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I
1831–1872
Die Ausbildung
Als Kandidat. 1857–1858

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„Mein Angesicht stand zunächst nach dem dicht bei Hamburg gelegenen Wandsbeck, der Heimat des alten Matthias Claudius, der mir mit seinen Schriften der treuste Freund meiner Jugend gewesen war und mir über so viel öde Zeit, namentlich während meiner landwirtschaftlichen Laufbahn, hinweggeholfen hatte und den ich fast auswendig konnte. Nach einer köstlichen stillen Morgenstunde in dem Wandsbecker Waldtal wanderte ich, der Stimme eines Glöckchens folgend, in einer halben Stunde hinüber zum Rauhen Hause. Ich blieb den ganzen Tag unter der fröhlichen Kinderschar und ihren ebenso fröhlichen Pflegern und lernte an der Hand meines freundlichen Führers, des Hausvaters Pastor Riehm, die ganze Entstehung und das Wachstum der Anstalt, Station auf Station, kennen. Am Abend aber saß ich schon wieder im Postwagen und fuhr die Nacht durch hinüber nach Bremen und von da zu Schiff die Weser hinunter nach Geestemünde.

Denn zwei Stunden von Geestemünde war einer meiner Baseler Studienfreunde Pastor geworden. Er war in Basel mein englischer Lehrer gewesen. Jeden Nachmittag war er für eine Stunde zu mir gekommen, um mit mir englisch zu treiben. Er war dazumal schon 28 Jahre alt, und sein Lebensgang war sehr gewaltsam gewesen. Eines Tages, kurz vor unserm ersten Baseler Weihnachtsfest, sagte er mir einmal: „Heute vor vier Jahren brachte ich die Nacht auf einer Fleischerbank in Neu-Orleans zu. Diese Bank war damals für längere Zeit mein Nachtquartier, denn eine Wohnung besaß ich nicht. Ich lebte von Spottgedichten, die ich für die Zeitungen lieferte. Zigarren und Branntwein waren meine Hauptnahrung.”

Er war in der Schweiz als Hirtenbube in großer Armut aufgewachsen. Freunde, die seine Talente bemerkten, hatten ihn unterstützt und bis zur Universität gefördert. Mit eiserner Energie hatte er sich durch Stundengeben auf der Universität unterhalten, zu gleicher Zeit aber in seinem Trotz und seiner Wildheit solche Streiche gemacht, daß er sich unmittelbar aus dem Karzer in ein Schiff flüchtete, das ihn nach Amerika brachte. In jener tiefsten Zeit seines Lebens, als eine Bank auf dem Fleischmarkt sein Nachtquartier war, ergriff ihn Gottes Hand. Er erkrankte am gelben Fieber und stand nahe vor der Todestür. Da nahm sich ein unbekannter Fremdling, der aber ein entschiedener Jünger des Heilandes war, des gänzlich Verlassenen an. In seinem unbekannten Wohltäter trat ihm das Erbarmen mit solcher Macht vor die Seele, daß er, als er von seinem Krankenlager aufstand, entschlossen war, ein anderes Leben zu beginnen.

Da er Jurisprudenz studiert hatte, so übersetzte er nun in kurzer Zeit das Gesetzbuch des Staates Indiana ins Deutsche und erhielt dafür eine sehr bedeutende Geldsumme. Diese wollte er benutzen, um Theologie zu studieren. Allein in seinem doch noch ungebrochenen Sinn verstand er nicht, mit dem Gelde umzugehen, und als er auf deutschem Ufer landete, war fast alles Geld schon wieder seinen Händen entschwunden. So war er genötigt, in Basel in einem Studentenheim Quartier zu nehmen, wo man für ein geringes Entgelt Wohnung und Nahrung erhielt. Abgemagert, in dürftigster Kleidung, und, um durch die Kälte das Einschlafen zu verhindern, ohne wärmenden Ofen saß er oft bis drei Uhr nachts auf und arbeitete mit einem wahrhaft staunenswerten Eifer, während er bei Tage Unterrichtsstunden gab, durch die er sich das nötige Kostgeld verdiente.

Er trieb vor allem das Studium der alttestamentlichen Propheten, und ihre Donner gegen die Israeliten waren ihm ein besonderer Ohrenschmaus. Das unverständlichste Wort in der Schrift war ihm das Wort „Gnade”. „Mit diesen beiden Fäusten muß es verdient sein,” rief er einmal aus, indem er seine hageren Arme ausstreckte, die frostig aus dem dünnen Jäckchen hervorguckten.

Ein anderes Mal tat er bei der Lektüre des Wandsbecker Boten, den ich unter seiner Anleitung ins Englische übersetzte, eine Äußerung, die so wild und roh war, daß ich ihm erklärte, ich wollte nun keine Stunden mehr bei ihm haben und er solle mir nicht mehr auf mein Zimmer kommen. In wildem Zorn hatte er mich verlassen. Da, gegen Mitternacht, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Fenster geworfen wurden. Mein Freund stand unten und forderte mich auf, herunterzukommen; er habe mir etwas zu sagen. Ich tat es, und wir gingen fast bis zum Anbruch des Morgens auf dem Petersplatz auf und ab. Er bekannte, daß er bei seinem Vorsatz, mit eigener Kraft und mit eigener Vernunft Gottes Wort zu treiben und Gottes Reich zu bauen, aus der Friedelosigkeit nicht herauskomme, und versprach, es sollte anders mit ihm werden.

Vor seinem Abschied aus Basel versammelte er seine Kollegen aus dem Studentenheim und forderte sie aufs ernstlichste auf, nicht so zu studieren, wie er es gemacht habe; dabei würden sie alle verloren gehen. Er pries ihnen als das einzige Mittel der Seligkeit die freie Gnade Gottes an. Als ich ihn spät abends an seinen Postwagen brachte, sagte er zu mir: „Du siehst mich nicht wieder, oder ich bin ein anderer Mensch geworden.”

Nun nach drei Jahren sollte ich ihn wirklich wiedersehen. Er hatte in seiner ersten Stelle in der Schweiz gegen die Sünden der Regierung, namentlich ihre Sonntagsentheiligung, so geeifert, daß er infolgedessen seines Amtes entsetzt worden war. Aber Bremer Kaufleute, die ihn hatten predigen hören, hatten seine Berufung in jenes dem Staate Bremen gehörige Dorf durchgesetzt. Ich war neugierig, wie ich meinen Freund, den ich als einen blutarmen Bruder Studio verlassen hatte, nun als Pastor wiederfinden würde. Man hatte mich in Bremen schon darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Schwester bei sich habe, ein armes Schweizer Landmädchen, das ihm den Haushalt führe, und daß er mit ihr etwas tyrannisch verfahre aus Angst, sie könne vornehm und hoffärtig werden.

Ich traf meinen Freund, wie er mit strahlender Freude eben seine Hühner fütterte. Während er mich durch seinen großen Obstgarten führte, kletterte er plötzlich auf einen Apfelbaum, der voll Früchte hing, und mit gespreizten Beinen oben im Baum stehend, rief er: „Alle diese Äpfel sind mein.” Dann sprang er in ein Kartoffelfeld und rief wieder: „Alle diese Kartoffeln sind mein.” Den blutarmen Schweizerknaben, der sein ganzes Leben mit Hunger und Not gekämpft hatte, nun im Besitz eines so prächtigen Pfarrhofes zu sehen und all seine Freude zu teilen, war wirklich schön. Seine Schwester hatte uns mit aller Sorgfalt ein Mittagbrot bereitet, und ich hatte es durchgesetzt, daß sie, die sonst nur als Magd aufgewartet hatte, mit uns zu Tische saß. Am Nachmittag sollte auf dem Filialdorf eine Kindtaufe sein. Als ich nun bei Tisch die Schwester fragte, ob sie uns nicht dahin begleiten wolle, war mein Freund mit seiner Geduld am Ende. Er sprang wütend vom Tisch auf und schrie mich an: „Ich wollte, daß du zu Hause geblieben wärest. Meine Schwester soll nicht mit auf Kindtaufen gehen; dann will sie auch feine Kleider haben, und das geht nicht.” Ich war auch nicht faul und sagte: „Ich kann den Weg zu deiner Tür wohl finden. Geht deine Schwester nicht mit, dann nehme ich Abschied.” Da lenkte er ein.

Ehe wir uns zur Kindtaufe aufmachten, kamen noch Leute, die nach Amerika auswandern wollten. Für diese Auswanderer herrschte die schöne Sitte, daß sie vor ihrem Abschied noch einmal im Pfarrhause das Abendmahl feierten. Vom Nebenzimmer aus hörte ich die Beichtrede meines Freundes über die Worte: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen greulich. Der Herr aber ist noch größer in der Höhe.” Da zeigte sich die ganze gewaltige Größe des Mannes. Mit erschütterndem Ernste konnte er Buße predigen und in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens hinabsteigen, aber ebenso gewaltig dann auch von der Gnade Zeugnis ablegen, die viel größer ist als unsere Sünde.

Wir hatten dann einen schönen Weg durch Feld und Wald zur Kindtaufe und einige friedsame Abend- und Morgenstunden, in denen mein Freund ganz besonders köstlich und kräftig den Reichtum der Gnade Gottes zum Gegenstande seiner Andachten und Gespräche machte. Dann ließ er mich in Frieden pilgern. Gott hat an diesem merkwürdigen Mann noch viel und ernst zu arbeiten gehabt, bis wirklich die Gnade das stolze Herz zerbrochen und die Schlacken im Schmelztiegel ausgeschmolzen hatte.

Als ich von da zu meiner lieben alten Mutter nach Velmede zurückgekehrt war, fand ich einen Brief eines andern Baseler Freundes vor, der mir mitteilte, daß er eben in Straßburg sein Examen bestanden habe und bereit sei, meiner Einladung zu folgen und mich in Westfalen aufzusuchen. Es war mein Freund Jules Steeg, mit dem ich in Basel auf eine merkwürdige Weise zusammengeführt worden war. Für jenen unglücklichen Pfarrersohn, der später in der Fremdenlegion so schmerzlich endete, hatte ich in demselben Hause, wo ich in Basel wohnte, ein Zimmer gemietet. Ich hoffte, ihn so etwas mehr unter Augen zu haben und ihm in seiner Not gründlicher beistehen zu können. Aber die Sache hatte sich zerschlagen. Da jedoch das Stübchen einmal gemietet war, so war ich in das nahe Studentenheim gegangen und hatte gebeten, den ersten Studenten, der eine Wohnung suche und sie im Studentenheim nicht mehr bekommen könne, zu mir zu schicken.

Wenige Stunden darauf trat ein zartes Männchen bei mir ein, bräunlich wie David, mit schwarzen Haaren, aber herzinnig freundlichen Antlitzes, das nicht nur große Intelligenz, sondern auch Feuer der göttlichen Liebe verriet, das aus seinen Augen strahlte. Er fragte in seinem gebrochenen Deutsch nach dem leeren Zimmer, und wir waren schnell eins, daß er bei mir einziehen solle. Sein Vater war im Nassauischen Schuhmacher gewesen und von dort nach Paris gewandert. Dort war er hängen geblieben und hatte eine französische Katholikin geheiratet. Das einzige Kind aus dieser Ehe war dieser Jules. Er wäre vermutlich, wie die meisten Kinder aus gemischten Ehen, in der katholischen Kirche erzogen worden, wenn nicht der rastlose Eifer des Pariser Pfarrers Meyer die Familie entdeckt und die mittellosen Eltern bewogen hätte, den munteren Knaben in dem von Pastor Meyer geleiteten Pensionate der Kirche Billettes aufziehen zu lassen. Er wurde von Pfarrer Meyer konfirmiert, machte mit Hilfe einiger wohltätiger Freunde die höhere Schule in Paris durch und langte nun auf seinem ersten Wege aus seiner Heimatstadt voll glühenden Durstes, das Wort Gottes gründlich erforschen zu können, in Basel an.

Es dauerte nicht lange, da waren wir beide innige Freunde. Während er mir half, mein Französisch wieder aufzufrischen, wurde ich hauptsächlich sein deutscher Lehrer, und zwar besonders an der Hand der deutschen Lutherbibel, die wir bei unserer täglichen Bibellektion mit dem hebräischen und griechischen Text verglichen. Die Herrlichkeit der Schrift nahm damals das ganze Herz meines Freundes ein, und ich sehe ihn noch, wie er des Morgens einmal in meine Stube gehüpft kam, seine Bibel vor Freude und Lust fest an seine Brust drückend, sodaß ich in ihm recht das Vorbild hatte von dem, was Luther von sich sagt, daß er ein Doktor gewesen sei, hurtig und lustig zur Heiligen Schrift.

Zugleich war er ganz erfüllt von der Schönheit des geistigen Weinberges, den Gott in Paris, seiner Vaterstadt, mitten in die Wüste hineingepflanzt hatte. Er wurde nicht müde, mir von seinem Pfarrer Meyer zu rühmen und von den durch ihn erweckten Seelen, die in den elenden Gassenkehrer- und Lumpensammlerquartieren von Paris Brunnen gegraben hatten, von deren sprudelndem Wasser es grünte und blühte. Sein großes Verlangen war, dort einmal arbeiten zu dürfen. Er hatte auch seinem Pastor Meyer von unserer Freundschaft geschrieben, und dieser hatte mir schon nach Basel durch ihn sagen lassen, ob ich nicht, statt zu den Heiden in Indien oder Afrika zu gehen, meinen Landsleuten, die im Pariser Heidentum zu versinken drohten, helfen wolle.

Steegs Freund war der bereits oben erwähnte Schwalb (später Pastor in Bremen). Dieser stammte aus einer armen jüdischen Familie, war, wie Steeg, durch Pastor Meyer in das Pariser Pensionat aufgenommen und von wohltätigen Gliedern der Gemeinde bis zum Studium der Theologie gefördert worden. Er hatte ein Jahr vor uns in Basel studiert und war von da nach Straßburg übergesiedelt, kam aber einige Male zum Besuch seines Freundes Steeg herüber. So lernte ich ihn kennen, und wir machten einmal einen gemeinsamen Weg zu Vater Zeller nach Beuggen.

Bei unserm Gespräch merkte ich wohl, daß der fröhliche Glaube, den Schwalb aus Paris mitgebracht hatte und der in Basel tiefer gegründet worden war, ins Wanken gekommen war. Er konnte seine Vernunft schlecht gefangen geben unter den Gehorsam des Glaubens, und ich sah öfter einen finsteren und fast verzehrenden Zug auf seinem Angesicht, der seine inneren Seelenkämpfe anzeigte, während unser gemeinsamer Freund Steeg ihn vielleicht schärfer, als es sich ziemte, angriff, wenn er bei Schwalb eine Abweichung von dem einfachen Kinderglauben bemerkte. Dies war überhaupt ein Fehler, den ich an Steeg rügen mußte, daß er öfter zu scharf war im Richten gegen solche, die in irgend einer Weise von den Bekenntnissen der Kirche abwichen.

Während ich dann nach Erlangen gegangen war, hatte Steeg seine Schritte ebenfalls nach Straßburg gelenkt und dort mit seinem Freunde Schwalb zusammen sein Studium fortgesetzt. Die Briefe meines Freundes zeigten bald, daß er mehr und mehr von dem Schwalbschen Geiste angehaucht worden war, und das hatte meine Seele tief beunruhigt. Denn auch mich hatte mein Berliner Studium nicht aus einer mehr und mehr zunehmenden Unklarheit herausgebracht, und es war mir sehr schwer geworden, in diesem Zustande meinen alten heißen Wunsch, zu den Heiden hinauszugehen, festzuhalten. Denn ich war meiner Sache nicht gewiß, was ich den Heiden als geglaubte, anerkannte und erfahrene Wahrheit verkündigen sollte.

Ich hatte meinem Freunde Steeg vorgeschlagen, daß wir uns in Barmen treffen wollten, wohin auch Pastor Meyer aus Paris kommen wollte, um dort an der Festwoche teilzunehmen, die die verschiedenen christlichen Vereine des Rheinlandes jährlich veranstalteten. Immerhin war im Blick auf meinen eigenen Herzenszustand und den meines Freundes mein Herz banger Sorge voll, als ich ihm nach Barmen entgegenreiste.

In Barmen angekommen, erfuhr ich, daß mein Freund bereits im Missionshause eingetroffen sei. Aber ich fand ihn nicht gleich. Dagegen traf ich einen lieben alten Freund wieder, den Hausvater Busch, den ich von Basel aus kennen gelernt hatte, als er noch im nahen Wiesental Lehrer war. Jetzt stand er in Barmen dem Hause für Missionskinder vor. Er führte mich zu seiner Kinderschar, und während ich ihn so herzlich mit den Kindern reden hörte, stieg plötzlich in mir die Sehnsucht auf, ob ich nicht zunächst einmal Lehrer armer Kinder werden könnte, um daran zu merken, wie viel und wie wenig ich ihnen vom Glauben sagen konnte, ohne gegen mich selbst unwahr zu sein.

Gleich darauf fand ich nicht nur meinen Freund Steeg, sondern auch den lieben Pfarrer Meyer, und wir konnten ihm nun gemeinsam als unserm geistlichen Vater unser Herz ausschütten und alle unsere Not offenbaren. Dabei sprach ich ihm den Wunsch aus, der eben im Anblick der Missionskinder in meinem Herzen aufgekommen war. Da schlug er mit ganz entschiedener Freude ein. Er schilderte mir die Not der armen kleinen Kinder in Paris und die tiefe Verborgenheit vor aller Welt Augen, in der ich dort arbeiten könnte. So ging ich auf seinen Vorschlag ein, ihm zunächst einmal nach meinem Examen für ein halbes Jahr zu dienen.

Um gleich alles ins klare zu bringen, begleitete der treue alte Meyer mich zugleich mit Steeg zu meiner Mutter nach Velmede, wo wir gemeinsam einige reiche, stille Tage zubrachten. Selbstverständlich war es der Mutter für ihr mütterliches Herz ein Lichtstrahl, daß mein Weg zunächst statt nach Indien oder Afrika nur nach Paris gehen sollte, und so hatte ich leicht ihr Jawort zu diesem Plane.

Nachdem Pfarrer Meyer uns verlassen hatte, entschlossen Steeg und ich uns zu einer kleinen Fußreise, die zu gleicher Zeit als erste Kollektenreise für die deutsche Mission in Paris dienen sollte. Unser Weg ging zunächst in die Heimat meiner Kindheit, die ich wenige Monate alt verlassen und in diesen 27 Jahren niemals wiedergesehen hatte, ins Tecklenburger Land. In der Kirche in Ledde, wo meine Mutter so oft gesessen hatte, wurde ich von dem alten Küster an der Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkannt, der ich in der Tat von allen meinen Geschwistern am meisten ähnlich sah. Von dieser Stunde an glich unsere Wanderschaft durchs Tecklenburger Land fast dem Triumphzuge eines Königs, der in sein Reich wiederkehrt. Die große Liebe, die sich meine Eltern im Lande erworben hatten, wurde nun auf mich übertragen, und ich konnte es erfahren, wie das Gedächtnis des Gerechten im Segen bleibt und daß seine Werke zwar nicht ihm vorauslaufen, als ob sie ihm den Himmel verdienen könnten, aber daß sie doch als Zeugen seines Pilgerlebens hinter ihm hergehen.

Von da durchwanderten wir das Ravensberger Land und klopften an manchem Pfarrhaus an. Überall wurden wir mit großer Herzlichkeit aufgenommen und knüpften die ersten Beziehungen für das Werk in Paris an. Steeg begleitete mich noch bis Velmede zurück und zog dann wieder in seine französische Heimat. Es war das letzte Zusammensein mit meinem Freunde. Wir hatten uns der Hauptsache nach noch einmal zusammenfinden können. Aber dann kam doch die Stunde, wo er sich überhob über solche, die sich kindlich und einfach an Gottes Wort halten, und sich mit Schwalb zusammen als vollberechtigter Richter über die Heilige Schrift einsetzte. Mehrere Jahre ist er noch Pastor in Frankreich gewesen und dann in die Leitung des französischen Schulwesens eingetreten.

Ich verlebte nun eine unbeschreiblich köstliche Zeit bei meiner lieben Mutter, während welcher allerlei landwirtschaftliche Arbeit auf dem väterlichen Gute sich mit fleißigem Studium zur Vorbereitung auf mein Examen ablöste. Als meine Mutter nach Erfurt zu meinem ältesten Bruder zog, der dort als Forstmann stand, folgte ich ihr, um in Erfurt den vorgeschriebenen Seminarkursus durchzumachen.

Mehr noch als durch die Arbeit auf dem Seminar wurde mir Erfurt auf eine andere Weise zu einer Vorschule für meine spätere Arbeit. Es wurde nämlich an der Tür meines Bruders stark gebettelt, und ich entschloß mich, die Bettler in ihrer Wohnung aufzusuchen. Da fand ich denn unter anderem eine Bettlerniederlassung sondergleichen. In einem entlegenen Hof der alten Stadt hatten sich die armen Leute aus allerlei alten Wagen, wie sie von fahrenden Leuten benutzt und später als unbrauchbar verkauft worden waren, und aus Resten abgerissener Häuser usw. eine wahre Bettlerburg zurechtgebaut. Ich erfuhr, daß gerade dieser Winkel wegen seines furchtbaren Schmutzes und wegen der Verkommenheit seiner Bewohner, unter denen sich leider auch eine große Schar von Kindern befand, weder von dem Geistlichen, in dessen Sprengel die Bettlerburg lag, noch von den Armenvorstehern aufgesucht wurde. Die Ärmsten waren von jedermann aufgegeben, und ich war froh, wenigstens etwas für sie ausrichten zu können, indem ich einigen unter ihnen dauernde Arbeit verschaffte.

Von Erfurt aus ging es dann im April nach Münster ins Examen. Mit der licentia concionandi in der Tasche galt es am 21. April, Abschied zu nehmen von der teuren Mutter und der lieben Heimat. Am 24. April 1858 abends langte ich in Paris an und fand zunächst im Hause meines lieben väterlichen Freundes, Pastor Meyer, gastliche Aufnahme.”

Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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