steiner wartete. Als Hitlers Leibarzt Dr. Morell ihn gegen 21 Uhr im Führerbunker aufsuchte, um sich vor seiner Abreise nach München von ihm zu verabschieden, traf er Hitler müde und niedergeschlagen in seinem Arbeitszimmer an. An der Wand des kleinen Raumes stand ein blau-weiß gemustertes Brokatsofa, davor ein kleiner Wohnzimmertisch, um den drei weitere Sessel mit den gleichen Stoffpolstern sowie zwei Hocker gruppiert waren. Morell bot an, Hitler vor seiner Abreise noch eine Koffeinspritze zu geben, um ihn aufzumuntern, doch wütend fuhr dieser ihn an: »Denken Sie, ich bin verrückt? Sie wollen mir wahrscheinlich Morphium geben!« Er wisse, dass die Generäle ihn einschläfern wollten, um ihn nach Berchtesgaden zu schaffen.
Morells Versicherungen, er wisse von keinem Komplott, konnten Hitler nicht beruhigen. »Halten Sie mich für einen Wahnsinnigen?«, schrie er Morell an. Barsch befahl er seinem Leibarzt, der ihn seit 1936 versorgt hatte, nach Hause zu gehen, seine Uniform auszuziehen und »sich so zu verhalten, als hätten Sie mich nie gesehen«. Bedrückt machte sich Morell davon. Angeblich ist er nie über die Enttäuschung hinweggekommen, dass ihm Hitler kurz vor Ende seines Lebens noch das Vertrauen entzogen hatte.