Читать книгу Nach Island - Guðmundur Andri Thorsson - Страница 9

Sonntag, 4. Juni

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„… Warum wollte er nie mit mir über meine Mutter

sprechen? …“

Meine Freunde hatten heisere und kratzige Stimmen vom Rauchen und Trinken. Als Cameron und ich beschlossen, auf die Hafenmole hinauszuspazieren, sagte Hólm, er wolle lieber auf uns warten.

Das Schiff, eine lange, niedrige, dreimastige Bark, war bereits da. Wir eilten zum Hotel zurück und fanden dort Hólm in lebhaftem Gespräch mit dem Wirt. Er hatte schon wieder den Whisky vor sich und war ganz in seinem Element. Er nannte mich zum Spaß Stanley und sagte, irgendwo in der Einöde Islands werde wohl ein Livingstone auf mich warten. Auf unsere eindringlichen Bitten, aufs Schiff zu kommen, ging er erst gar nicht ein. Wir beschlossen, ihm seinen Willen zu lassen, besorgten ein Boot und gingen an Bord der Diana. Ich war voller Ungeduld, endlich aufzubrechen. Das Reisefieber hatte mich gepackt.

Es hieß, das Schiff solle noch an diesem Abend spät auslaufen, und sobald wir uns zur Genüge umgesehen hatten, gingen wir wieder an Land und aßen im Hotel zu Abend. Der Wirt teilte uns mit, daß sich Hólm wegen irgendwelcher Geschäfte davongemacht hatte. Wir machten uns deswegen noch keine großen Gedanken, doch als um zehn Uhr noch immer keine Spur von unserem Begleiter in Sicht war, ergriff mich doch eine gewisse Unruhe. Cameron bemerkte, dieser Isländer sei ein primitiver Mensch und werde ein interessantes Untersuchungsobjekt abgeben, denn er sei nie zuvor einem Menschen einer primitiven weißen Rasse begegnet. Wir könnten ihn im übrigen getrost vergessen, denn solche Menschen hätten ein anderes Zeitgefühl, und Pflichtbewußtsein sei ihnen fremd.

Eine halbe Stunde später war ich der Verzweiflung nahe. Es wollte mir einfach nicht gelingen, mir ein rechtes Bild von diesem Mann zu machen. Er schien in nichts dem zu entsprechen, wie ich mir Isländer vorgestellt hatte. Ich hatte zwar erst einen Mann dieses Volkes kennengelernt, den alten Jón, der meinem Vater nach England gefolgt war und der mir die Sprache beigebracht hatte, weil er meinte, ich müßte die Sprache meiner Mutter verstehen. Wahrhaftig ein Bild von einem Ehrenmann! Jeden Tag saß er mit krummem Rücken in der Bibliothek und las und schrieb, schrieb und schrieb. Was schrieb er denn immerzu? Warum wollte er nie mit mir über meine Mutter sprechen? Er blickte nicht einmal auf, wenn ich hereinkam, um mit ihm zu reden. Und wenn er den Mund auftat – so scheint es mir jedenfalls jetzt in der Erinnerung –, dann nur, um Island zu preisen, es zu bedauern oder ihm nachzuweinen. Er weinte übrigens recht gern. Das Buch, das er mir gab, mußte große Bedeutung für ihn gehabt haben. Er war so feierlich, als er es mir kurz vor seinem Tod überreichte und mich eindringlich beschwor, es aufzubewahren und zu lesen, sollte ich nach Island fahren: Vera relatio de spiritu Bjamarstadensi. Genau das richtige, um es auf der Hinfahrt zu lesen und mich im Isländischen zu üben.

Gegen elf Uhr wurden Cameron und ich immer schweigsamer, denn es war uns inzwischen klar, daß wir von nun an auf die Begleitung Hólms verzichten mußten. Wir durften es nicht länger hinauszögern, an Bord zu gehen, und Cameron sagte, es sei wahrscheinlich das beste, daß uns der Isländer gleich zu Beginn im Stich gelassen hatte. Schlimmer wäre es gewesen, einem solchen Mann in der Einöde Islands auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Ich mußte ihm recht geben, und wir, zwei schweigsame, gebeugte Männer, bestiegen das Boot. Aber dennoch hatte mir dieser junge Mann auf so sonderbare Weise gefallen, daß ich ihm wünschte, er möge sich in seinem Suff zumindest gut amüsieren. Ich hatte beschlossen, die Sache damit bewenden zu lassen und weder eine Klage gegen ihn vorzubringen noch eine Antwort zu geben, sollte mich jemand nach seinem Verbleib fragen.

Ich hatte ihn in Gedanken als einen Bediensteten und nicht als freien Mann, als untreuen Knecht, primitiven Wilden und nicht als Reisegefährten oder als meinesgleichen betrachtet. Als wir uns dem Schiff näherten, stand er an Deck und schaute ernst auf uns herab. Es war schwer, seinen Blick zu deuten. Es hatte den Anschein, als schaute er auf etwas weit in der Ferne, jenseits von uns, etwas, das den anderen verborgen war, auf ein Ziel, einen Leitstern, das Land der Träume. Wir begrüßten ihn freudig, als wir an Bord stiegen, und ich mußte mich zurückhalten, ihm nicht um den Hals zu fallen. Er lächelte schwach und sagte, er hätte sich schon Sorgen gemacht und gedacht, wir wären irgendwo über einem Glas hängengeblieben. Es stellte sich dann heraus, daß er in die Stadt gegangen war, um zwei Kaufleute zu treffen. Er wollte sie dazu überreden, Schiffe mit Waren nach Island zu senden auf die Garantie hin, daß er die Waren verkaufe. Außerdem, sagte er, hätte er nicht wenig Zeit damit verbracht, nach originellen Kostümen zu suchen. Wir starrten ihn verblüfft an.

„Ich brauche originelle Kostüme“, sagte er. „Was uns nämlich auf Island wirklich fehlt, sind gute Komödien, und ich habe vor, eine solche zu schreiben und aufführen zu lassen. Zuvor aber brauche ich passende Kostüme. Eine Gesellschaft wie die unsrige auf Island hat großen Bedarf an guten Komödien, da sich in ihnen mit verstaubten Ideen so richtig schön Spott treiben läßt.“

So hat dieser große Gentleman den Kopf ständig mit dem Mangel und der Rückständigkeit auf Island voll. Sogar das, was uns Engländern als bedeutungslose Unterhaltung gilt, bekommt in der Welt seiner Gedanken einen tieferen Sinn.

Auf unserem heutigen Spaziergang sprachen Cameron und ich über Gott und die Welt. Unter anderem über den elektrischen Strom und davon, daß es einem deutschen Wissenschaftler gelungen sei, zu beweisen, daß auch Laute mit Strom übertragbar sind, und wie man sich mittels eigens dafür konstruierter Apparate sogar zwischen zwei entfernten Orten unterhalten kann. Ich kann den Zweck eines solchen Instrumentes nicht verstehen, da man einander doch schreiben oder sich treffen kann. Was für eine Zukunft erwartet uns, wenn sich die Menschen damit zufriedengeben, sich mit Hilfe von Elektrizität zu unterhalten? Wir disputierten auch über den deutschen Dichter Goethe und seine Farbenlehre. Cameron war offenherziger als gewöhnlich und erzählte mir von seiner hoffnungslosen Liebe zu seiner Cousine Edwina, die einem anderen versprochen war. Er berichtete auch von seinem Aufenthalt in Paris und von der Bekanntschaft mit der bekannten Sängerin Miss Kitty Cooper. Es waren lebhafte Schilderungen.

Ich selbst erzählte ihm einiges aus meiner Kindheit, das ich bisher noch keinem anderen anvertraut hatte; von meiner Einsamkeit zwischen den beiden sonderbaren Männern, meinem Vater und dem alten Isländer Jón; von meiner Mutterlosigkeit, die mich krank im Gemüt machte, von meiner allzu lebhaften Phantasie, die sich Gott sei Dank inzwischen etwas beruhigt hatte.

Wir legten um Mitternacht ab, und ein voller Mond stand über dem Fjord. Ich sah, wie sich die Pier langsam entfernte. Sie war leer. Niemand war gekommen, um Abschied zu nehmen – wir waren auf dem Weg nach Island, aber keiner der zwanzig Passagiere an Bord hatte Angehörige, denen es der Mühe wert war, Lebewohl zu sagen. Ich sah, wie das Land zurückwich. Es entfernte sich rasch von mir – oder ich mich von ihm –, aber nicht ganz: während wir immer weiter von der Küste fortsegelten, spürte ich, wie sich einzelne Gedanken aus meinem Kopf lösten und zum Land hinüberflatterten, um dort zurückzubleiben. Ich ließ sie ohne Trauer, ohne Bitterkeit ziehen. Sie würden mich nicht weiter beschäftigen. Ich spürte meinen Kopf mit jeder Seemeile leichter werden, spürte, wie mein Geist langsam bereit wurde, das aufzunehmen, was kommen wollte. Mein Leben war in Aufruhr, aber das berührte mich nicht mehr. Meine Zukunft war Vergangenheit und berührte mich nicht mehr; ein Gedanke folgte dem anderen, und alle strebten sie eilig an Land zurück. Zweifellos sind sie allesamt nach Kensington heimgeflattert, wo sie sich in die Gardinen schmiegten, auf die Stühle setzten, ins Bett schwebten und sich um dich scharten. Lebt wohl, dachte ich: sie bedeuteten mir nichts mehr. Es war empfindlich kalt, und meine Begleiter verschwanden bald unter Deck. Ich blieb allein zurück und betrachtete den roten Mond. Mein ganzes Leben habe ich in Zimmern verbracht, und wenn ich im Freien war, stand ich zwischen Häuserfassaden oder unter Baumkronen. Ich habe in stickigen, kalten, heißen, feuchten und trockenen Zimmern gesessen, gestanden, gelegen, aber jetzt segeln wir. Ich sehe den Himmel. Ich blicke empor und sehe nicht Blätterdächer über mir, sondern den Himmel, der sich mit dem Meer vereint. Jetzt segeln wir, und das Knarren im Schiff, das keinem Gesetz zu gehorchen scheint, bereitet mir ein Gefühl von Geborgenheit und stiller Freude, wie wunderbare Musik. Das Schiff schaukelt, und ich spüre dasselbe Schaukeln in meinem Blut, dieses Rauschen. Ich habe es seit Jahren verspürt, aber nie zu deuten gewußt, und mit einemmal wird mir klar, daß ich um nichts weniger von isländischen Seefahrern abstammen muß als von englischen Adeligen. Ich bin neunhundert Jahre alt. Und wie ich so allein in der Dunkelheit an Deck stehe und in die schwarzen Strudel blicke, da weiß ich, daß sich die Meeresströme um den ganzen Globus winden, einander treffen, sich aneinander schmiegen und kreisen, und ich glaube … ich spüre … ich erahne nicht nur das Strömen meines eigenen, schweren Blutes, sondern ich verspüre zum erstenmal auch die Nähe anderer, gewaltigerer Kräfte, denn hier blicke ich direkt in das Walten eines großartigen Planes, und ich weiß, daß auch ich Teil davon bin, weiß, daß irgendwann sogar mir Vergebung und Gnade zuteil werden wird. Denn jetzt segeln wir. Und mit befreitem, frohlockendem Geist spüre ich, wie mich das Wort durchströmt, dieses eine Wort, spüre, wie es meinen ganzen Körper durchflutet, spüre die Wollust bis in die Fingerspitzen, während ich meine Lippen dieses eine Wort formen lasse, das ich brauche: Ja. Ich spüre, wie es durch meine Adern rinnt und auf Bitterkeit stößt und auf Schuld; alles vermischt sich in einem Strudel, kreiselt – ich bin ganz ruhig. Ich bebe vor demütigem Stolz, Teil der Natur zu sein, voll stiller Erwartung zu sehen, wohin mich der freie Wille, der mir bei meiner Geburt verliehen wurde, leiten wird. Jetzt segeln wir, und ich erahne meine großartige Nichtigkeit.

Denn jetzt segeln wir nach Island, und auf Island erfahre ich vielleicht, wo meine Wurzeln liegen, finde ich vielleicht jemanden, der mir nicht ängstlich ausweicht, wenn ich nach meiner Mutter frage.

Nach Island

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