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Es ist gut, wenn wir uns gelegentlich daran erinnern, daß das Freud’sche „Unbewußte“ schon viele tausend Jahre vor Freud existierte. Das gilt auch für die verschiedenen geistigen und seelischen Krankheiten, die – für den Laien – so faszinierende Bezeichnungen haben wie Schizophrenie, Paranoia, manisch-depressive Psychose und viele andere. Unglücklicherweise aber hat der übermäßige Gebrauch dieser Begriffe mehr Schaden als Nutzen angerichtet.

Die zeitgenössische Psychologie neigt mehr und mehr dazu, starre Klassifizierungen und orthodoxe Nomenklatur in der Diagnostik zu vermeiden. So werden in der Psychotherapie die Begriffe ,krank‘ und ,normal‘ bald außer Mode sein. Es ist daher angebracht, allzu leichte und pauschale Diagnosen zu vermeiden, wenn es darum geht, die psychologische Anatomie historischer Gestalten zu erklären, deren Verhalten und Handlungen weit über das hinausgehen, was allgemein als ,normales Benehmen‘ angesehen wird.

Es wäre daher auch zu einfach, behaupten zu wollen, daß der große Napoleon zu seiner Welteroberung getrieben wurde, weil er damit seine physisch kleine Gestalt kompensieren wollte. Es ist häufig beobachtet worden, daß kleine Leute versuchen, ,größer‘ zu erscheinen, indem sie sich aggressiv verhalten und im Berufs- und Gesellschaftsleben übermäßig ehrgeizig sind, so daß der Begriff ,Kompensationstrieb‘ hier vielleicht gerechtfertigt erscheinen mag. Aber bei einer solchen Diagnose kann man nie ganz sicher sein, solange die fragliche Person nicht über einen längeren Zeitraum beobachtet worden ist.

Wenn es um die psychologische Klassifizierung verstorbener Personen geht, so basieren alle Ansichten und Meinungen auf mehr oder minder zuverlässigen Aufzeichnungen, wie Tagebüchern, Biographien, Briefwechsel und anderen Dokumenten von Zeitgenossen.

Im Falle des Autors der vorliegenden Memoiren können wir daher nur eine hypothetische Diagnose stellen und annehmen, daß er sie geschrieben haben muß, um damit seine wohlbekannte Impotenz zu kompensieren. Aber wenn wir uns auf verfügbares, historisches Beweismaterial verlassen wollen, müssen wir auch eine sehr materialistische Motivation anerkennen: Dem Autor wurde für dieses Buch eine stattliche Summe Geldes angeboten. Nicht von irgendeinem Verleger, sondern von einer Gruppe seiner Freunde.

Gustav Schilling (1766–1839) hatte ungeheuere Spielschulden gemacht, die er unbedingt bezahlen mußte, wenn er nicht riskieren wollte, mit Schande aus dem Kgl. Sächsischen Regiment ausgestoßen zu werden, für das sein Vater ihm ein Offizierspatent gekauft hatte. Hauptmann Schilling stand im Ruf, ein unterhaltsamer Erzähler zu sein. Seine Offizierskameraden tolerierten ihn nur, weil er sie oft mit seinen Clownerien und pikanten Geschichten amüsierte. Als er ihnen schließlich eingestehen mußte, nicht imstande zu sein, all die vielen Schuldscheine einzulösen, die er ausgestellt und unterschrieben hatte, war man bereit, ihm zu helfen.

Fünf seiner Gläubiger versprachen ihm, nicht nur seine Schulden zu streichen und alle anderen zu bezahlen, sondern boten ihm außerdem eine zusätzliche, nette Summe, falls er sich verpflichte, eine detaillierte Geschichte seines Liebeslebens zu schreiben. Dieses offenbar großzügige Angebot war jedoch von Sadismus motiviert. Das wußten aber nur diejenigen, denen ein besonders tragischer Faktor in Schillings Leben bekannt war. Er war physisch unfähig, den Geschlechtsverkehr auszuüben.

Es ist nicht überliefert, ob seine Impotenz psychisch bedingt war oder durch eine physische Abnormität verursacht wurde. Er war als Feinschmecker und Vielfraß bekannt, der zur Fettleibigkeit neigte und mit der hohen, schrillen Stimme eines Eunuchen sprach. Daraus können wir entnehmen, daß sein Geschlechtsapparat vielleicht durch einen Unfall in der Jugend geschädigt wurde. Sein Zustand könnte aber auch durch angeborene Unzulänglichkeit seiner Geschlechtsdrüsen bedingt gewesen sein.

Die erstaunliche Tatsache, daß Schilling trotz seiner physischen Leiden Offizier in der Kgl. Sächsischen Armee werden konnte und schließlich sogar zum Hauptmann befördert wurde, war nicht ausschließlich der finanziellen Intervention seines Vaters zu verdanken, sondern auch der eigenartigen Tatsache, daß man beim Sächsischen Offizierskorps die eine oder andere Abnormität tolerierte, vorausgesetzt allerdings, daß sie durch entsprechend hohen gesellschaftlischen Rang kompensiert wurde. Das starre Klassenbewußtsein jener Zeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Autor sich einen aristokratischen Decknamen zulegte: Herr von H***. In der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts galt der Gebrauch von Initialen als sicheres Zeichen dafür, daß sich dahinter ein angesehenes Mitglied des Adels verbarg.

Ebenso wie seine literarischen Ergüsse dem Marquis de Sade eine unfreiwillige Therapie boten, die ihn davor bewahrte, seine psychopathischen Triebe auszutoben, erfüllten auch die fiktiven Memoiren von Gustav Schilling eine therapeutische Aufgabe, indem sie ihm erlaubten, mit niedergeschriebenen Fantasien sein von der Öffentlichkeit vermutetes, anrüchiges Eunuchentum zu kompensieren. Jetzt endlich war er imstande, seinen Offizierskameraden, die ihn im Grunde genommen mehr oder minder verächtlich behandelten, zu beweisen, daß ihm, dem dicken Clown, Männerfreuden keineswegs fremd waren . . . zumindest in der Theorie. Jetzt brauchte er nicht mehr unter Schuldgefühlen zu leiden, wenn er seiner Fantasie freien Lauf ließ, um die wildesten Bettszenen in Gesellschaft der begehrenswertesten und verführerischsten Frauen zu erfinden. Diese Frauen entstammten allen Gesellschaftsschichten, vorwiegend aber der Aristokratie.

Es ist bekannt, daß Schilling mit seinem Buch, das sehr anzügliche und zweideutige Geschichten enthielt, einen großen Treffer landete und seine Offizierskameraden, die an sich geglaubt hatten, ihn mit ihrem Auftrag in höchste Verlegenheit bringen zu können, in Erstaunen versetzte. Die Tatsache, daß es sich nur um fiktive Memoiren handelte, schien die Offiziere überhaupt nicht zu kümmern. Ganz im Gegenteil! Man glaubte, daß ein Mann, der imstande war, sich derartige Sex-Abenteuer einfallen zu lassen und niederzuschreiben, doch irgendwie unter Beweis stellte, daß er – der dicke, eunuchengleiche Autor – vielleicht doch kein ganz so unbeschriebenes Blatt sei!

Wir wissen nicht, ob des Autors Beschreibung von Leuten und Orten, besonders im Ausland, seinen zeitgenössischen Lesern verriet, daß er von den Zuständen in Paris, London, Rom und anderen Metropolen überhaupt keine Ahnung hatte. Keiner seiner Leser dürfte auch genügend psychologische Einsicht besessen haben, um zu begreifen, warum der Autor Herrn von H*** als illegitimen Sohn eines Barons vorstellte, der ihn pflichtgemäß adopierte und mit allem Luxus umgab, wie ihn junge Edelleute jener Zeit genossen. Es scheint, daß Gustav Schillings Unbewußtes‘ ihn gezwungen hat, die Unzufriedenheit mit seinem mittelmäßigen, bürgerlichen Status preiszugeben und damit den Wunsch zu enthüllen, seinen aristokratischen Offizierskollegen ebenbürtig zu sein. Gleichzeitig kompensierte er die Schuldgefühle wegen seines vorgetäuschten Adelstitels, indem er eine illegitime Geburt erfand und dann seine Adoption durch einen legitimen Edelmann schilderte.

Abschließend eine Bemerkung über die literarische Form der Dialoge, die von den dramatis personae selbst in den intimsten Situationen bevorzugt wurde. So hat man in den letzten beiden Jahrhunderten tatsächlich gesprochen. Einfache Bürger bedienten sich eines höchst gezierten und affektierten Stils, den sie mit Kultur und Lebensart der privilegierten Klassen durcheinanderbrachten.

Memoiren eines Barons I

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