Читать книгу Die letzte Schlacht - Guido Knopp - Страница 6

Sonntag, 22. April 1945

Оглавление

Noch heute nennt der 1914 geborene Bernd Freytag von Loringhoven den 22. April seinen persönlichen Schicksalstag. Im neuen provisorischen Hauptquartier des OKH in Potsdam-Eiche erhielt sein Chef Hans Krebs am Mittag einen Anruf, er solle sofort zur militärischen Lagebesprechung mit Hitler in den Bunker kommen. Mit seinem Adjutanten Loringhoven im Gefolge machte sich Krebs auf den Weg von Potsdam nach Berlin. Die Fahrt durch die zerstörte Reichshauptstadt hinterließ bei Loringhoven einen deprimierenden Eindruck. An vielen Stellen brannte es, und überall lagen Trümmer herum, durch die Menschen auf der Suche nach Wasser und etwas Essbarem irrten. Viele Straßen waren nur noch Trampelpfade, durch die mit dem Auto kein Durchkommen mehr war.

Hitler selbst mied den Anblick der zerstörten Stadt und hatte die Reichskanzlei schon lange nicht mehr verlassen. Mit einem kaum noch zu überbietenden Zynismus hatte er seinem Rüstungsminister und Lieblingsarchitekten Albert Speer anvertraut, dass die ganze Bombardierung auch eine gute Seite habe: Man müsse später weniger abreißen, um die neue Reichshauptstadt »Germania« zu errichten. Seit seinem Geburtstag zwei Tage zuvor, als er im Garten der Reichskanzlei die Reihen der Soldaten und Hitlerjungen abgegangen war, hatte der Kriegsherr den »Führerbunker« nicht mehr verlassen. Bis zu seinem Tod blieb er in der düsteren Katakombe, die er zu seinem letzten Refugium erwählt hatte. Nach dem Beginn der sowjetischen Winteroffensive am 16. Januar 1945 war Hitler von seinem Hauptquartier »Adlerhorst« bei Bad Nauheim in die Berliner Reichskanzlei zurückgekehrt und hatte seine Wohnung und die Arbeitsräume noch unzerstört vorgefunden. Die vielen Luftangriffe zwangen ihn jedoch immer öfter, in den Luftschutzbunker im Garten der Reichskanzlei auszuweichen, so dass er Ende Februar beschloss, sich ganz in die Bunkerwelt zurückzuziehen, die er in den Jahren seiner Herrschaft aufgebaut hatte.

Schon bald nach dem Bezug der Reichskanzlei 1933 hatte Hitler Änderungswünsche angemeldet. Das Palais in der Wilhelmstraße 77, das einst Bismarck als Wohn- und Amtssitz gedient hatte, war für seine Ansprüche längst nicht mehr repräsentativ und auch nicht mehr sicher genug gewesen. 1935 hatte er durch den Architekten Leonhard Gall im großen Garten der Reichskanzlei einen Festsaal errichten lassen, der durch einen südlich angeschlossenen Wintergarten mit dem Palais verbunden war. Vom Keller unterhalb des Festsaals und des Wintergartens führten drei achtstufige Treppen in einen darunter gelegenen Luftschutzkeller. Eine Decke von fast zweieinhalb Meter Dicke schützte diesen etwa 21 x 21 Meter großen Bunker, der an den Zugängen durch Schleusenräume mit gasdichten Eisentüren gesichert und in sechzehn kleine Räume unterteilt war.

Schon bald genügte der Anbau samt Bunker den gestiegenen Repräsentations- und Schutzbedürfnissen Hitlers nicht mehr. 1938 begann Albert Speer den Bau einer riesigen »Neuen Reichskanzlei«, die sich im Süden an den nunmehr »Alte Reichskanzlei« genannten bisherigen Amtskomplex anschloss. Unter dem neuen Gebäude, das die gesamte Front der Voßstraße, von der Wilhelmstraße bis zur Hermann-Göring-Straße, einnahm, entstand nach den Wünschen Hitlers ein gigantischer Luftschutzkeller mit Hunderten von Räumen, der durch einen etwa 80 Meter langen unterirdischen Gang mit dem alten Bunker unter dem Festsaal verbunden wurde. Aufgrund seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg betrachtete Hitler sich als Experten für den Bau von Bunkern. Immer wieder, so berichtet Albert Speer, habe Hitler mit Anregungen und Befehlen in den Bau eingegriffen und zahlreiche Zeichnungen und Skizzen angefertigt.

Aber auch dieses neue Bunkerlabyrinth genügte Hitlers Ansprüchen einige Jahre später nicht mehr. Im Angesicht der Niederlage von Stalingrad und aufgeschreckt durch die immer größeren Fliegerbomben der Alliierten, beauftragte er Albert Speer im Januar 1943, im Garten der Reichskanzlei einen neuen Bunker mit noch massiveren Decken und Wänden zu bauen. Im April 1944 zogen neue Kolonnen von Bauarbeitern auf das Gelände der Reichskanzlei, um das Werk in Angriff zu nehmen.

Unmittelbar im Anschluss an den Festsaal und den Wintergarten wurde eine etwa zehn Meter tiefe Grube ausgehoben, in die der neue Eisen-Beton-Klotz von 26 x 26,7 Meter Grundfläche gegossen wurde. Er ruhte auf einer ca. 2 Meter starken Grundplatte und besaß Wände und Decken von rund 3,5 Meter Dicke. Die Räume lagen 7,5 Meter unter der Erdoberfläche und waren etwa 2,85 Meter hoch. Die neue, bald »Führerbunker« genannte Katakombe schloss unmittelbar an den ersten Luftschutzkeller unter dem Festsaal und dem Wintergarten an, der nun »Vorbunker« genannt wurde, doch lagen die Räume des »Führerbunkers« einige Meter tiefer im Erdreich. Eine zwölfstufige Wendeltreppe führte vom alten Bunker zu ihm hinab. Der Führerbunker war nach Grundriss und Größe weitgehend eine Kopie des »Vorbunkers«, nur tiefer und mit dickeren Decken und Wänden. Als Hitler am 16. Januar 1945 nach Berlin zurückkehrte, befand sich vor dem Bunkerausgang im Garten noch eine richtige Baustelle, die aufgrund der sich überschlagenden militärischen Rückschläge nie beseitigt wurde.

Im Regierungsviertel angekommen, fuhr das Auto mit Krebs und Loringhoven über einen schmalen Fahrweg in den Garten der Reichskanzlei. Die letzten Meter mussten zu Fuß über einen schmalen Pfad bewältigt werden, der zum Ausgang des Bunkers im Garten führte. Der Weg war sehr unbequem, vor allem im Dunkeln musste man äußerst vorsichtig sein, um nicht über den Bauschutt zu stolpern oder in einen der zahlreichen Bombentrichter zu fallen. Am Bunkereingang, der durch einen quadratischen Betonklotz von fünf Meter Höhe geschützt wurde, stand eine SS-Wache, die Krebs und Loringhoven nach kurzer Kontrolle passieren ließ. Ein breites, aber steiles Treppenhaus führte sie in die Tiefe bis zu einem Vorraum mit einem Garderobenständer, in dem zwei SS-Offiziere als Wache standen. Die beiden Besucher mussten hier Mäntel und Pistolen abgeben, auch ihre Aktentaschen wurden untersucht. Erst dann durften sie in den Lagevorraum. Der 8 Meter lange und 3,6 Meter breite Raum war mit Steinfliesen ausgestattet, und auf dem Boden lag ein breiter roter Läufer. An der linken Seite hingen acht Ölgemälde an der Wand, überwiegend Landschaftsbilder, darunter standen einige schöne alte Polstersessel. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Polsterbank, davor ein rechteckiger Tisch mit zwei weiteren Polsterstühlen. Mobiliar und Bilder stammten aus Hitlers Wohnung im Obergeschoss der Alten Reichskanzlei und waren von dort in den Bunker gebracht worden. In diesem Raum, der auch »großer Warteraum« oder »Konferenzraum« genannt wurde, versammelten sich die Teilnehmer, bevor die Lagebesprechung begann. Hier mussten auch alle Ankommenden, die zu Hitler wollten, erst einmal warten, bis sie ein Adjutant oder ein Diener in dessen Arbeitszimmer rief.

Von hier aus gingen Krebs, Loringhoven und die anderen durch die erste Tür rechts in den angrenzenden Lageraum, in dem die militärischen Lagebesprechungen stattfanden. Der Raum war kleiner als der Konferenzraum, nur etwa 4 x 3 Meter groß. In seiner Mitte stand ein großer Tisch mit zwei Lampen, auf dem die Karten ausgebreitet wurden. Hinter dem Tisch stand ein einzelner Stuhl, auf dem Hitler während der Besprechungen saß. Eine ringsum laufende Wandbank sowie einige weitere Stühle und Hocker komplettierten die karge Ausstattung, die von einer Glühbirne in der Mitte des Zimmers beleuchtet wurde. »Bis auf Hitler mussten alle anderen stehen, und manchmal drängten sich bis zu zwanzig Personen in dem Raum, um den Vorträgen zu folgen«, beschreibt der Augenzeuge Bernd Freytag von Loringhoven die Atmosphäre. »Auf den Stühlen konnten nur die ältesten Militärs für einige Zeit sitzen, weil die Lagebesprechungen oft Stunden dauerten. Alle anderen mussten die ganze Zeit stehen bleiben, und das war eine furchtbare Angelegenheit in diesem schmalen Raum. In der stickigen Luft waren die Männer so zusammengepfercht, dass sie oft der Lageentwicklung auf den Karten nicht mehr folgen konnten.« Kurz nach 15 Uhr begann die Besprechung. Krebs trug die Lage rund um Berlin vor. Neue Hiobsbotschaften waren eingetroffen. Auch der dritten sowjetischen Heeresgruppe unter Marschall Rokossowskij war im Nordabschnitt der Oderfront südlich von Stettin der Durchbruch gelungen. Im Süden Berlins, so Krebs weiter, habe der Gegner Zossen genommen und stoße auf Stahnsdorf vor, im Osten der Stadt sei er bis zur Linie Lichtenberg, Mahlsdorf, Karlshorst gelangt, und am nördlichen Stadtrand würde sich die Rote Armee zwischen Frohnau und Pankow vorkämpfen. Hitler nahm diese dramatische Entwicklung mit stoischer Gelassenheit hin. Dann fragte er nach Steiners Angriff.

Seine Generäle antworteten nur zögernd und ausweichend, und schließlich musste Krebs eingestehen, dass er gar nicht stattgefunden hatte. Hitler schwieg und grübelte einen Moment lang – dann, in einem letzten Moment der Selbstbeherrschung, schickte er die große Runde aus dem Raum. Nur General Wilhelm Burgdorf, sein Chefadjutant, sowie Keitel, Krebs, Jodl und Bormann sollten bleiben. Audi Loringhoven musste den Raum verlassen. Mit den anderen wartete er im Vorraum – voller Spannung, was nun passieren würde.

„Ich sehe den Kampf als verloren an und fühle mich von denen, denen ich mein Vertrauen schenkte, belogen und betrogen und habe mich entschlossen, in der Hauptstadt des Kampfes gegen den Bolschewismus zu verbleiben und die Verteidigung dieser Hauptstadt zu übernehmen.“

Adolf Hitler am 22. April 1945

Als sich die Türen wieder geschlossen hatten, verlor Hitler die Beherrschung. Er sprang auf, warf seine Stifte über den Kartentisch, tobte und brüllte. Am ganzen Körper zitternd, schrie er mit sich immer wieder überschlagender Stimme von Verrat und Feigheit, von Ungehorsam und Unfähigkeit. Waffen-SS und Wehrmacht hätten versagt, er stünde allein. Seit Jahren sei er von Verrätern umgeben, von Korruption, Schwächen und Lügen. Er fuchtelte mit den Fäusten, Tränen rannen ihm über die Wangen. Alle Anwesenden starrten stumm und verlegen vor sich hin. Unter diesen Umständen könne er nicht mehr führen, lamentierte Hitler weiter, seine Befehle würden nicht mehr befolgt, er wisse nicht weiter. »Der Krieg ist verloren«, schrie er, »aber wenn Sie, meine Herren, glauben, dass ich Berlin verlasse, irren Sie sich gewaltig! Eher jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.« Wer wolle, könne sich in den Süden absetzen. – Ermattet sank er zusammen. Ebenso plötzlich, wie der Wutausbruch begonnen hatte, war er wieder vorüber. Erschöpft saß Hitler auf seinem Stuhl und jammerte: »Jetzt ist alles verloren. Es ist alles aus. Ich erschieße mich.«

Minutenlang herrschte Schweigen. Zum ersten Mal hatte Hitler zugegeben, dass der Krieg verloren war, erstmals offen davon gesprochen, sich umzubringen. Kurz darauf öffnete sich die Tür zum Lagevorraum, und Hitler eilte, ohne nach rechts oder links zu blicken, gebückt und kreideweiß im Gesicht in sein Arbeitszimmer. Die Lageteilnehmer blieben noch eine Weile rat- und fassungslos im Kartenraum zurück. Der Schock war ihnen deutlich anzumerken, Untergangsstimmung verbreitete sich im Bunker. »Krebs kam ziemlich gezeichnet aus dieser Besprechung heraus und hat mir dann alles erzählt, was da passiert ist«, erinnert sich Loringhoven.

Für den Adjutanten des Generalstabschefs waren die personellen Konsequenzen des Zusammenbruchs, die sich im Laufe des Abends herauskristallisierten, die folgenreichsten. Die Führung des OKW, Feldmarschall Keitel und Generaloberst Jodl, so bestimmte ein wieder gefasster Hitler, sollten Berlin verlassen und den Kampf von außen weiterführen und alle Anstrengungen unternehmen, die Stadt zu entsetzen. Krebs hingegen sollte als militärischer Berater bei Hitler im Bunker bleiben. Für Loringhoven war die Entscheidung ein schwerer Schlag. Als Adjutant von Krebs würde auch er im Bunker bleiben müssen – in seinen Augen ein klares Todesurteil: »Ich kannte ja nun durch meine lange Präsenz im Oberkommando des Heeres die militärische Lage genau und wusste, was los war. Es war mir vollkommen klar, dass es sich hier nur noch um wenige Tage handeln konnte, und dann würde alles aus sein.«

In einem Mietshaus in Berlin-Weißensee verließ in diesen Stunden der vierundzwanzigjährige Günter Fabian die Wohnung seiner Freundin, als er auf dem Flur einem älteren Nachbarn begegnete. Misstrauisch blickte der Sechzigjährige, der im Haus als überzeugter Nazi galt, den jungen Mann in Zivil an. »Sagen Sie mal, Sie sind doch so ein junger Kerl, und Sie sind nicht eingezogen?« Fabian blickte ihn an, zögerte absichtlich, als müsste er innerlich mit sich ringen, ob der andere auch vertrauenswürdig sei. Schließlich sagte er: »Wissen Sie, Ihnen kann ich es ja sagen, obwohl es eigentlich ein Geheimnis ist: Ich arbeite mit an der Wunderwaffe.« Das Gesicht seines Gegenübers hellte sich schlagartig auf: »Sehen Sie, ich habe es doch immer gewusst, der Führer hat noch was in petto, der kann uns doch nicht so einfach untergehen lassen.« Freudig drückte er Fabian die Hand und zog weiter.

Fabian konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Wie glatt der andere doch seine dreiste Lüge geschluckt hatte! Daran könne man mal sehen, wie die Propaganda die Menschen verblödet habe, sagte er später zu seinen Freunden, als er die kleine Episode erzählte. Er hatte allen Grund, sich über die gelungene Notlüge zu freuen, denn von seiner Fähigkeit, seine Umgebung überzeugend zu täuschen, hing sein Leben ab. Seit über zwei Jahren, seit dem 27. Februar 1943, lebte er als Jude verborgen in Berlin. Seit dem Tag, als er nicht zu seiner Arbeit in einem Rüstungsbetrieb erschienen war, in dem er Zwangsarbeit zu leisten hatte. Durch Zufall entging er damit der Gestapo, die eben an diesem Tag im Zuge der so genannten Fabrik-Aktion jüdische Arbeiter aus dem Betrieb abholte, um sie in die Vernichtungslager im Osten zu verschleppen. Noch am selben Tag war er in einer kleinen Kartonfabrik in einem Hinterhof der Schönhauser Allee Nr. 122 abgetaucht, die ein nichtjüdischer Bekannter betrieb, der lange Zeit im KZ gesessen hatte und dennoch seine Hilfe anbot.

Zwei Wochen vor Günter Fabian war bereits sein gleichfalls jüdischer Freund Heinz Unruh in der Fabrik untergekommen. Tagsüber arbeiteten beide zeitweise schwarz bei einem Dachdecker, die Nächte verbrachten sie in der kleinen Fabrik. Ständig mussten sie auf der Hut vor Entdeckung und Denunzianten sein. Kaum jemand im Hinterhaus kannte ihre wahre Identität. Neben den wenigen Arbeitern in der Fabrik war auch eine junge Schneiderin eingeweiht, die mit ihrem Vater im Hinterhaus wohnte. Über sie hatte Günter Fabian auch seine Freundin Ingeborg und ihren Vater kennen gelernt, die beide in Weißensee wohnten. Ihrer Verschwiegenheit und stillen Hilfe hatte er sein Überleben zu verdanken.

Je näher die Rote Armee auf Berlin vorrückte und je größer damit die Hoffnung auf Befreiung wurde, desto schwieriger wurde das Versteckspiel. Auf der Suche nach waffenfähigen Männern hatten die Rekrutierungsstellen der Wehrmacht und Waffen-SS alle Betriebe und Ämter durchforstet, um die letzten Kräfte für den Endkampf zu mobilisieren. Jeder junge, gesunde Mann, der nicht in Uniform ging, fiel nun auf und war Anlass zur Kontrolle. Gewitzt hatte Günter Fabian auch diese neue Gefahr gemeistert.

Mit einem gefälschten Ausweis, der ihn als »unabkömmlichen« Arbeiter eines Wehrmachtsbetriebes auswies, war er eines Tages in einem Büro in der Nähe des Alexanderplatzes erschienen und hatte sich »freiwillig« zum Volkssturm gemeldet. Tatsächlich war er auf »Führer und Volk« vereidigt worden und hatte nun neben seinem falschen Betriebsausweis einen echten Volkssturmpass, mit dem er sich vor Polizisten und den Feldgendarmen der Wehrmacht ausweisen konnte. Für den Fall, dass seine Tarnung durchschaut wurde, trug er heimlich eine Pistole bei sich.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen waren eines Tages einige Männer in der Schönhauser Allee 112 erschienen und hatten nach ihm gefragt. Sofort hatte er sein Versteck gewechselt und war vorübergehend in der Wohnung seiner Freundin und ihres Vaters in Weißensee untergekommen. Jetzt wurde ihm das Terrain auch hier zu heiß. Er beschloss, in die Schönhauser Allee zurückzukehren, wo er ein gutes Versteck im Keller kannte. Seine achtzehnjährige Freundin Ingeborg wollte ihm dorthin folgen, da sie Angst vor den Russen hatte und nicht ohne ihn sein wollte. Zu Fuß machte er sich auf den halbstündigen Weg. Auf den Straßen herrschte wirres Durcheinander. Flüchtlingskolonnen strömten Richtung Westen aus der Stadt hinaus, unaufhörlich heulten die Sirenen, die vor Fliegerangriffen warnten. Günter Fabian war das Chaos recht. Niemand achtete auf ihn, während er auf die Schönhauser Allee zustrebte.

„Mein liebes Hertalein! Dies werden wohl die letzten Zeilen und damit das letzte Lebenszeichen von mir sein. (...) Wir kämpfen hier bis zum Letzten, aber ich fürchte, das Ende rückt bedrohlich näher und näher. Was ich persönlich um den Führer leide, kann ich Dir nicht schildern. (...) Ich kann nicht verstehen, wie alles so kommen konnte, aber man glaubt an keinen Gott mehr.“

Brief Eva Brauns vom 22. April 1945 an ihre Freundin Herta Schneider

Die Nachricht vom Zusammenbruch Hitlers verbreitete sich in Windeseile im Führungszirkel außerhalb des Bunkers. Himmler rief an und wollte Hitler nun doch noch zur Flucht in den Süden überreden – vergeblich. Außenminister Ribbentrop wurde mit dem gleichen Anliegen erst gar nicht vorgelassen. Unterdessen eilte Goebbels in den Bunker. Ihm gelang es, Hitler wieder etwas aufzurichten. Gefasst kehrte dieser in den Konferenzsaal zurück.

Noch einmal versuchten die anwesenden Generäle, ihrem »Führer« Mut zu machen, malten Hoffnungsschimmer in die dunkle Lage, an die sie selbst nicht glaubten. Noch stünden Truppen zur Verfügung, die Berlin retten könnten: die Armee Wenck, die Einheiten des Generalobersten Busse und die östlich von Dresden fechtenden vorgeschobenen Verbände der Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Ferdinand Schörner. Keitel und Jodl drangen wiederholt auf Hitler ein, Berlin zu verlassen und den Kampf vom Norden oder Süden weiterzuführen. Doch Hitler winkte ab. »Tun Sie, was Sie wollen. Ich habe keine Befehle mehr.« Er lasse sich nicht mehr weiterschleppen und hätte schon die Wolfsschanze in Ostpreußen nicht mehr verlassen dürfen. Als wollte er sich selbst die Tragweite seiner Worte verdeutlichen, erklärte er, er werde auf den Stufen der Reichskanzlei fallen. Dann befahl er seinem Adjutanten Schaub, seine persönlichen Papiere im Garten der Reichskanzlei zu verbrennen.

Kurz darauf ließ Hitler seine beiden noch verbliebenen Sekretärinnen, Traudl Junge und Gerda Christian, sowie seine Diätköchin Constanze Manziarly herbeirufen. Er, der bedenkenlos Tausende von Hitlerjungen in den Tod ziehen ließ, der millionenfachen Mord in den Todesfabriken des Ostens angeordnet hatte, sorgte sich um das Schicksal seiner weiblichen Teerunde. Als Traudl Junge mit den anderen in den kleinen Vorraum vor Hitlers Arbeitszimmer eilte, wo dieser sie in Gesellschaft von Eva Braun erwartete, war sie erschrocken, wie leblos Hitler aussah. »Ziehen Sie sich sofort um. In einer Stunde geht ein Flugzeug, das sie nach Süden bringt. Es ist alles verloren, hoffnungslos verloren«, stieß Hitler bei ihrem Anblick hervor.

Alle standen erschüttert, schweigend. Schließlich war es Eva Braun, die sich als Erste aus der Erstarrung löste. Sie ging auf Hitler zu, der schon die Hand auf die Klinke seiner Tür gelegt hatte, und nahm seine beiden Hände: »Aber du weißt doch, dass ich bei dir bleibe. Ich lasse mich nicht wegschicken.« Daraufhin küsste Hitler Eva Braun – zum ersten Mal vor aller Augen – auf den Mund. In diesem Moment sagte auch Traudl Junge, ergriffen von der überraschenden Geste: »Ich bleibe auch.« Hitler erwiderte etwas irritiert: »Ich befehle Ihnen wegzugehen.« Die Sekretärinnen schüttelten die Köpfe: »Wir bleiben hier!« Hitler reichte ihnen die Hand: »Ich wollte, meine Generäle wären so tapfer wie Sie.«

Den Menschen außerhalb der Bunkermauern ließ Hitler keine Wahl, die Stadt zu verlassen. Längst hatte die Feuerwehr alle Versuche eingestellt, die von den ständigen Luftangriffen und dem Dauerfeuer der Artillerie entfachten Brände zu löschen. Asche und Staub wirbelten durch die Straßen und setzten sich in den Lungen der Menschen fest, die ihre Keller nur noch verließen, wenn Hunger und Durst sie hinaustrieb. Jeder Schritt auf die Straße war gefährlich, und selbst kurze Wege waren mühselig. Russische Tiefflieger stürzten sich auf alles, was durch die schmalen Schneisen hastete, die Schutt, Trümmer und Müll freigelassen hatten. Tote Menschen, Tiere und die Skelette ausgebrannter Autos säumten den Straßenrand und verbreiteten einen beißenden Geruch. Ein normales Leben gab es längst nicht mehr. Auch die letzten Betriebe hatten ihre Arbeit eingestellt, und immer öfter fielen Strom und Wasser aus.

Unter Androhung der Todesstrafe durfte ab dem 22. April nicht mehr mit Strom gekocht werden. Die Berlinerin Emilie Gerstenberg notierte in ihr Tagebuch: »In der Frontstadt Berlin klingt wie Meeresbrandung der unaufhörliche Donner der Geschütze. Überfliegende russische Bomber veranlassen das Aufbrausen des Flaklärms. Das Volk hat sich schnell an alles gewöhnt. Die Schlangen vor den Geschäften rühren sich nicht von der Stelle. Wie könnte man auch seinen Platz aufgeben, den man fünf bis zehn Stunden schon behauptet hat? In den Lagerhallen sollen große Mengen Lebensmittel sein. Die Keller der Geschäftsleute sind leer. Warum, so klagen die Käufer, wurde die Ware nicht früher ausgegeben? (...) Auf den Straßen sausen Militär- und Panzerwagen, Volkssturm und Soldatentrupps marschieren. Verwundete mit notdürftigen Verbänden werden auf Lastwagen vorbeigefahren. In immer größeren Scharen ziehen Flüchtlinge westwärts.«

„In meinem Kopf dreht es sich wie ein Mühlrad. Der Führer, der bislang nie einen Zweifel an seiner Zuversicht aufkommen ließ, er gibt auf, restlos und alles auf!“

Hitlers Sekretärin Traudl Junge, Tagebucheintragung zum 22. April 1945

Unerbittlich trieb Stalin die Rote Armee in die Trümmerwelt Berlins voran. Zum Feiertag des 1. Mai wollte er auf dem Roten Platz den Fall der deutschen Hauptstadt verkünden. Bedenkenlos spielte er die rivalisierenden Generäle Schukow und Konjew gegeneinander aus, die sich beide den Lorbeer des Eroberers von Berlin aufsetzen wollten. Viele Soldaten der Roten Armee hatten freilich für den Ehrgeiz der Marschälle nicht mehr allzu viel Verständnis. Der Krieg war gewonnen, so viel war auch dem einfachen Rotarmisten klar. Keiner wollte kurz vor Schluss noch sein Leben verlieren. Die Stoßtrupps gingen daher an manchen Stellen überaus vorsichtig vor, versuchten hart verteidigte Widerstandsnester zu umgehen oder durch die Artillerie ausschalten zu lassen.

In den Vororten der Hauptstadt mit ihren Gärten und ihren Ein- und Zweifamilienhäusern war der Widerstand dennoch rasch gebrochen, weil die Verteidiger hier der Feuerkraft der Roten Armee fast schutzlos ausgeliefert waren. Je mehr sich die Angriffskeile jedoch der Innenstadt näherten, desto härter wurden die Kämpfe. Immer häufiger trafen die Angreifer auf große natürliche Hindernisse wie den Teltowkanal oder die Spree. Die mehrgeschossigen Wohnblocks boten den Verteidigern ein hervorragendes Terrain für Attacken aus dem Hinterhalt. Sogar den zusammengewürfelten Einheiten aus Volkssturm, Hitlerjugend und Versprengten gelang es hier, den Angreifern empfindliche Verluste beizubringen. In einem oft brutalen Nahkampf mussten die sowjetischen Soldaten mühsam Haus für Haus, Stockwerk für Stockwerk durchkämmen – die Eroberung wurde zu einem tödlichen Geduldsspiel.

Die Nachricht von Hitlers Zusammenbruch hatte unterdessen auch Magda Goebbels, die Frau des Propagandaministers, erreicht. Herbeigerufen durch einen Anruf ihres erschütterten Gatten traf sie am Nachmittag des 22. April mit ihren sechs Kindern im Bunker ein. Ihrem Idol in den letzten Stunden des Reiches nahe zu sein, diese Vorstellung verdrängte alle Mahnungen der Vernunft. Die Jahre des Krieges hatten bei Magda Goebbels tiefe Spuren hinterlassen. Wochen, oft Monate war sie von Klinik- und Kuraufenthalten in Beschlag genommen. Schmerzhafte Entzündungen des Kiefers und des Gesichtsnervs, Herzattacken und schwere Depressionen machten aus der lebenslustigen Frau während der langwierigen Krankheitsphasen eine Schattengestalt, deren fehlende Ausgeglichenheit sich auch in zunehmendem Alkohol- und Zigarettenkonsum bemerkbar machte.

Die Krankheitssymptome waren gleichsam das äußere Spiegelbild der inneren Zerrissenheit. Entgegen aller zur Schau gestellten Durchhalterhetorik hegte Magda Goebbels kaum noch Zweifel am bevorstehenden Untergang des Reiches, dem sie ihr Heil verschrieben hatte. In den letzten Wochen drehten sich die Gespräche des Ehepaars meist nur noch um das Szenario für den Abgang. Nach langem Ringen war Magda Goebbels einig mit ihrem Mann, bis zum Ende in Berlin zu bleiben und die Kinder bei sich zu behalten. »Ich erkläre dem Führer, dass meine Frau fest dazu entschlossen ist, auch in Berlin zu bleiben, und sich sogar weigere, unsere Kinder nach draußen zu geben«, hielt Goebbels am 1. Februar 1945 im Tagebuch für die Nachwelt fest. »Der Führer hält diesen Standpunkt zwar nicht für richtig, aber für bewundernswürdig.«

Den festen Entschluss, dass es für sie und ihren Mann kein Zurück geben würde, bestätigen ihre Gesprächspartner aus dieser Zeit übereinstimmend. »Das Leben, das ihr alle nach dem Zusammenbruch leben werdet«, werde nicht mehr lebenswert sein, erklärte sie ihrer Vertrauten Ello Quandt zur Begründung. »Gerade was uns betrifft, die wir zur Spitze des Dritten Reichs gehört haben, wir müssen die Konsequenzen ziehen. Wir haben vom deutschen Volk Unerhörtes verlangt, andere Völker mit unerbittlicher Härte behandelt. Dafür werden die Sieger gründliche Rache nehmen. (...) Da können wir uns nicht feige drücken. Alle anderen haben das Recht weiterzuleben, wir nicht. Wir haben dieses Recht nicht (...) wir haben versagt.« Bei Loringhoven, der zufällig Augenzeuge des Eintreffens von Magda Goebbels und ihren sechs Kindern wurde, löste ihr Bild dunkle Ahnungen aus. »Alle Kinder waren in so dunkle Mäntelchen gekleidet, und daraus schauten blasse, ängstliche Gesichter heraus. Mich fasste ein furchtbarer Schreck und ein wahnsinniges Mitleid mit diesen Kindern, weil die Angst in mir aufstieg: Diese Kinder kommen hier nie wieder raus aus diesem Bunker, aus diesem Inferno, in dem wir existierten.«

Den Neuankömmlingen in der Bunkerwelt wurde alsbald ein Quartier zugewiesen. Magda Goebbels bezog mit ihren Kindern vier kleine Räume im Vorbunker, nahe der Wendeltreppe, die zum Führerbunker hinunterführte. Krebs, Loringhoven und auch Boldt, der zur Verstärkung Loringhovens am nächsten Tag eintraf, wurden etwas weiter entfernt in einem der Bunkerräume unter der zur Voßstraße gelegenen Neuen Reichskanzlei einquartiert. Auch der Voßstraßen-Bunker war durch einen 80 Meter langen unterirdischen Gang – nach dem Intendanten der Reichskanzlei auch »Kannenberg-Gang« genannt – mit dem Vorbunker verbunden, so dass der Weg zu Hitler kurz blieb.

Komfort freilich bot der kaum 5 x 5 Meter große, fensterlose Bunkerraum, der den dreien als Schlaf- und Arbeitszimmer zugewiesen war, nur wenig. Links neben der Tür stand ein doppelgeschossiges Stockbett. Als der Ältere und Ranghöhere belegte Loringhoven das untere Bett, Boldt schlief oben. Gegenüber dem Stockbett standen zwei Schreibtische, darauf Telefone und Lampen. Ein großer Vorhang trennte ihren Teil des Raums von der anderen Hälfte, die von General Krebs bewohnt wurde. Hier sollte Loringhoven von nun an schlafen und arbeiten, wenn er nicht zu Besprechungen in den Führerbunker abberufen wurde. Er schlief ein mit der bedrückenden Ungewissheit, dass er die düstere Bunkerwelt vielleicht nie wieder lebendig verlassen würde.

Die letzte Schlacht

Подняться наверх