Читать книгу Krähen über Niflungenland - Gunnar Kunz - Страница 18

7.

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Als sie den Hügel erklommen hatte, war Grimhild außer Atem. Ihrer Mutter dagegen war die Anstrengung kein bisschen anzumerken. Seltsam, wie die Aussicht auf das Fest sie verjüngte!

Bald schon würde die Sonne am Horizont versinken, dann begannen die Feierlichkeiten. Scheite und Zweige waren zu gewaltigen Haufen aufgeschichtet worden, und immer noch kamen Männer und Frauen und gaben ihren Teil zum Feuerholz dazu. Ansgar half bei den Vorbereitungen. »He-ho, setz dich zu mir, frouwa!«, rief er, als er Grimhild bemerkte, und grinste über das ganze Gesicht. Sie lächelte. Selbst erwachsene Männer wurden zu Mittsommer wieder zu Kindern.

Die Bevölkerung von Tolbiacum schien zusammengekommen, jedenfalls, soweit sie nicht christlich war. Selbst von denen, die Christus für mächtiger als Wodan hielten und sich im Namen des gekreuzigten Gottes hatten taufen lassen, ließen es sich viele nicht nehmen, bei diesem Fest dabei zu sein, so sehr die Priester auch dagegen wetterten. Mittsommer war ein Höhepunkt des Jahres, und es konnte nicht schaden, die Sonne im Zenit ihres Laufs zu stärken.

Mit Bedauern stellte Grimhild fest, dass die Aufregung des Sonnenwendfestes sie nicht wie früher fesselte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie der Feier ebenso entgegengefiebert wie alle. Jetzt überlagerte eine Aufregung anderer Art ihre Gefühle. Wenn Sigfrid nur endlich kommen würde!

Nach wie vor strömten Menschen den Hügel hinauf. Auch einige Nachbarn waren gekommen, um das Fest gemeinsam mit den Niflungen zu begehen. Grimhild erkannte Rodinger von Bakalar, einen Gefolgsmann König Attalas, mit seiner Sippe und eilte zu ihnen, um sie zu begrüßen.

Rodinger war ein unscheinbarer Mann, der in der Menge breitschultriger Krieger leicht unterging, doch wenn man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte man eine innere Stärke spüren. Und sobald man seine sanfte Stimme hörte, um die ihn mancher Skop beneidete, musste man vollends für ihn eingenommen sein.

»Frouwa Grimhild! Euer Lächeln ist eine weitaus größere Unterstützung für die Sonne als jedes Sonnenwendfeuer.«

Und wortgewandt war er, erinnerte sich Grimhild. »Ich grüße Euch, frō Rodinger!«

»Ihr seid eine Frau geworden, seit ich Euch zuletzt sah«, stellte er fest.

In gespielter Schamhaftigkeit senkte sie die Lider.

Etwas abseits stand Oda mit Rodingers Gemahlin Gudelinde, einer gutmütigen Frau, die zu Fülligkeit neigte, und deren achtjähriger Tochter Dietlind, die über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Sie hatte den Hang ihrer Mutter zu Rundlichkeit geerbt, war aber nichtsdestoweniger ein hübsches Mädchen. Über die Entfernung hinweg warfen Gudelinde und ihr Mann sich manch vertrauten Blick zu, ein stummer Ausdruck von Zuneigung, der Grimhild ans Herz ging. Sie und Sigfrid würden sich auch immer so ansehen, da war sie sicher.

Ihre Brüder kamen mit Hagen den Hügel hinauf. Grimhild reckte den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung war Sigfrid nicht bei ihnen. Ob Gislher schon mit Gunter gesprochen hatte?

Gislher plapperte in einem fort. An diesem Morgen hatte er seine Waffenübungen mit Sigfrid abgehalten. Seit der Sachse ihn vor Wodans Wut gerettet hatte, vergötterte er ihn geradezu und kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein Verhalten Hagen kränken könnte. Im Gegenteil, stolz berichtete er ihm von den Fortschritten, die er machte. Und Hagen, der war, der er war, behielt seine unergründliche Miene und schwieg.

»Ich wünschte, ich hätte auch so ein Schwert wie Sigfrid«, sagte Gislher. »Mit einem solchen Schwert wäre ich unbesiegbar.«

»Mut ist entscheidender als ein gutes Schwert«, widersprach Hagen. »Manch kühnen Mann sah ich den Kampf gewinnen mit stumpfer Klinge, während Feiglinge trotz eines guten Schwertes unterlagen.«

»Am besten ist es, beides zu besitzen, ein gutes Schwert und Tapferkeit. Wie Sigfrid. Volker kann mehr Heldentaten von ihm besingen, als man zu zählen vermag.«

»Es ist keine Kunst, tapfer zu sein, wenn man unverwundbar ist.«

In diesem Moment kam der pluostrari, der Priester, der die Opfer darbrachte, mit einer Fackel den Hügel herauf. Am Nachmittag war in Tolbiacum das Herdfeuer gelöscht worden. Die Bewohner des Ortes hatten sich versammelt und gemeinschaftlich mithilfe gegeneinander geriebener Holzstäbe eine neue Flamme ins Leben gerufen und dadurch Segen in Ställe und Häuser gebracht. Jetzt trug der Priester das frische Feuer den Hügel herauf und stimmte einen Gesang an. Nach und nach fielen die Umstehenden ein. Es war ein ausgelassener Gesang, eine Hymne an die Sonne, die eben im Begriff stand unterzugehen.

Ein Ochse wurde gebracht. Vier Männer hielten das sich sträubende Tier fest. Der Priester hängte ihm, immer noch singend, einen Kranz aus Wolfsblumen um den Hals, die wegen ihrer sonnenähnlichen Gestalt ausgewählt wurden. Im letzten Licht des Tages reichte er Gunter die Fackel, zog einen heiligen Dolch und steigerte seinen Gesang zu einem ekstatischen Höhepunkt. Der Ochse wurde unruhig, er spürte die Gefahr. Abrupt brach der Gesang ab. Mit einer fachgerechten Bewegung schnitt der pluostrari dem Opfertier die Kehle durch. Der Ochse wehrte sich und versuchte zu brüllen, doch der Tod war schneller. Blut tränkte den Boden. Feierlich nahm der Priester die Fackel aus Gunters Händen und entzündete die errichteten Scheiterhaufen. Einige Männer waren schon dabei, den toten Ochsen zu zerteilen, um das Fleisch im Feuer zu rösten.

Ansgar feixte, als Volker sich neben ihn setzte. »Hast du den Priester gehört? Das war doch wenigstens mal ein Gesang! Davon könnte sich mancher Sänger eine Scheibe abschneiden.«

»Ein guter Sänger ist er wohl. Aber hast du gesehen? Er schneidet seinen sachverständigsten Zuhörern die Kehle durch.«

Oda hatte sich derweil zu Gunter begeben. »Es tut mir leid, wenn ich dich am heutigen Abend mit Reichsangelegenheiten behellige, aber ich wollte mit dir über etwas reden.«

Der Niflunge nickte. Ein König war immer ein König. Für ihn gab es keinen Augenblick, in dem er nur er selbst sein konnte. Im Übrigen hatte er festgestellt, dass die Ratschläge seiner Mutter oft von Wert waren.

»Ich habe über Sigfrid nachgedacht. Er wäre ein guter Mann für Grimhild, glaube ich.«

Seine Mutter ebenfalls? Gislher hatte schon den halben Vormittag mit ihm über dieses Thema sprechen wollen. Nachdenklich wanderte Gunters Blick zu seiner Schwester.

Die versuchte vergeblich, ein Wort von dem zu erraten, was gesprochen wurde. Wenn sie doch nur selbst etwas tun könnte! War es wirklich genug, wenn Gislher und ihre Mutter mit Gunter redeten? Vielleicht genügten zwei Fürsprecher nicht! Grimhild machte sich auf die Suche nach ihrem dritten Bruder.

Im flackernden Schein der Feuer entdeckte sie Gernholt und blieb unschlüssig stehen. Ob sie Erfolg haben würde, hing davon ab, in welcher Stimmung er sich befand. Seit seiner Verkrüppelung pendelte er zwischen Unruhe und Teilnahmslosigkeit. Es gab Augenblicke, in denen er die Welt erobern wollte, dann war er nicht zu bremsen. In solchen Momenten konnte er fröhlich und ausgelassen und sogar komisch sein. Zu anderen Zeiten jedoch kam er sich unnütz vor und empfand sich als Last für die anderen. Dann sprach er oft vom Tod und gab sich düsteren Gedanken hin. Das war vor allem bei feuchtem Wetter der Fall, wenn sein Armstumpf und die Narben an seinem Bein schmerzten. Meist betäubte er sich dann mit einem Sud aus Bilsenkraut.

Sie hatte Pech. Es war feucht, und Gernholt hatte bilisa zu sich genommen. Angewidert verzog Grimhild die Nase. Nach dem Trocknen roch die Pflanze zwar nur noch schwach, aber sie hasste das Kraut. Es verschaffte ihrem Bruder Linderung, aber es trennte ihn auch von der Welt. Für sie waren der Geruch und Gernholts verbitterter Zustand untrennbar miteinander verbunden. Prüfend sah sie ihn von der Seite an. Seine Augen waren glasig, aber sein Verstand schien nichtsdestoweniger in Ordnung. Sie gab sich einen Ruck und setzte sich zu ihm.

»Meine Schwester«, begrüßte er sie schwerfällig, »was willst du denn von einem Krüppel wie mir?«

Grimhild hasste es, wenn er sich so bezeichnete. »Ich wollte dich um deine Hilfe bitten«, sagte sie. So wenig er es ertragen konnte, wenn andere ihm halfen, so sehr gierte er nach den seltenen Fällen, in denen er jemandem beistehen konnte. Es ließ ihn für einen Moment seine Behinderung vergessen und glauben, er sei ein Mann wie jeder andere.

Tatsächlich erhielten seine stumpfen Augen Glanz. »Wie kann ich dir helfen?«

»Frō Sigfrid wird vielleicht um mich freien.« Sie sprach langsam, deutlich und in kurzen Sätzen, damit der Sinn ihrer Worte zu ihm durchdrang. »Bitte unterstütz ihn! Sprich mit Gunter!«

Gernholt bemühte sich um einen klaren Kopf. Sigfrid. Das war der blonde Sachse, ein angenehmer Krieger. Freundlich, fröhlich … »Mach dir keine Sorgen, ich rede mit ihm!« Mühsam drehte er sich auf die Seite, um sich auf seinen vorhandenen Arm zu stützen. Dann winkelte er die Beine an und wälzte sich auf die Knie. Schwankend stellte er einen Fuß auf den Boden und drückte sich hoch.

Grimhild hütete sich zu helfen, obwohl sein Anblick ihr in der Seele wehtat. Er hätte ihre Hilfe nicht geschätzt. Während sie ihm nachschaute, als er mit unsicherem Schritt zu ihrem ältesten Bruder hinüberwankte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, ihn zu ihrem Fürsprecher zu machen.

Der Niflungenkönig sah seinen Bruder auf sich zukommen und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen, ohne sich die Besorgnis über seinen Zustand anmerken zu lassen.

Gernholt kam gleich zur Sache. »Ich muss mit dir reden«, sagte er.

Gunter seufzte. »Du möchtest mir sagen, was für ein guter Verbündeter Sigfrid wäre.«

Gernholt sah ihn verdutzt an. »Woher weißt du das?«

In gespielter Verzweiflung rang der Niflungenkönig die Hände. »Ich hoffe, der Sachse verlangt sie endlich zur Frau, damit ich wieder einmal Ratschläge zu anderen Themen zu hören bekomme.«

Die Sonne war inzwischen hinter den Hügeln versunken. Ein schmaler rötlicher Schein erhellte noch den Horizont, ansonsten hatte sich die Nacht bereits wie ein azurblaues Tuch über das Land gelegt. Die Sterne funkelten in seltener Klarheit. Unter Jauchzen und Schreien bereiteten sich Jungen und Mädchen und solche, die wieder jung wurden, auf das Feuerradrollen vor. Zahllose Wagenräder aus Stroh wurden aufgestellt. Der pluostrari ging herum und entzündete unter rituellen Beschwörungsformeln ein Rad nach dem anderen. Begleitet vom Geschrei der Feiernden rollten die Sonnensymbole dann ins Tal hinab.

Gislher ließ ein Geheul ertönen, als er seinem brennenden Rad einen Stoß gab und mit den Augen der Feuerspur folgte. Ivo tat es ihm gleich, und die beiden Jungen feuerten ihr Rad an, als Erstes unten zu sein. Im unruhigen Licht des Feuers wirkten sie wie Brüder. Ivo war hier geboren und unfrei geworden, als Aldrian das Niflungenreich eroberte. Der König hatte ihn gemeinsam mit Gislher aufgezogen, wie es üblich war.

Hunderte flammender Funken jagten den Hügel hinab und bildeten zuckende Muster in der Dunkelheit. Es war aufregend, ihnen nachzusehen. Auch Dietlind schrie vor Begeisterung. Gislher bemerkte ihre sehnsüchtigen Blicke, und ihm kam zu Bewusstsein, dass sie auf ihrer Reise keine Gelegenheit gehabt hatte, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. »Wartet!«, sagte er und lief mit raschen Schritten davon. Als er zurückkam, hielt er ein Strohrad in der Hand. »Für Euch.«

Dietlind war gerührt. »Danke«, sagte sie.

Er zog ein brennendes Scheit aus dem Feuer und entzündete das Stroh für sie. Sie gab dem Rad einen Stoß. Eine Flammenspur fegte ins Tal hinab und erhellte den Weg mit feurigem Atem. Dietlind machte ihren Gefühlen durch lautes Schreien Luft, was Gislher so ansteckend fand, dass er begeistert mitschrie.

Der pluostrari hatte Gewürze ins Feuer geworfen, die angenehme Gerüche verbreiteten. Jetzt ließ er einen Kessel mit einem aromatisch riechenden Getränk herumgehen, von dem jeder einen Becher voll nehmen durfte. Die Zutaten dafür waren ein Geheimnis der Priester. Die Mixtur öffnete die Sinne für den Zauber und die Schönheit der Mittsommernacht. Gislher ließ Dietlind den Vortritt und trank anschließend selbst. Der Geschmack war streng, aber nicht unangenehm. Mit einem wohligen Gefühl plumpsten die beiden ins Gras und blickten in den Himmel.

»Was wünscht Ihr Euch am meisten im Leben?«, fragte Dietlind.

Gislher kaute an einem Grashalm. »Ich möchte so werden wie Sigfrid«, erwiderte er. »Ich möchte meiner Sippe Ehre machen. Die Skopen sollen von mir singen.« Im nächsten Jahr, wenn er dreizehn war, würde er auf dem Thing sein eigenes Schwert erhalten und als waffenfähiger Krieger in den Sippenverband aufgenommen werden. Ein Jahr noch! Es fiel ihm schwer, so lange zu warten. »Und Ihr? Was ist Euer größter Wunsch?«

»Ihr werdet mich auslachen, wenn ich es sage.«

»Das werde ich nicht.«

»Ich … ich möchte einmal, nur ein einziges Mal eine Nymphe sehen«, platzte sie heraus. »Man sagt, sie seien schön und zerbrechlich. Wie oft schon habe ich einem Baum oder einem Strauch Opfer gebracht, aber noch nie hat sich mir eine gezeigt.«

»Mir auch nicht«, sagte Gislher, »aber Ivo, unser Stallbursche, ist einer Oreade begegnet, einer Bergnymphe. Er erzählt oft davon.«

Beide schwiegen eine lange Zeit. Sie hatten die Augen geschlossen und sogen die verheißungsvolle Atmosphäre dieser besonderen Nacht in sich auf. Ein Versprechen lag in der Luft, die Kraft der Erneuerung. Dietlind fasste es als Erste in Worte. »Wenn die Sonne zurückkehrt, sind wir nicht mehr dieselben.«

»Wir werden etwas Neues sein, etwas, dessen Größe und Bedeutung wir noch gar nicht kennen.«

»Auf dem Weg hierher trafen wir einen Mann, der den ganzen Tag auf einer Säule stand und vom Gott der Christen sprach und die alten Bräuche verfluchte. Ich begreife nicht, warum sie Sonnenwendfeiern für etwas Schlechtes halten. Sie fühlen nicht die Bedeutung dieser Nacht, oder?«

»Sie leugnen sogar, dass Bäume und Quellen eine Seele haben. Ist das nicht töricht? Jeder, der einen Baum berührt, kann sein megin spüren.«

»Es ist ein seltsamer Glaube, dem sie folgen. Der Mann auf der Säule hat mir Angst gemacht. Er war so unerbittlich.«

Gislher wusste, was sie meinte. Die Strenge der Christenprediger machte ihn immer schaudern. »Ihr Glaube muss ohne jede Freude und ohne Ekstase sein. Sie lieben das Leben nicht.«

»Dabei ist es voller Schönheit! Es gibt so viel zu sehen und zu erfahren, so viel, was ich lernen möchte! Sogar Pflanzen und Sträucher verraten einem ihre Geheimnisse, wenn man genau hinhört.«

»Sie sprechen zu Euch?«

Dietlind errötete. »Vater sagt, ich besäße Kräuterheil. Mutter lehrt mich alles, was sie darüber weiß, aber auch sie meint, sie könne mir eigentlich nichts mehr beibringen.«

»Ich weiß nicht, was für eine Art Heil ich besitze«, erwiderte Gislher nachdenklich. »Sicher kein Königsheil. Trotzdem, ich fühle, dass die Nornen Großes mit mir vorhaben. Im nächsten Jahr werde ich auf dem Thing als freier Krieger in die Sippe aufgenommen. Dann bin ich ein Mann und werde alles daran setzen, so viel Ruhm zu erwerben wie Sigfrid.«

»Wird König Gunter Euch Euer Schwert überreichen?«

Der Niflunge nickte stumm.

»Ihr vermisst Euren Vater, nicht wahr?«

Gislher beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Für ein Mädchen verstand sie ziemlich viel. »Ich wünschte, er könnte mir mein Schwert geben«, vertraute er ihr an. »Ich liebe meinen Bruder, aber es ist eben nicht dasselbe.«

»Wisst Ihr schon, wen Ihr zur Frau nehmen werdet?«

Gislher wurde rot. Gespräche über Eheverbindungen machten ihn verlegen. »Nein. Und ich bin froh darüber. Ich will überhaupt nicht heiraten.«

»Ich schon. Wenn Liebe zwischen mir und meinem Mann ist, wie zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Ich glaube, dann kann man alles erreichen, was man will. Das megin aus der Verbindung eines Mannes und einer Frau ist viel stärker als die beiden einzelnen megins zusammen.«

»Ja, jeder kann sehen, dass Eure Eltern großes Heil miteinander haben.« Der Rausch des Trankes stieg Gislher allmählich zu Kopf. Er blinzelte. Die Sterne schienen klarer und näher als zuvor.

»Wie nah sie sind!«, seufzte Dietlind, als hätte sie seine Gedanken erraten.

Gislher blickte sie an, und seine durch den Trank geschärften Sinne sahen sie in einem goldenen Licht. Sie schien von innen heraus zu strahlen. Schwerfällig drehte er den Kopf. Er hatte die vielen Menschen, die mit ihnen das Sonnenwendfest feierten, völlig vergessen, aber da waren sie, Männer und Frauen, und jeder von ihnen strahlte dieses goldene Licht aus. Jeder schien eine Sonne zu sein. Gislher rieb sich die Augen und sah ein zweites Mal hin, aber das Leuchten blieb. Plötzlich fühlte er eine starke Verbindung zu ihnen, mehr noch, er fühlte sich eins mit den Vögeln, den Pflanzen, den Würmern, ja, mit der Erde selbst.

Dietlind nahm ein Amulett von ihrem Hals. »Ich möchte Euch dies hier schenken«, sagte sie. »Es soll Euch schützen, Eure Wünsche in Erfüllung gehen lassen und Euch vor Schaden bewahren.«

Der birnenförmige Anhänger bestand aus Gold. Außen war sōwelō, die Sonnenrune, eingeritzt, und vermutlich war der Hohlkörper mit magischen Gegenständen gefüllt. Als Dietlind ihm das Amulett umhängte, spürte Gislher, dass zwischen ihr und ihm eine besondere Verbindung bestand.

Sigfrid saß an einem der vielen Feuer. Er hatte reichlich vom Trank des Priesters zu sich genommen, zudem atmete er den Geruch der Kräuter ein, die in den Flammen verbrannten.

Flammen. Hitze. Feuer.

Feuer!

Der Himmel war rot vom Widerschein der Flammen. Auf unerklärliche Weise davon angezogen, ritt Sigfrid auf das Licht zu. Vor ihm stieg eine Waberlohe in den Himmel und versengte ihn mit heißem Atem. Grane scheute vor der Barriere und wich schnaubend zurück. Sigfrid redete beruhigend auf ihn ein und tätschelte ihm den Hals. Vergeblich versuchte er zu erkennen, was hinter der Flammenwand lag. Er musste hindurch! Irgendetwas wartete dort auf ihn. Kurz entschlossen ließ er das Pferd zurücktraben, bis der Abstand groß genug war. Dann reckte er Gesicht und Hände gen Himmel, um Wodan um Beistand anzuflehen. Er konnte seine eigenen Worte nicht verstehen, das Prasseln des Feuers übertönte jedes Geräusch.

Mit einem Schenkeldruck trieb er Grane an, ließ einen Schlachtruf ertönen und jagte auf die glühende Mauer zu. Jäh verwandelte sich das treue Tier unter ihm; vier zusätzliche Beine wuchsen aus seinem Körper, zwei Flügel aus seinen Flanken. Wodan hatte ihn erhört! Er gab ihm Sleipnir, sein eigenes Ross! Das edle Pferd raste auf das Flammenmeer zu, tat einen gewaltigen Satz und schlug mit den Flügeln. Dann war Sigfrid von tosendem Feuer umhüllt. Hitze verbrannte ihm das Gesicht, Funken umzüngelten ihn, um ihn am Weiterkommen zu hindern. Seine Brünne begann zu schmelzen. Höher und höher stieg Sleipnir, während die Flammen unter ihm wüteten.

Und plötzlich sank das Feuer in sich zusammen. Die Stille, die auf das Tosen folgte, war ohrenbetäubend. Wodans Pferd schwebte dem Erdboden entgegen und landete auf einer Wiese, die von keiner Flamme berührt schien. Sigfrid stieg von Sleipnirs Rücken und näherte sich einem Schildwall. Ohne stehen zu bleiben, durchschritt er den Ring aufrecht stehender Schilde.

Auf der Erde lag eine Frau, mit dem Rücken zu ihm, und Sigfrid wusste, sie war der Ursprung der Kraft, die ihn angezogen hatte, sie war das Ziel all seinen Begehrens. Sie bewegte sich nicht, nicht einmal, als er sie berührte. Ein Schlafdorn musste sie in diesen Zustand versetzt haben. Er wusste, dass es so war, so sicher, wie er wusste, dass sie für ihn bestimmt war. Eine silberne Brünne schützte sie, in ihrer Hand lag ein stählerner Ger. Sie war eine Walküre, doch würde nicht sie ihn für Wodans Schlachthalle erwählen, sondern er sie als sein Weib. Ein heißes Gefühl verbrannte sein Herz, heißer als das Feuer der Waberlohe. Sobald er sie erweckte, würde ewiges Glück ihn erwarten. Sanft drehte er sie herum.

Ihr Kopf war glatt wie ein Ei. Sie hatte kein Gesicht.

Grimhild hatte nur einen Schluck des magischen Tranks zu sich genommen. Sie war nach wie vor auf der Suche nach Sigfrid. In der Ferne entdeckte sie Hagen. Irgendwie schaffte er es immer, auch bei müßigem Umherstreifen zielstrebig zu wirken. Vermutlich hatte er ebenfalls vom Trank des Priesters nur genippt. Er liebte es nicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Die Niflunge ging zu ihm. »Ich habe dir noch gar nicht für die Rettung meines Bruders gedankt«, sagte sie.

»Es ist meine Aufgabe, deine Sippe zu schützen.«

»Eine Aufgabe, die du meisterhaft erfüllst.« Grimhild war dankbar für seine Gesellschaft, die sie von ihren Sorgen ablenkte. Um ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte sie: »Hast du je Feuerräder gerollt?«

»Glaubst du, es fließt kein Blut in meinen Adern? Manchmal bin ich mit ihnen um die Wette gelaufen.«

Es fiel ihr schwer, sich den Waffenmeister vorzustellen, wie er kreischend neben einem brennenden Rad den Hügel hinablief. Der Gedanke war erheiternd.

»Ich gäbe etwas darum zu wissen, was du gerade hinter deiner Stirn versteckst«, sagte er, und seinem Tonfall nach wusste er genau, was es war.

»Ist das nicht eine wundervolle Nacht? Die Welt kommt mir heute so verändert vor.«

»Es ist die Nacht der Erneuerung.«

Sie dachte an Sigfrid und seufzte. »Ja. Die Nacht der Erneuerung. Was bedeutet sie für dich?«

»Nichts. Die Menschen bleiben dieselben. Die Götter bleiben dieselben. Sogar die Sterne bleiben, wie sie sind.«

»Aber die Mittsommernacht ist voller Hoffnung! Spürst du es nicht?«

»Hoffnungen sind dazu da, von den Göttern zunichte gemacht zu werden. Ich nehme, was kommt, das erspart mir Enttäuschungen.«

»Ob du glücklich oder unglücklich bist, liegt allein in deiner Hand, Hagen. Das Gewebe der Nornen sagt nichts darüber aus. Das ist es, was uns die Mittsommernacht verspricht: dass du aus einem alten Webmuster etwas völlig Neues machen kannst.«

»Ebenso könnte ich versuchen, einen Stern vom Himmel zu holen.«

»Ich könnte es«, sagte sie trotzig und wartete auf Widerspruch oder ein nachsichtiges Lächeln.

Zu ihrer Überraschung tat er nichts dergleichen, sondern nickte nur. »Bei dir ist das etwas anderes. Was du dir vornimmst, wirst du auch erreichen.«

Bislang hatte sie immer angenommen, dass ihre Mutter die Einzige war, die sich nicht von ihr hinters Licht führen ließ, aber wie es schien, hatte nicht nur Oda Augen im Kopf und einen Verstand zum Denken.

»Du siehst mich an wie eine Dryade«, sagte Hagen und fügte nach einer winzigen Pause hinzu: »Schmiedeauge.« Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Moment gar nicht begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte. Darüber musste er lachen. Es war ein hartes, trockenes Lachen, kurz und präzise wie sein Wesen, aber es kam aus seinem Inneren, und er ließ es frei.

Sie sah ihn mit Zuneigung an. »Es ist schön, wenn du lachst.«

Sein Lachen erstarb ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. »Grimhild, ich möchte dir sagen –«

Was immer er ihr sagen wollte, der Satz wurde nie vollendet.

Denn Grimhild entdeckte endlich das Gesicht, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte zu Sigfrid laufen und ihn berühren, um sich zu überzeugen, dass er Wirklichkeit war und kein Traum ihr einen Streich spielte, aber dann beschloss sie, die Gelegenheit zu ergreifen, Hagen auf ihre Seite zu ziehen. Beschwörend legte sie die Hand auf seinen Arm, obwohl sie wusste, dass er gewöhnlich unwillig auf Körperkontakt reagierte. »Du sollst der Erste sein, Hagen, der es erfährt. Sigfrid wird bei Gunter um mich freien. Ich bitte dich, unterstütz diesen Wunsch! Um meinetwillen!«

Der Moment der Gemeinsamkeit schien vorbei zu sein. Der Waffenmeister trug wieder den unnahbaren Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie so gut kannte. Zunächst schien es, als wolle er ihr eine Antwort verweigern, und als er sich dann doch dazu entschloss, etwas zu sagen, lag eine Ewigkeit zwischen seinen Worten. »Ich … werde … sehen.« Damit wandte er sich ab und ließ sie stehen.

Irritiert sah Grimhild ihm nach. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn um Hilfe zu bitten. Ob er sie überhaupt mochte?

Inzwischen hatte sich die Wirkung des Tranks voll entfaltet, die Droge löste alle Hemmungen. Männer und Frauen hatten sich ihrer Kleidung entledigt, einige gaben sich im Sonnenwendrausch zügelloser Leidenschaft hin, die meisten tanzten den traditionellen Fruchtbarkeitsreigen um die Scheiterhaufen. Immer wieder sprangen einige von ihnen paarweise durch das heilige Feuer.

Gislher ergriff Dietlinds Arm und zog sie mit sich. Sein Schrei übertönte ihr Kreischen, als sie durch die Flammenwand getragen wurden und Flammenzungen nach ihnen leckten, um alles, was unrein war, abzuwaschen. Es war ein rauschhaftes Erlebnis, die Ekstase des Lebens.

Auch Gunter sprang durch die Flammen. Sein Gesicht glühte. Der Trank des Priesters hatte ihn befreit wie einen Vogel aus dem Käfig. Ja, er konnte fliegen! Mit einem Schrei jagte er erneut auf das Feuer zu, und die Flammen trugen ihn in die Lüfte empor.

Gernholt fühlte sich leicht und unbeschwert. Die bilisa nahm ihm die Schmerzen, und zusammen mit dem Trank des Priesters versetzte sie ihn in Euphorie. Er würde auch springen! Er würde wie die anderen vom Feuer gereinigt werden! Keuchend richtete er sich auf. Vor dem Scheiterhaufen pumpte er ein paarmal Luft, dann brüllte er plötzlich aus Leibeskräften, wild, lebensgierig, und rannte los. Jubelnd sprang er durch die Flammen. Seine Füße streiften die Zweige, Glut stob auf. Als er auf der anderen Seite aufprallte, knickten ihm die Beine weg und er schlug auf das Gesicht, aber es war ihm egal; er war glücklich.

Hagen hockte am Feuer, ohne dessen Wärme zu spüren. Er fühlte nichts, er dachte nichts, hockte einfach nur da und existierte. Lange kauerte er in dieser Stellung und starrte in die Flammen. Dann erhob er sich, ohne auf den Protest seiner eingeschlafenen Glieder zu achten, und entfernte sich mit durchgebogenem Rücken. Auf dem Weg zur Burg sah er keinen Menschen, obwohl es auf und um den Hügel von ihnen nur so wimmelte. Er holte sein Pferd, das unwillig über die nächtliche Ruhestörung schnaubte, saß auf und ritt davon.

Sobald er sich auf ebenem Gelände befand, ließ er den Hengst ausholen. In fliegender Hast ging es den steinigen Weg entlang, was in der Dunkelheit riskant war. Nach einer Weile wich Hagen von der Römerstraße ab. Er sah nicht, wohin er ritt, und es interessierte ihn auch nicht. Das Tier raste in halsbrecherischem Tempo durch Sträucher und Dornbüsche, über Wurzeln und Steine. Unbarmherzig schlug der Waffenmeister auf das Pferd ein und trieb es zu noch schnellerem Galopp an. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, ein- oder zweimal strauchelte der Hengst; es war ihm egal. Leicht konnte er sich bei diesem wahnwitzigen Ritt das Genick brechen; auch das war ihm egal. In ihm tobte ein Dämon, der danach verlangte, befreit zu werden, und Hagen konnte oder wollte sich ihm nicht widersetzen.

Die Götter mussten wohl Pläne mit ihm haben, denn er lebte noch, als der Morgen graute. Irgendwie hatte sein Pferd einen ausgetretenen Pfad gefunden, dem es folgte. Hagen wusste weder wie lange er geritten war, noch wo er sich befand. Längst hatte er Tolbiacum und den unmittelbaren Herrschaftsbereich der Niflungen hinter sich gelassen, und noch immer fand er keine Ruhe. Der Hengst war schweißnass und zitterte von dem Gewaltritt. Im blassen Licht des beginnenden Tages konnte der Waffenmeister allmählich Einzelheiten seiner Umgebung ausmachen. Er gelangte an eine Brücke über einen Bach. Müde trottete das erschöpfte Pferd über die Holzplanken.

Plötzlich wurde sein Weg von zwei Reitern versperrt. Der eine war von gedrungener Statur, besaß keine Zähne mehr, und seine Haut war voll hässlicher dunkler Flecken. Der zweite war groß und hager und vollkommen kahl. Er schien der Anführer zu sein, denn der andere wartete offenbar auf einen Befehl von ihm. Beide trugen abgewetzte Kleidung. Ihre Pferde waren vermutlich gestohlen.

Brutal riss Hagen an den Zügeln. Schmerzvoll wiehernd kam sein Hengst auf der Brücke zum Stehen. Ein Instinkt veranlasste den Waffenmeister, den Kopf zu drehen. Hinter ihm kam ein dritter Reiter aus dem Gebüsch und schnitt ihm den Fluchtweg ab. Eine Unmenge Narben entstellten sein vielleicht einmal hübsches Gesicht.

Mit schiefem Grinsen beobachteten ihn die drei.

»Ein schönes Tier«, sagte der Kahlköpfige.

»Und sieh dir seine kostbare Kleidung an«, bemerkte der Zahnlose an seiner Seite. »Das lohnt sich ja richtig.«

Der Anführer der Wegelagerer sah den Waffenmeister an. »Steigt einfach ab und zieht Euch aus, vielleicht lassen wir Euch am Leben.«

Hagen sagte kein Wort. Er studierte die Männer. Sie besaßen die Haltung von Kriegern, die das Kämpfen gewohnt waren. Ihre Schwerter waren einfach, aber das zerkratzte Eisen und die Scharten in den Schneiden verrieten, dass sie nicht nur als Schmuck dienten. Und er selbst hatte bei der kopflosen Flucht aus Tolbiacum versäumt, sein Schwert mitzunehmen.

Kaltes Feuer erfüllte Hagen, als er seine Chancen abwägte. Etwas in ihm freute sich auf den bevorstehenden Kampf, sehnte ihn sogar herbei. Mit einer zärtlichen Bewegung zog er seinen Dolch, eine Damaszenerklinge. Der römische Händler hatte ein Vermögen dafür verlangt, aber die Waffe war jedes Goldstück wert.

Die Wegelagerer lachten. »Er zieht seinen Dolch«, wieherte der Anführer, »wir sollten fliehen, solange wir noch können.«

»Zu spät«, sagte Hagen und griff an. Mit einem Satz war er von der Brücke und drängte sein Pferd zwischen die beiden Krieger vor ihm. Die Verblüffung stand noch auf dem Gesicht des Zahnlosen, als ihm der Dolch mitten ins Herz fuhr. Er wollte etwas sagen und seiner Verwunderung Ausdruck geben, aber er war schon tot, noch ehe sein lebloser Körper den Boden berührte.

Die Wegelagerer waren es gewohnt, dass ihre Opfer flohen, und brauchten einen Augenblick, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Der Hagere fing sich als Erster, er war der gefährlichste der Männer. Mit wutverzerrtem Gesicht hieb er auf den Waffenmeister ein. Die Todesgefahr missachtend brachte Hagen sein Pferd näher an das des Gegners. Auf kurze Distanz war das Schwert wertlos. Hart bedrängt suchte der Hagere, dem mörderischen Blutdurst des Waffenmeisters zu entgehen. Sein überlegenes Grinsen war verschwunden; zum ersten Mal empfand er Angst angesichts dessen, was er im verschleierten Auge seiner vermeintlichen Beute erblickte.

Der dritte Mann galoppierte über die Brücke, um seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen, und näherte sich Hagen von hinten. Der warf sich zur Seite, um dem tödlichen Hieb zu entgehen. Das Schwert glitt ab und traf das Pferd, das einknickte und vor Schmerzen wieherte. Geschickt rollte sich Hagen ab und kam sofort wieder auf die Beine. Er wartete nicht, bis die Wegelagerer erneut angriffen. Mit einem Satz sprang er hinter dem Narbengesicht auf das Pferd und schnitt ihm die Kehle durch. Blut sprudelte in hohem Bogen hervor und besudelte den Waffenmeister, er beachtete es nicht. Seine Instinkte hatten die Herrschaft übernommen, und er überließ sich ihnen freudig. In ihm loderte die Flamme der Kampfekstase, er war erfüllt von einer dunklen, tödlichen Art von Jubel.

Der Anführer der Wegelagerer nutzte die Gelegenheit und drang auf ihn ein, während Hagen den Leichnam des Narbigen vom Pferd kippte. Das Tier scheute, als es den Blutgeruch wahrnahm, diese Bewegung rettete ihm das Leben. Er wurde abgeworfen, der Stoß des Kahlköpfigen ging fehl. Wie der Blitz war Hagen auf den Beinen und stach nach dem Arm des Mannes, verfehlte ihn jedoch. Der Hagere hatte noch nie solch einen Dämon kämpfen sehen. Er wollte sein Pferd wenden und fliehen, aber der Waffenmeister stach dem Tier rücksichtslos den Dolch in den Leib, dass es ächzend zusammenbrach. Panisch befreite sich der Kahlkopf von dem Kadaver und schlug unkontrolliert nach seinem Gegner, doch sein Schicksal war bereits besiegelt gewesen, als er Hagens Weg gekreuzt hatte. Das Schwert fuhr in den Oberschenkel des Waffenmeisters, der es nicht einmal bemerkte. Mit Wucht rammte er dem Kahlkopf seinen Dolch in den Bauch, schlitzte ihn von oben bis unten auf, tobte und raste, bis er endlich registrierte, dass kein Leben mehr in dem zuckenden Bündel Fleisch war.

Keuchend hielt er inne, sein Auge wurde wieder klar. Hagen erwachte aus seinem Blutrausch. Nur ungern ließ er das heiße Gefühl gehen, das ihn erfüllt und ihm für eine kleine Weile Wärme gespendet hatte. Nur ungern ließ er Kälte und Dunkelheit wieder in sich hinein. Er betrachtete das Blutbad, das er angerichtet hatte, und stöhnte. Es war viele Jahre her, dass er sich das letzte Mal der Berserkerwut überlassen hatte, und damals nur nach gründlicher Vorbereitung. Noch nie war die Verwandlung ungerufen über ihn gekommen. Hagen barg sein Gesicht in den blutigen Händen. Er hatte von dem Fluch gehört, der die ergriff, die sich zu oft in einen Mannwolf verwandelten. Die Grenze zwischen Mensch und Tier wurde kleiner, das Tier erlangte nach und nach die Herrschaft, bis der Berserker vergaß, dass er einst ein Mensch gewesen war. Er hatte solche gesehen, die den Weg zurück nicht mehr fanden. Sie mussten abgeschlachtet werden wie räudige Hunde, denn sie waren eine Gefahr für die menschliche Gemeinschaft. Der Waffenmeister stöhnte noch einmal. Er wollte nicht enden wie sie!

Es hatte eine Zeit gegeben, da er nicht über die Folgen nachdachte. Damals war er stolz gewesen, zu den auserwählten Kriegern zu gehören, den gefürchteten Berserkern, die eine Schlacht entscheiden konnten. Und er war der Beste gewesen. Hagen lachte bitter. Was blieb einem übrig, wenn man die anderen die eigene Herkunft vergessen lassen wollte, als der Beste zu werden? In ihrer Mitte konnte er die Erinnerung daran auslöschen, wer er war. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft von Ausgestoßenen, gefürchtet und verachtet von den Menschen, die sie brauchten und duldeten, aber nicht liebten. Eine seltsame Art von Sippenfrieden herrschte zwischen ihnen, ein kaltherziger Friede, der alles, was außerhalb seines Kreises lag, als Beute ansah, die zerrissen werden durfte.

Als er Aldrian traf, hatte er erkannt, dass er noch einmal eine Chance bekam, und sie von ganzem Herzen ergriffen. Er schwor sich, niemals wieder die unsichtbare Linie zu überschreiten. Aldrian vertraute ihm, mehr noch: Er war der erste Mensch, für den seine Herkunft bedeutungslos war, der ihm das Gefühl schenkte, zu einer wirklichen Sippe zu gehören. Es war ein Traum gewesen, nichts weiter. Hagen brauchte nur in die Gesichter der Menschen, deren Leben er teilte, zu blicken, um zu wissen, dass es eine große Rolle spielte, wer man war und woher man kam.

Der Blutgeruch seiner Hände widerte ihn an. Er wischte den Dolch an einer der Leichen ab und steckte ihn zurück in die Scheide. Dann sah er nach seinem Pferd. Es litt, aber es lebte. Die Wunde war nicht tief, bei guter Pflege würde sich das kostbare Tier erholen. Das Pferd des Hageren dagegen war tot. Hagen wankte in den Fluss, um seine Verletzung zu versorgen und das Blut abzuwaschen, das ihn von oben bis unten bedeckte. Es war wie eine rituelle Reinigung von dem bösen Geist, der ihn erfüllte, und er hoffte, dass auch der letzte Rest des Tieres, das er in sich trug, fortgespült wurde. Das kühle Wasser, das seine Wangen hinunterlief, klärte seinen Geist und half ihm, sich Rechenschaft vor sich selbst abzulegen.

Er liebte Grimhild.

Nie zuvor hatte er sich das eingestanden. Sie war ein Kind gewesen, als er sie kennenlernte, und er ihr väterlicher Freund. Auch jetzt noch zählte er mehr als doppelt so viele Sommer wie sie. Aber ihr Liebreiz, ihr Lächeln, ihre Augen verzauberten ihn. Ihr Interesse hatte ihm geschmeichelt und zu kühnen Träumen verleitet. Und dann war Sigfrid gekommen. Seither bemerkte sie ihn nicht einmal, wenn er neben ihr stand.

Hagen kam sich unsagbar töricht vor. Lächerlich zu glauben, sie könnte etwas für ihn empfinden! Sie nahm seine Bewunderung als naturgegeben hin, als etwas, worauf sie ein Anrecht besaß wie auf das Atmen, und es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass ihre spielerischen Verlockungen ihm Schmerzen bereiten könnten. Wie blind er gewesen war, so blind, als besäße er überhaupt kein Auge!

Voll Abscheu betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser. Er sah einen verbitterten Krieger, der einen Narren aus sich gemacht hatte. Einen Narren, der sich eingeredet hatte, ein hübsches junges Mädchen wie Grimhild könnte sich in einen hässlichen alten Mann wie ihn verlieben. Einen Halbalben. Denn mehr noch als das Alter trennte sie ihre Herkunft. O ja, die Menschen respektierten seinen Mut und bezeugten ihm Ehre, niemand würde es wagen, ihm die Verachtung, die er empfand, offen zu zeigen! Aber hinter seinem Rücken verbreiteten sie die schmutzigsten Lügen über ihn. Er kannte die geflüsterten Gerüchte über dunkle Kräfte, Loyalität gegenüber dem Stillen Volk und Unzucht mit Schwarzalbinnen.

Hagen stieg aus dem Wasser. Mit erbarmungsloser Deutlichkeit erinnerte er sich an jedes Detail der vergangenen Nacht. Er sah Grimhild vor sich, mit ihrem Lächeln, das seine Verteidigung durchbrochen und ihn weich gemacht hatte. Er erinnerte sich genau an jenen Moment, da sie ihm in aller Unschuld die tödliche Wunde zufügte, den Moment, in dem er wehrlos gewesen war und jeder Möglichkeit beraubt, sich gegen den Speer zu wappnen, der sein Herz durchbohrte. Sie hatte mit jener beiläufigen Grausamkeit von ihrer geplanten Verbindung mit Sigfrid gesprochen, zu der nur Frauen fähig sind, die ständige Bewunderung gewohnt sind. Frauen, die mit dem Bewusstsein aufwachsen, jeden Mann bekommen zu können, den sie haben wollen. Frauen, die sich nicht vorzustellen vermögen, wie es sich anfühlt, jemand Unerreichbaren zu begehren.

Hagen fing eines der überlebenden Pferde ein, die friedlich in der Nähe weideten, und schwang sich hinauf. Seinen eigenen Hengst und das dritte Tier am Zügel führend, machte er sich auf die Suche nach einem Anhaltspunkt, wo er sich befand. Er fühlte sich ausgelaugt und innen wie außen wund. Jedes Wort, das zwischen ihm und Grimhild gefallen war, nahm er und drehte es in seinem Gehirn so lange hin und her, bis es jeglicher Bedeutung ledig war. Die Augen, mit denen sie Sigfrid beobachtet hatte, ließen ihn nicht los. Wenn sie ihn nur einmal so ansehen würde …

Nutzlose Tagträume. Und er war kein Träumer. Seine Stärke lag darin, dass er der Welt, wie sie war, ins Auge sah. Nun gut, er hatte sich lächerlich gemacht. So etwas kam vor. Jetzt hatte er sich sein Versagen eingestanden und konnte daran gehen, die Reste zusammenzukehren und zu versuchen, Grimhild zu vergessen.

Krähen über Niflungenland

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