Читать книгу Nach Island - Guðmundur Andri Thorsson - Страница 6
Donnerstag, 1. Juni
Оглавление„… dort gäbe es wenig zu holen, außer Träumen.
Dunklen Träumen, seltsamen Träumen.“
Du hast dich zur Ruhe gelegt, und wir haben noch immer nicht miteinander gesprochen. Morgen breche ich zu einer Expedition auf meine Abenteuerinsel auf, und du kamst nach dem Essen nicht zu mir herein. Schläfst du? Bei Tisch hast du mir nicht in die Augen geblickt, sondern still gelächelt, während ich ohne Unterlaß von meinem Norden daherredete. Hast du mich da vermißt? In diesem Augenblick bedeutet mir die alte Seele des Sagavolkes im jungen, bedrohlichen Land nichts … Unwirtliches Land, Feuer, Eis, Weiten, Einöden und Berge, die Katastrophen, die kernige Menschen formen, sind mir gleich – ein Wort …
Ein Wort aus deinem Mund, und nichts von all dem soll mich je wieder kümmern, selbst wenn ich dir unzählige Male lange Vorträge über die Insel im Norden gehalten habe, in anderen, helleren Stunden unseres Lebens, während deine Augen jeden Tag für mich leuchteten und ich aus deinen Bewegungen erriet, daß dein Körper unter dem weißen, weichen Kleid auf meine Hände und Zärtlichkeiten wartete, wach und warm. Ein Wort, Charlotte: Bleib.
Aber du hast mir nicht in die Augen geblickt, und wir haben noch immer nicht miteinander gesprochen, und du hast dich zur Ruhe gelegt. Meine Bücher stehen hier, so dunkel und still, und ich weiß, sie werden hier stehen, wenn ich zurückkehre. Seltsam, wie sehr ich an meinem alten Schreibtisch hänge, an meinem braunen abgewetzten Lehnstuhl, dem Kamin, der ständig verrußt, seinem Knistern – an dem alten Graham und Emma, meinen armen getreuen Bediensteten, meiner lebhaften Hündin, die jetzt nicht so bald wieder beim Rattenkampf zeigen darf, was in ihr steckt, an der alten Eiche vor meinem Fenster, dem Schlafrock, dem Federhalter, der Zigarettendose. Alles, was mir so lieb und teuer ist, wird hier noch unverändert sein, wenn ich im Herbst zurückkehre, aber ich fürchte, alle Dinge werden mir dennoch befremdlich erscheinen, weil wir nicht miteinander gesprochen haben.
Mein Vater hat mich heute zu sich bestellt und wollte offensichtlich bis zum letzten versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Er fragte, ob die unvorhergesehenen und sonderbaren Ereignisse, die zum Tod seines Kameraden Robert geführt hatten, irgendwie mit dieser Narretei, wie er sie zu nennen pflegte, zu tun hätten. Ich antwortete ihm in aller Ruhe, daß ihm mein tiefes Interesse für Island zur Genüge bekannt sein sollte, zu dessen Entwicklung er ja nicht zuletzt selbst beigetragen hatte, und daß auch er nicht ganz frei von diesem Interesse gewesen wäre, denn er habe ja bekanntlich vor vielen Jahren ebenfalls eine solche Fahrt mit den allseits bekannten Folgen unternommen. Das tragische Schicksal Roberts hätte mit meinem Entschluß oder meiner Person nicht im geringsten zu tun, zumal er es durch seinen ausschweifenden Lebenswandel selbst verschuldet hatte. Andererseits sei mir viel daran gelegen – und ich merkte, daß eine gewisse Schärfe in meinen Worten lag –, das letzte Land Europas mit eigenen Augen zu sehen, das noch nicht durch den Geist der Habgier verdorben sei und durch die Ausbeutung gewissenloser Banditen, die nur auf ihren momentanen Vorteil bedacht seien.
Ich sagte vieles mehr, doch das war der Kern meiner Rede. Der alte Mann seufzte und bot mir ein Glas Portwein an. Dann begann er mir von seinen Abenteuern auf Island zu erzählen, die ich mir geduldig anhörte, obwohl ich das meiste davon nur allzugut kannte. Seine Erzählungen schienen mir diesmal über alle Maßen verworren, und ich hatte den Eindruck, daß ihm seine Abenteuer aus verschiedenen Ländern durcheinander gerieten, aber plötzlich verstummte er und sah eine Weile verloren vor sich hin. Schließlich blickte er auf und sagte leise, während er das Glas verlegen in seiner Hand drehte: Du weißt, welchen Kummer es mir bereitet, eure Streitigkeiten mit anzusehen. Könnte es nicht sein, daß auch die Frau irgendwie Schuld daran trägt? Frauen wie sie verdrehen allen Männern den Kopf …
Ich sprang auf und ging raschen Schrittes zur Tür, aber gerade als ich sie öffnen wollte, hörte ich ihn mit leiser Stimme ein Wort sagen, das ich noch nie von ihm gehört hatte und von dem ich mir nicht hätte vorstellen können, es je aus seinem Munde zu hören: Verzeih.
Er deutete mir, wieder umzukehren, und ich ging einige Schritte ins Zimmer zurück, ohne mich aber zu setzen. Er sagte, er wolle nicht, daß ich eine so schwierige Reise in ein so primitives Land unternehme, ohne mir die Sache vorher gründlich zu überlegen; dort gebe es wenig zu holen, außer Träumen. Dunklen Träumen, seltsamen Träumen. Er erhob sich ungelenk und ging trotz seines hohen Alters immer noch groß und aufrecht auf mich zu. Er klopfte mir auf den Rücken und machte eine scherzhafte Bemerkung, doch mir schien seine Stimme klanglos. Der Glanz in seinen starken stahlgrauen Augen war verblaßt, die Pupillen waren kleiner und matter geworden und die Züge um die markanten Kieferknochen schlaffer; ich bemerkte gelbe Flecken auf seinen knochigen Händen, die mir bisher nicht aufgefallen waren, und mir stieg ein Geruch in die Nase, der mir unzweifelhaft bewies, daß er – auch er – sogar er – begonnen hatte zu altern.
Bald werde ich mich zur Ruhe begeben und die Kerze löschen, meine treue Hündin wie zum Abschied kraulen, den Schlafrock lockern und für einen Augenblick die kühle Brise des Abends auf mich einströmen lassen. Bald werde ich schlafen, und Träume werden mir aufsteigen, seltsame Träume von einem nebelverhangenen Land, dunkle Träume. Das Kratzen der Feder bereitet mir eigentümliche Lust, so als ob ich meinem pochenden Blut im Fluß der Tinte endlich freien Lauf lassen könnte. Der Ast der alten Eiche klopft behutsam ans Fenster, und ich höre das vertraute Rauschen in den Zweigen. Auf Island sind Wüsten, und die Menschen dort sind abgehärtet. Auf Island fließen die Tage im Sommer ineinander. Die Vögel zwitschern bei Nacht. Das Licht strahlt auf Mensch und Tier.
Ich konnte seinen Kummer nie verstehen, habe seine Unrast niemals begriffen. Er hat mich immer wieder verlassen und kam stets wieder zu mir zurück, immer unterwegs durch die Welt, um neue Länder zu erforschen und neue Abenteuer zu bestehen. Warum fuhr ein gutsituierter, kinderloser Kaufmann um die Vierzig nach Island? Dort saß er an Festtafeln mit vornehmen Herren und ritt auf munteren Pferden durch das Land, überquerte Flüsse und sah, wie sich die Berge im Wasser spiegelten: Abenteuer. Er traf Priester, die sich mit ihm in Latein unterhielten und sich mit ihm im Steineheben maßen. Das Land der Geschichten, sagte er zu mir in der kleinen Bibliothek an einem Winterabend, während das Feuer im Kamin knisterte. Gerade zurückgekehrt von Indien, sprach er dennoch nur von dem fernen Thule: das Reich der Königin Saga. Der Norden, der kalt, einsam, schön und wehmütig ist. Er war durchdrungen vom Geist dieses Landes.
„Ultima Thule“, sagte er, „ein poetisches Land, umhüllt von Geheimnissen und uralten Rätseln.“ Ungeheuer gleiten durch die nebelverschleierten Seen, Riesen hausen in den schneebedeckten Bergen, Elfen in den Hügeln, Wassergeister auf den Schären und Zwerge in der Lava. Unberührt von allem Fortschritt. „Und die Menschen dort“, sagte er zu mir, „werden neunhundert Jahre alt. Sie sterben und werden wieder neu geboren. Dieselben Menschen, wieder und wieder. Dieselben Geschichten, dieselben Schicksale.“
Er kämpfte mit Wegelagerern, die im Hinterhalt lauerten und ihn berauben wollten, aber er überwältigte sie, und sie schworen ihm hinterher einen Treueid und wollten ihm folgen, erzählte er mir, während wir an einem Juniabend im Eßzimmer zu zweit bei Tisch saßen und er gerade aus Afrika zurückgekommen war.
Die Geschichte eines Herbstabends, Abenteuer: er allein unterwegs am Strand bei Nacht. Irgendwo im Osten von Island. Es herrscht Stille, sagte mein Vater. Und die Stille ist unwirklich, so wie sie ist, wenn es hell ist und alles schläft. Er sieht in der Ferne, wie ein Mann langsam am Meer entlangreitet. Er hat den Hut tief ins Gesicht gezogen, daß er die Augen verdeckt. Er kommt näher. Als er auf Hörweite herankommt, ruft ihm mein Vater einen Gruß zu. Der Fremde antwortet nicht und kommt immer näher. Und im selben Augenblick, da mein Vater erkennt, daß sich unter dem Hut kein Gesicht befindet, ist der Mann verschwunden. Nicht aber das Pferd. Es kommt ganz auf meinen Vater zu, bleibt dicht vor ihm stehen und schnaubt ihn freundlich an.
„Und was hast du gemacht, Vater?“ fragte ich.
Er blickte in das erlöschende Kaminfeuer und strich mir über den Kopf.
„Es war kein Gesicht unter dem Hut, nur Schwärze“, murmelte er.
Er war erfüllt vom Geist dieses Landes, das von Geheimnissen und uralten Rätseln umhüllt ist. Als er nach Hause zurückkehrte, folgte ihm eine junge Frau. Sie trug ein blaues Gewand. Sie trug ein rotes Gewand. Und ihr goldenes Haar fiel dicht über ihre Schultern herab und reichte weit auf den Rücken hinunter. Sie trug ein weißes Gewand. Und er nahm sie zur Frau, und ich wurde geboren, als sie starb.
Dieselben Menschen, wieder und wieder: Ich bin neunhundert Jahre alt.