Читать книгу Haarsträubende Geschichten - Gunnar G. Schönherr - Страница 6

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Herr Hübner geht auf Schicht

Die Finanzkrise anno 2008 hat mich nicht kalt gelassen, Lange habe ich darüber nachgedacht, wie es zu den Problemen kommen konnte. Nach und nach habe ich entsprechende Informationen studiert und somit tief reichende Erkenntnisse gewonnen, wie das Ganze abgelaufen ist und wohl auch in Zukunft ablaufen wird. Dazu nachfolgende, ein wenig unkorrekte Geschichte.

Der Investment-Banker Feinbein schaute gelangweilt aus seinem Fenster im fünfzehnten Stock des Bürogebäudes der Golden-Sachsen-Investmentgruppe. Im Moment gab es für ihn praktisch nichts zu tun.

Die Kurse fielen und fielen. Da war kein Eingriff notwendig. Das Computersystem war exakt programmiert. Sobald die Kurse einen festgelegten Tiefstand erreicht haben, verkaufte der Computer automatisch. Eine Änderung der Situation war nicht in Sicht. Trübsinnig dachte der Banker darüber nach, wie lange er wohl im wahrsten Sinne des Wortes nichts Besseres zu tun haben würde, als aus dem Fenster zu starren.

Plötzlich entdecke er einen Schatten, der das schräg gegenüberliegende Wohnhaus verließ. Er traute seinen Augen nicht. Das wird doch nicht ... Rasch griff er zum Fernglas, das er schon vor einigen Tagen im Büro deponiert hatte, um sich die Zeit besser vertreiben zu können. Tatsächlich! Es war Herr Hübner, der gerade das Haus verlassen hatte! Er konnte durch das Glas genau erkennen, dass dieser in einem nagelneuen Monteuranzug steckte.

„Potzblitz“, stieß er erregt hervor, „das sieht ja gerade so aus, wie wenn der Hübner arbeiten gehen wolle!“

Sein Kollege, der bis dahin mit müdem Gesicht und rotgeränderten Augen auf einen Bildschirm gestarrt hatte, wurde aufmerksam: „Was sagtest du?“

„Du, der Kerl von Gegenüber, der Hübner, ich glaube ..., der geht auf Arbeit!“

„Waaas?“ Die Müdigkeit im Gesicht des Kollegen war wie weggeblasen. Aufgeregt sprang er von seinem Stuhl auf und riss dem anderen das Fernglas von den Augen.

„Tatsächlich!“, stöhnte er aufgewühlt, „der Mann scheint wirklich wieder einen Job zu haben! Schnell, nimm dein Handy, damit wir das später auch beweisen können!“

„Schon passiert“, erwiderte Feinbein gelassen, „das lasse ich mir doch nicht entgehen!“ Aufgeregt fummelte er an seinem Achthundertfünzig-Euro-Smartphone, um den Zoom optimal einzustellen. „Alles drauf!“, keuchte er befriedigt, „das wird garantiert ein Knüller!“

„Was meinst du“, fragte sein Kollege, „um wie viel wird er das BIP1 wohl nach oben drücken?“

„Schwer zu sagen“, erwiderte Feinbein, „so um die hundert Euro vielleicht.“

„Hundert Euro, hundert Euro“, echote sein Kollege, „das ist nicht besonders viel, aber immerhin besser als nichts!“

„Entscheidend ist“, meinte Feinbein, „ob er morgen wieder zur Arbeit geht, denn dann können wir von einer geregelten Tätigkeit ausgehen. Bei einundzwanzig Tagen im Monat sind wir dann schnell über zweitausend. Dann lohnt sich das Geschäft schon wieder!“

„Bis morgen warten! Du hast sie ja nicht mehr alle! Der Kerl steckt doch in einem neuen Arbeitsanzug! Meinst du etwa, er hätte sich den nur für einen einzigen Tag angeschafft? So doof ist doch nicht einmal ein Hilfsarbeiter! Der Hübner ist Montageleiter, das weiß ich aus sicherer Quelle! Da kann man getrost davon ausgehen, dass der wieder eine feste Stellung hat.“

„Du hast ja recht“, brummte Feinbein, „wir müssen schneller sein als die anderen. Wenn die erst spitzkriegen, dass Hübner wieder Arbeit hat, versauen sie uns den ganzen Markt! Also, von wie vielen Monaten wollen wir ausgehen?“

„Monaten? Ich wette jeden Betrag, dass es sich eher um Jahre handelt! Du hast doch gesehen, wie aufrecht der Hübner gegangen ist! Der war doch stolz wie ein Pfau! Der hat garantiert mindestens einen Dreijahresvertrag in der Tasche! Da ist es auch nur noch ein kleiner Schritt, bis der sich eine Immobilie anschafft“

„Ich finde, wir sollten jetzt nicht übertreiben“, schränkte Feinbein ein, „vielleicht hat er eine Probezeit.“

„Der Hübner? Der ist doch mit allen Wassern gewaschen! Der hat früher in seinem alten Job fast den ganzen Laden geschmissen. Falls es überhaupt eine Probezeit gibt, packt er die doch mit links! Drei Jahre, sehr vorsichtig geschätzt, können wir jedenfalls bedenkenlos zugrunde legen!“

„Nun ja“, brummte Feinbein nachgiebig, „drei Jahre wären schon nicht schlecht. Dann hätten wir ja, sagen wir, bei zweihundertzwanzig Arbeitstagen im Jahr mal einhundert Euro, das wären dann doch gleich zweiundzwanzigtausend. Wenn wir dann unsere übliche Basis von zehn Prozent Eigenkapital annehmen, ständen uns summa summarum exakt zweihundert­zwanzigtausend zur Verfügung.“

Sein Kollege nickte zufrieden: „Die erste Tranche, sagen wir mal fünfzigtausend, stecken wir in einen Short Trade2 als SSF3-Arrangement von Hübners neuer Firma. Du wirst sehen, die Aktien werden ganz schön runtergehen, wenn die wieder Leute einstellen. Wenn wir den Rest als ABS4, zum Beispiel als CDO5, auf den Markt bringen, müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht mit wenigstens fünfundzwanzig Prozent im Jahr abschneiden. Damit würden wir in den drei Jahren den neuen Fonds mehr als verdoppeln! Und anschließend können wir dann wieder richtig loslegen! Du wirst sehen, bald spielen wir wieder in der Oberliga!“

„Und wenn es schiefgeht?“, fragte Feinbein zaghaft, er schien noch immer nicht ganz überzeugt.

„Schiefgehen? Was soll den schiefgehen?“, höhnte der Kollege. „Wir haben den klaren Beweis, dass Hübner arbeitet. Zusätzlich sichern wir uns nach oben und nach unten mit CDS6 rundherum ab. Was soll dann noch schiefgehen? Im Gegenteil, wenn wir Glück haben, springt bei den CDS sogar zusätzlich noch etwas heraus!“

Das leuchtete ein. Feinbein grinste: „Und jetzt, wo der Hübner wieder Arbeit hat, habe ich auch schon den ersten Abnehmer für unser neues Produkt im Auge! Der wird sich vielleicht freuen, wenn ich ihm ein unschlagbares Angebot mache! Zusätzlich zum Arbeitseinkommen noch eine quasi kostenlose Immobilienfinanzierung und obendrauf nochmals einen hübschen Batzen von unserem zukünftigen Fonds-Ertrag!“

„Also frisch ans Werk!“, ermunterte ihn sein Kollege, der inzwischen glatt zehn Jahre jünger wirkte, „wir haben noch viel zu tun!“

1 Bruttoinlandsprodukt

2 Leerverkäufe (Verkauf von Aktien, die man gar nicht besitzt) mit Spekulationsziel „Fallende Kurse“

3 Single Stock Futures (SSF) sind Zukunftskontrakte auf Aktien einzelner Unternehmen. Ein Zukunftskontrakt ist ein juristisch bindender Vertrag über das Recht, den zugrunde liegenden Basiswert an einem zukünftigen Datum zu einem festgelegten Preis zu kaufen oder zu verkaufen.

4 Asset Backed Securities sind forderungsbesicherte verzinsliche Wertpapiere, welche Zahlungsansprüche gegen eine Zweckgesellschaft zum Gegenstand haben, wobei die Zweckgesellschaft die Mittel ausschließlich zum Erwerb von Forderungen meist mehrerer Gläubiger verwendet und zu einem Wertpapier verbrieft.

5 Collateralized Debt Obligations ist ein Überbegriff für Finanzinstrumente, die zur Gruppe der forderungsbesicherten Wertpapiere und strukturierten Kreditprodukte gehören. Sie bestehen aus einem Portfolio mit verschiedenen festverzinslichen Wertpapieren.

6 Credit Default Swaps sind Kreditderivate, die es erlauben, Ausfallrisiken von Krediten, Anleihen oder Schuldnernamen zu handeln.

Sie finden, das ist alles nur grenzenloser Schwachsinn? Oder vielleicht sogar nackter Wahnsinn?

Da werde ich Ihnen jetzt nicht widersprechen ...

Haarsträubende Geschichten

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