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Auf ins Baltikum!

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„Heraus in den Mai!“ heißt es so schön. Ich hoffe, das ist jetzt nicht nur so eine Parole, die auf meine Kindheit als Jungpionier im Osten Deutschlands hinweist, sondern eher so auf den Frühling gemünzt ist. Na, jedenfalls startete ich am 1. Mai 2017 um 6:05 Uhr ins Baltikum, und zwar mit der Eisenbahn nach Stralsund. Ich wollte mit genau diesem Zug fahren, weil ich damit unzählige Male ins Hauptquartier meines Arbeitgebers nach Hamburg gefahren bin. Und stets dachte ich: „Wie schön wäre es, im Zug sitzen zu bleiben bis zur Endstation: Binz auf Rügen!“

Stralsund ist eine Station vor Rügen und liegt direkt am Meer. Der Tag war nicht kalt und nicht warm und es gab sehr viele Polizisten am Bahnhof. Ich war aufgeregt und bestens gelauntund fragte übermütig: „Sind Sie so viele wegen mir?“ Ein Polizist meinte dann etwas irritiert, das sei wegen der Demonstranten. Worauf ich dann meinte: „Die sind doch in Kreuzberg oder im Schanzenviertel in Hamburg.“ Darauf sagte er: „Ja, aber hier sind es die Rechten, die den Terror machen“ und, ob ich nicht lieber die Peaceflagge auf meinem Wagen einrollen wolle, bevor ich noch vermöbelt würde. Da konnte ich nur sagen: „Hätte ich das gewusst, ich hätte zwei Flaggen mitgebracht für diese Leute. Ich lauf jetzt mal raus aus der Stadt Richtung Estland!“

Es war die erste von unzählig vielen kleinen Begegnungen und Geschichten, die mir passierten. Es sind hunderte, an die ich mich erinnern kann. Die habe ich oft auch in meinen täglichen Einträgen in meinem Blog erwähnt. Wo es passt, füge ich den Link zu der Geschichte im Blog ein, und so kann man sie im Original nachlesen auf https://abenteuerbaltikum.com

Die erste Geschichte beginnt hier: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/01/stralsund-stahlbrode/

Und so mache ich die ersten Schritte am Bahnhof in Stralsund. Ich will das nicht überhöhen, aber es ist für mich ein riesiger Schritt, den ersten von 2.000 Kilometern anzugehen. Ich spüre das, was ich mir unter „mit weitem Herzen und frohem Mute“ vorstelle. Diese Weite, diese Unabhängigkeit – herrlich! Die Entfernung ist dabei nicht so entscheidend. Zwanzig, dreißig Kilometer sind keine Besonderheit für mich, das mache ich öfter schon mal. Aber jeden Tag? Nun, warum soll es nicht funktionieren, wenn man es nicht übertreibt? Bis jetzt ist das eine Theorie (und die Erfahrung anderer Abenteurer), nun werde ich sehen, ob ich das kann – das tägliche lange Laufen und das Nicht-übertreiben.

Am liebsten laufe ich ohnehin in Gedanken und weiß nicht so ganz genau, wieviele Kilometer, oder gar Schritte ich bisher gelaufen bin. Es wäre eine langweilige Plackerei, wenn man jeden Kilometer mitzählen würde. Nur am Ende trage ich den Lauf in mein Laufbuch ein – eine langjährige Tabelle. Dann freue ich mich und bin motiviert, da beim nächsten Mal weiter zu machen. Lange hatte ich keine Laufuhr und will auch keine, auch nicht die Ansagen oder gar motivierenden Aufrufe einer App.

Denn sonst wäre es Training. Ich will nicht trainieren, ich will laufen. Das ist in meinem Alter ohnehin die bessere Wahl. Das Kilometerzählen nähme mir einen Teil des Genusses. Ich spüre ohnehin meist intuitiv, ob es gut läuft, ob es rollt, oder ob ich gar im Flow bin. Zum Flow gehört es ja, dass man nicht über ihn nachdenkt. Selbst wenn man bemerkt: „Ich bin im Flow“, kann ihn das schon kippen.

Mein Weg aus Stralsund über holprige Neben- und Landstraßen führte mich nach Stahlbrode. Diese allererste Etappe hatte ich mir so oft auf der Karte angesehen und es war jetzt äußerlich erstmal nichts Besonderes dabei. Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es sein musste, mit frohem Herzen auszuziehen in die Ferne, den frischen Wind um die Nase, die Sonne von vorn und überglücklich. Und so war es auch. Nur ohne Sonne. Es war das reine schwebende Glück, das nur durch den schlechten Weg und das ziemlich heftige Gewicht an meinem Hüftgurt hin und wieder in Realität umschlug. Teils kein Radweg, teils eine Leitplanke im Weg, verständnisvolle und verständnislose Autofahrer und drei wirklich alte Frauen auf einer Sitzbank vor einer vorpommerschen Kate waren meine ersten Eindrücke. Diese Frauen hatten Kopftücher auf und saßen nur so da. Das Wort „Kopftuchverbot“ war gerade in Mode und wenn es denn käme, hätten die drei sicher darunter zu leiden. Denen winkte ich zu und sie guckten nur zufällig in meine Richtung, aber ohne sich irgendwie zu regen. Cool, das gab es nur im Norden. Sicher dachten sie irgendwas oder brummten sich etwas zu, aber eben unmerklich. Wieder so eine Begegnung. Das gefiel mir und ich merkte, wie ich alles nur so aufsog und von nun an auch die Zeit hätte, es aufzusaugen. Das wahre Leben, der Alltag hier und da, die Freiheit, das mit eigenen Augen anzusehen!

Ich laufe also Tag 1 und habe den Auftakt. Es fühlt sich so an, wie ich es kenne, was Beine, Rumpf und Kreislauf angeht. Ein schönes Gefühl – keine Überlastung, fast so, wie nach getaner Arbeit, nur schöner. Laufen ist ja, mal abgesehen von meinem Fortkommen auf der Reise, an sich „nutzlos“ im materiellen Sinne. Aber es bringt so viel, was man mit Geld nicht kaufen kann. In einem Psychoworkshop vor vielen Jahren sollten wir mal aufzählen, was wir uns Gutes tun können für den Preis von unter 5 Mark und ohne Hilfe anderer. Mir fiel damals ein: Tasse Kaffee + warmes Wannenbad. Heute würde ich sagen: „raus und laufen“. Die Badewanne danach finde ich heute noch genauso super, nur ist sie nochmal schöner als ohne Lauf davor. Und dann einen heißen Kakao! Den würde ich heute nicht bekommen.

In Stahlbrode war ich das erste Mal direkt am Ufer der Ostsee. Das war schon eine echte Ankunft. Etappe 001 Wind pfiff und sobald ich nicht mehr lief, fing ich an zu frieren. Drei Studenten mit ihrer nagelneuen Kamera auf einem Stativ machten Fotos und ich bat sie, mich abzulichten. Schnell gab ich noch meine E-Mail-Adresse und flüchtete in den Hafen-Imbiss. Puhh, war das kalt. Hier konnte ich mir was überziehen und etwas essen. Fisch natürlich – aus der Ostsee – woher sonst? Ich hatte noch ein paar Tage ein schlechtes Gewissen, weil ich mehr oder weniger konsequenter Vegetarier bin. Aber mit einer gewissen Verdrängungstaktik aß ich dann wochenlang Fisch und hier und heute eben meinen ersten nach langer Zeit – köstlich!

Campingplatz Stahlbrode, mein Zelt ist zum ersten Mal im Einsatz und ich rolle mich schon gegen 19:30 Uhr zusammen. Was sollte ich auch tun? Keine Menschenseele in der Nähe, viel Wind und ich fror weiterhin. Es gab wohl auch Duschen und ich geh echt nur ungern ungeduscht ins Bett. Aber bei diesem Wind und der Kälte… Im Norden zieht es halt und Wind ist, wenn die Schafe keine Locken mehr haben. Davon sind wir hier noch weit entfernt. An diesem Abend krabble ich also ohne Dusche ins Zelt, es ist einfach zu kalt, weil es so windig ist. Das ist auch nicht so schön, aber das Gefühl „Wow, ich bin unterwegs!“, überstimmt alles andere. Immerhin war ich seit fünf Uhr auf den Beinen. Ich hatte es getan. Erst hatte ich es beschlossen, dann geplant und dann hatte ich meine Reise heute begonnen. Das war eigentlich sehr einfach und doch irgendwie sensationell.

Geduscht hab ich dann doch noch am anderen Morgen – sogar warmes Wasser gab es und die Sonne schien. Der Wind hatte sich gelegt, ich packte das erste Mal wieder alles zusammen. Das würde ich nun jeden Morgen machen. Was für eine Änderung im Leben! Ich lief nach einem Abstecher an den Hafenkiosk zwecks rustikalem Frühstück (da gibt’s eigentlich nichts ohne Fisch), auf meiner zweiten Etappe nach Greifswald. Die meiste Zeit ging es auf der ehemaligen mit Granit gepflasterten Bundesstraße entlang. Es ist eine der vielen Alleen im Osten Deutschlands, die neue Bundesstraße verläuft parallel. Das Laufen fühlte sich normal an, wie an einem Sonntag, wenn ich samstags auch schon gelaufen war. Also immer noch alles im ganz normalen Rahmen und weiter nichts Besonderes.

Die Ostsee war hier weit weg, aber der Wind wehte wieder. Gegenwind finde ich gut, der spornt mich irgendwie an und ich bin gefühlt fast schneller als sonst. Er kostet mehr Energie, auch zusätzlich durch mein Anrennen, aber so bleibe ich im Allgemeinen wärmer. Das ist eine Art „Energieverschwendung“, die auch angenehm ist. Ich befrage kurz meinen Geist, ob das überhaupt klug ist, so zu rennen. Denn immerhin habe ich den Wagen dabei, der auf dem Pflaster teilweise ganz schön rumpelt. Aber dann beschließe ich, die Frage als müßig abzutun, denn ich mache sowieso was ich „innen drin“ will, nicht was vernünftig ist.

Die Hauptkirche von Greifswald kommt schon früh in Sichtweite und ich bin happy. Es läuft! Es funktioniert! Ich reise in Laufschuhen um die Welt! Dafür werde ich noch ein paar Tage brauchen, bis ich das wirklich „gefressen“ habe, dass das auch so ist. Klar, die Beine spüre ich, aber warum auch nicht? Das Granitpflaster erscheint mir härter als Asphalt und ich bin froh, als es auf der Teerstraße weiter geht. Dabei ist das wahrscheinlich 100 % Einbildung. In Greifswald treffe ich einen Geschäftspartner, der auch ein sehr guter Läufer ist. Wir essen etwas und treffen ein paar Absprachen. Die werde ich später an meine Mitarbeiter senden, als vorläufig letztes Stückchen Arbeit bis zu meiner Rückkehr.

Nach Greifswald soll ein Campingplatz kommen, aber der hat geschlossen. So laufe ich immer weiter, bis wieder ans Meer. Puhh, das waren dann letztendlich über 36 km. Das ist schon viel. Immerhin – Berge gibt es hier nicht – so sind die Oberschenkel OK. Es geht mir gut, es gibt in einer Pension am Meer auch was zu essen und das Zimmer ist zwar vom Winter noch etwas muffig, aber gemessen am Preis ist es OK. Ich muss mich gut dehnen heute, sonst bekomme ich Probleme. Das wird mir jetzt nochmal klar, obwohl ich dafür überhaupt keine Lust habe. Das wird mir in den nächsten 90 Tagen so gehen. Laufen täglich OK, aber dehnen ist auch ganz wichtig. Ich mache ein paar Übungen, die mir zeigen, wie gespannt die Sehnen wirklich sind. So läuft es: Ich muss mich so viel dehnen, dass der morgige Lauf meinen Körper nicht mehr beansprucht als heute. Mobilfunk gibt es nur am Strand, wo es wieder windig ist. Wahrscheinlich sprechen die Küstenbewohner dabei noch nicht von Wind, für mich ist es kurz vorm Sturm. Ich friere sofort wieder im Wind, denn ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag draußen zu verbringen. Mein Bedarf ist erhöht: 1500 kcal mehr als an einem Tag ohne Lauf. Die muss man auch erstmal reinschaufeln. Und ich sollte mir Gedanken machen zum Energieverbrauch: Vielleicht hilft dickere Kleidung – also ein Teil mehr überziehen zum Beispiel. Das hab ich nicht gern und mehr Klamotten, mehr Waschbedarf. Sollte es regnen, würde das Teil auch zusätzlich nass sein. Und ich sollte nicht so gegen den Wind anrennen, sondern lockerer traben. Das fällt mir schwer.

Letztendlich schlafe ich wieder ein mit dem herrlichen Gefühl der Freiheit, des Abenteuers und der Erwartung des „Mehr davon“. Dabei ist noch gar nicht viel passiert. Der Wagen mit seinen 30 Kilo rollt sehr leicht. Wenn das Gewicht über der Achse austariert ist, liegt auch kaum Gewicht auf dem Hüftgurt. Offenbar entscheiden Kleinigkeiten beim Packen über den Komfort beim Laufen: Denn manchmal schaukelt sich der Wagen durch meine Schrittfrequenz auf und dann reißt er am Gurt. Die Idee, dann die Schrittfrequenz zu ändern, kann ich schnell als Illusion verwerfen. Ich habe sogar gehört, dass jedes Gespannpferd seine eigene Frequenz hat und man nur zwei davon zusammenspannen kann, wenn sie auch taktmäßig zueinander passen. So habe auch ich eine individuelle Takt-Schrittfrequenz und Schrittlänge. Und Pferde sollten generell keinen Wagen ziehen, sondern frei sein! Um den Wagen in den Griff zu bekommen, kann ich nur umpacken. Nach einigem Ausprobieren weiß ich: Vorn mehr Wasser und schwere Lebensmittel, hinten mehr leichte Klamotten und Trockenfutter. In der Gepäcktasche rutscht durch die Aufteilung des Packraums nicht alles durcheinander.

Tag 2 im Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/03/greifswald-gahlkow/

Am Tag 3 geht‘s vorbei an einem ehemaligen Atommeiler durch das Fischerdorf Freest mit leckerem Fisch am Hafen, dann mit der Fähre rüber nach Usedom. So kurz die Überfahrt auch ist – ich bin am Meer, ich bin „on track‘‘ und komme wieder mal in Hochstimmung. Ich ignoriere, dass ich schon am Tage friere, obwohl ich mich umziehe und die nassen Sachen bei Sonne und Wind trockne. Ich suche mir den Heilbutt, einen sehr fettigen Fisch aus, um Energie zu tanken. Kaum angekommen in meiner Ferienwohnung in Karlshagen, mache ich mich ohne Wagen zu einem Strandrestaurant auf – im Laufschritt, um nicht zu erfrieren. Das niedrige Energielevel kann ich nicht länger verdrängen und hoffe aber darauf, dass sich mein Körper mit der neuen Situation anfreundet. Ich esse zwei Hauptgerichte. Das fällt mir nicht schwer, denn ich esse gern, auch wenn es so halt teurer wird.

Blogeintrag: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/03/lubmin-freest-karlshagen/

Ich kenne die Frostattacken nach einem Marathon. Da steht man in Frankfurt überglücklich im grandiosen Zieleinlauf in der Messehalle, will noch etwas genießen, soll aber eigentlich weitergehen. Da drin ist es vergleichsweise warm und wenn man dann doch weiter geschoben wird an der Medaillenübergabe vorbei, raus aus der Halle, dann kommt so eine Art Innenhof mit Verpflegungsständen. Da habe ich dann schon derart gefroren, dass ich kaum was essen oder trinken konnte. Die Duschen sind unten in einer zugigen Halle (wahrscheinlich Parkhaus), da bin ich gefühlt fast erfroren. Die meisten anderen empfanden das als nicht so schlimm. Vielleicht ist das eine Spezialität von mir. Durch das Laufen hat man weniger Fettpolster, die einen isolieren würden. So ähnlich erging es mir am 4. Tag bei meiner Ankunft in Kölpinsee. Die Ausflugslokale sind nun mal keine urigen Alpenhütten mit Kachelofen, sondern auf Sommer, Sonne, Strand und Mücken ausgelegt. Da war es am 4. Mai dann auch nicht sonderlich warm und ich bestellte Tee, mehrere heiße Suppen und das Tagesgericht. Gut, dass ich vorerst auf das Schlafen im Zelt verzichtete, denn im Zimmer kann man doch meist eine Heizung bis zum Anschlag aufdrehen und sich notfalls die zweite Bettdecke drüber legen.

Blogeintrag: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/04/karlshagen-zinnowitz/

Die Buchenwälder auf Usedom, durch die ich von Ferienort zu Ferienort lief, waren einfach traumhaft. Es ging sanft auf und ab, auf teppichartigen Waldwegen. Der Wind war dadurch nicht zu arg und ich war am Tag 5 nun eindeutig über meine bisherigen Laufserien von maximal 3 bis 4 Tagen ohne Pause hinaus. Immerhin, bei meiner Ankunft in der Jugendherberge in Heringsdorf hatte ich mehr als 119 km auf der Uhr und war unverletzt, wenn auch durchaus belastet. Auch das machte mich glücklich. Ich hatte mein Dehnprogramm erweitert und draußen wurde es jeden Tag etwas wärmer. Wie lange würde es noch dauern, bis mein Körper sich damit abfand, dass das nun so weiter ginge?

Die letzten Kilometer in Deutschland waren eine Besonderheit: Die Orte Heringsdorf und Ahlbeck sind miteinander verschmolzen und es geht einige Kilometer direkt auf der schicken Strandpromenade mit den mondänen Häusern in preußischem Stil entlang. Ich laufe vorbei an der berühmten bebauten Seebrücke und den vielen weißen Villen – die so genannte Bäderarchitektur. Der Knaller aber waren die Menschen: Viele winkten mir zu und wünschten gute Reise. Sie riefen und strahlten im Kollektiv. Denn in der Ostseezeitung war ein ganzseitiger Artikel erschienen über meinen Lauf ins Baltikum und nach dem Frühstück waren praktisch alle Gäste der Vorsaison informiert. Einen herzlichen Dank an die Redaktion, die mir auch die drei Sponsoren für die Unterkünfte auf Usedom besorgt hatte. Gut so, denn sonst wäre ich erfroren. Ich war wieder mal in Hochstimmung und ließ mich von Passanten an dem Grenzdenkmal nach Polen fotografieren. Auf der Fähre nach Swinemünde empfahl mir ein Radlerpaar aus dem Rheinland die Konditorei auf der Seebrücke in Misdroy. Da gibt es die mit Abstand größten Sahnetorten, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch zu der Zeit dort, der die Kalorienbomben direkt in Bewegungsenergie umsetzen umsetzen konnte.

Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/05/heringsdorf-ahlbeck/

Kurz vor Misdroy probierte ich barfuß im Sand zu laufen. Das war eine meiner vielen Vorstellungen von diesem Abenteuer: Viele Kilometer Am Strand barfuß laufen – welch eine Wohltat. Es wurden erstmal nur 4 Kilometer, denn mit Muschelschalen und kleinen Steinchen wirkte der Strand doch recht grob auf meine zarten Fußsohlen. Es war trotzdem eine Wohltat, aber an der besagten Seebrücke musste ich ohnehin hoch auf die Strandpromenade. Ich nahm mir vor, das öfter zu machen und mich so auch mit Sandläufen (an der Wasserkante, nicht im tiefen, weichen Sand) zu konditionieren. Die Füße sind meine eigentliche Schwachstelle und die werden auch nicht durchs Dehnen wesentlich besser. Einige Monate vorher hatte ich Probleme mit der Plantarfaszie, der Sehnenplatte in der Fußsohle. Linderung bringt ein Golfball, auf dem man mit den blanken Füßen rollt. Hier war der sandige Untergrund die reinste Therapiesitzung.

Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/06/swinemuende-misdroy/

Am Tag 6 dachte ich erstmals über einen Pausentag nach. Auch wenn alles gut lief, würde ich neben Punkt 1 (dehnen!) auch Punkt 2 erfüllen müssen (nicht übertreiben). Nur dann blieb ich gesund. Aber es sollte nicht irgendein Kaff sein, wo ich pausieren wollte und so lief ich weiter. Der Tag hatte es in sich: Misdroy war zu nahe und so lief ich auf einer Landstraße im Halbkreis um den Wolin (einer Art bewaldeter Berg) herum. Meine Bedenken, dass unterhalb der Steilküste eben deren Steine mir den Weg versperren, hielten mich davon ab, wieder am Strand zu laufen. Später sah ich von einem grandiosen Aussichtspunkt 100 m über dem Strand, dass dieser absolut steinfrei und herrlich gelb und glatt war. Tja, da hätte ich auch lang laufen können. Stattdessen hatte ich den Umweg über eine stark befahrene Straße und viele Höhenmeter in den Beinen.

Irrwege wird es immer geben. Die Zimmersuche im nachfolgenden Ort gestaltete sich aussichtslos und so musste ich immer weiter, letztendlich bis nach Kołczewo: 37 km im Ganzen. Die Unterkunft war schön, aber eisekalt, die Dusche brauchte auch einige Stunden, um aufzuheizen. Ich war offenbar der erste Gast des Jahres. Zu essen gab es auch nichts, aber ich hatte ja meine Trekkingnahrung dabei: viel Energie mit wenig Gewicht. Aber alles in allem war es die kälteste Nacht meines Abenteuers. Ich fand zwei ältere Heizlüfter, die ich in Stellung brachte und es gab eine kleine Wandheizung plus einen Elektroherd in dem Sommerhaus. Kein Wunder, dass ich nun das nächst darunter liegende Energielevel erreichte.

Tag 7 und 8 mit jeweils 27 km waren wirklich schön und spannend. Ich traf Leute, genoss die Freuden der Vorsaison, bestieg Leuchttürme, begann mit einem Wörterbuch polnisch zu lernen und aß zwischendurch immer Kuchen und Eis, damit der Tank nicht leer lief. In dem Ort mit dem unaussprechlichen Namen Mrzeżyno am Tag 8 brauchte ich eine Pause. Eigentlich wollte ich bis zum angesehenen Ostseebad Kołobrzeg (Kolberg) durchziehen. Aber irgendwie hatte ich mich – wahrscheinlich in Kołczewo in dem kalten Sommerhaus – erkältet.

Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/08/dziwna-pobierow/

Und: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/10/rewal-niechorze-mrzezyno/

Es sollte meine am längsten andauernde Laufserie bleiben – acht Tage mit immerhin 210 km – mit meinem Ziehwagen Benpacker, mit Gegenwind, mit überraschend vielen Höhenmetern. Ich war stolz wie Bolle, aber auch angeschlagen. Wenn die Reise nicht jetzt zu Ende gehen sollte, musste ich pausieren. Der Grund war die Erkältung, aber natürlich freute sich auch die Anatomie über einen Tag ohne Lauf. Ich schluckte ein Breitband-Antibiotikum, zwei auf einmal und dann zwei pro Tag über zehn Tage. Selbst wenn ich gekonnt hätte, gab es zwei wichtige Gründe, jetzt nicht zu übertreiben: Herzgefäßen. Und Laufen unter Medikamenteneinfluss ist eh schädlich für Niere und Leber. Denn die Organe sind ja mit der Müllentsorgung beschäftigt und kommen beim Laufen ohnehin (normalerweise) unter gesunden Stress.

So erkundete ich am 9. Mai als früher Tourist den Ort Mrzeżyno, der noch im Dämmerschlaf war. Auch hier gab es ein Fischrestaurant, gegenüber der Fischkutter, die ihn angelandet hatten. Das war zwar mal wieder nicht vegetarisch, aber regional und frisch. Ich las den ersten der Kommissar Dupin-Krimis, versuchte polnisch zu sprechen und setzte mich im Windschatten in die Sonne.

Herrlich!

Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/10/mrzezyno/

Um mich zu schonen, lief und ging ich im Wechsel die 20 km bis nach Bakterien und Viren suchen sich ihr Nest, wenn‘s sein muss auch an den Kolberg, wo ich dann nochmals einen Pausentag einlegte. Hier gab es mehr zu sehen und der Hauch des Postkommunismus verband sich auf eigentümliche Weise mit dem Tourismusbetrieb auf kleiner Flamme. Keine Menschenmassen, der fehlende Geruch von Sonnenöl und überquellenden Mülleimern, stattdessen auf Anhieb ein Platz in der Rooftop-Bar eines moderneren Hotelbaus, die sich zu allem Überfluss auch noch langsam dreht, wie die Kugel auf dem Berliner Fernsehturm. Kolberg ist im Sommer richtig voll und bis auf den letzten Platz ausgebucht, aber jetzt wirkte es wie ein sanfter Kurort mit mäßigem Betrieb.

Nach 13 Tagen war ich „drin“. Drin im Rhythmus von täglichem Laufen, viel essen, Aussichtspunkten mitnehmen und der Konversation mit Händen und Füßen, plus 20 Worten polnisch. Russisch jedenfalls verbietet sich in Polen selbst dann, wenn man es perfekt könnte! Jeden Tag war es noch ein Stück länger hell, ich lief ja immer weiter nach Nordosten. Am Leuchtturm in Kolberg war schon Braniewo angeschrieben, das liegt an der polnisch-russischen Grenze!

Ich lief auf Waldwegen, Straßen, Schotterpisten und immer wieder sogar barfuß am Strand auf dem schmalen Streifen am Wasser entlang – auf ganz verschiedene Arten, aber eben meist glücklich. Darüber hatte ich mir vorher viele Gedanken Gedanken gemacht. Ich hatte dafür nicht trainiert und mir war schon etwas mulmig, jeden Tag 20 km zu planen.

Letztendlich kam ich nach 93 Tagen 2.040 km entfernt in Tallinn an. Ich nahm viele Umwege, vor allem über die estnischen Inseln Saaremaa und Hiumaa, sonst wären es womöglich nur 1.600 km geworden. Inklusive der Pausentage war ich jeden Tag knapp 22 Kilometer unterwegs. An den Lauftagen waren es mehr als 26 km im Schnitt. Das ging wunderbar.

Denn die Geschwindigkeit ist nicht so hoch. Ich brauchte 6:30 min für einen Kilometer, das ist gut eine Minute mehr als sonst bei meinen alltäglichen Läufen. Da waren auch mühsame Wandertage dabei und so mancher Halbmarathon auf der Landstraße unter 2 Stunden. Der Schlüssel, jeden Tag so weit laufen zu können, liegt in der langsamen Geschwindigkeit. Da stellt sich kein Muskelkater ein und ich brauche trotzdem nur die halbe Zeit eines Wanderers. Langsamer und weiter laufen, das könnte ein Rezept für das Alter sein.

So stellte sich im Verlauf der vielen Wochen im Baltikum eine „Ultralauffähigkeit“ ein. Einige Monate nach meiner Rückkehr probierte ich Ultraläufe aus, aber nur 63 bis 75 km Strecken. Ich absolvierte sie verletzungsfrei und gut. Unglaublich, wie weit manche laufen können. Ich fühlte mich irgendwie stark und autark dabei und weiß nun, wie weit ich im Notfall zu Fuß kommen würde.

Dass ich aber doch gern schneller laufe, stellte sich auch heraus (wenn ich nicht gerade einen Benpacker mit 30 Kilo Gepäck dabei habe). Ich habe weiter Spaß auch an Wettrennen auf der Straße.

Abenteuer Baltikum (Text Edition)

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