Читать книгу Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild - Gustav von Bodelschwingh - Страница 8
I
1831–1872
Die Ausbildung
Als Landwirt in Pommern. 1852–1854
Оглавление„Nun war guter Rat teuer. Was sollte weiter aus mir werden? Als ich von dem alten Doktor wieder auf die Straße kam und der Droschkenkutscher mich fragte, wohin er fahren solle, sagte ich zu ihm, das wisse ich selbst nicht. Er möge fahren, wohin er Lust hätte. So fuhr er mich auf die nahegelegene Post, und ich entschloß mich flink, da die Postpferde gerade angespannt wurden, um nach Luckau zu fahren, einen kleinen Abstecher zu meinem Freunde Ernst von Senfft zu machen, der damals auf dem Hauptgute des alten Herrn Koppe in die Lehre getreten war.
Ernst von Senfft war in der Berliner Zeit, wo wir zusammen das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchten, mein nächster Freund geworden und seitdem auch geblieben. Die Freundschaft zu ihm war mit ein Grund gewesen, weshalb ich den landwirtschaftlichen Beruf ergriffen hatte, in der Hoffnung, mit ihm gemeinsam landwirtschaftliche Studien treiben zu können. Während der Schülerzeit hatte ich von Berlin aus meinen Freund einige Male auf das Gut seines Vaters, Gramenz in Hinterpommern, begleitet, und es bestand ursprünglich die Absicht, daß wir dort gemeinsam unsere erste landwirtschaftliche Lehrzeit zubringen sollten. Aber gerade als wir diesen Plan in die Wirklichkeit umsetzen wollten, wurde mein Freund berufen, den Prinzen Friedrich Wilhelm (unseren späteren Kronprinzen und Kaiser) nach Bonn auf die Universität zu begleiten. Auf diese Weise waren wir auseinander gekommen und freuten uns nun um so mehr des Wiedersehens.
Ich brachte einige schöne, stille Wochen mit meinem Freund zusammen zu und lernte zugleich bei dem originellen alten Koppe manches, was ich im Oderbruch nicht hatte lernen können. Die Abende aber las ich mit Ernst Senfft, nach unserer gemeinsamen alten Jugendlust, Homers Ilias und dergl. mehr. Während unseres dortigen Zusammenseins traf eine Einladung des Vaters meines Freundes ein. Dessen Berufung als Oberpräsident von Pommern stand bevor. So konnte er sich wenig um seinen Besitz kümmern und forderte uns auf, daß wir im kommenden Frühling gemeinsam unsere bisher in der Landwirtschaft erworbenen Kenntnisse auf den Gütern in Hinterpommern verwerten sollten. Da die Ärzte vor der Hand bei dem Zustand meiner Lunge ein wissenschaftliches Studium nicht für geraten hielten, so willigte mein Vater ein.
Um mich auf meine Tätigkeit noch weiter vorzubereiten, folgte ich der Anregung eines andern Freundes, den ich in Kienitz kennen gelernt hatte, und ging zu dessen Bruder Franz Bieler nach Machern bei Friedeberg, einem trefflichen Landwirt, in dessen Hause ich viele Freundlichkeit und Förderung genoß.
In den ersten Tagen des April 1852 langte ich zugleich mit meinem Freunde Ernst in Gramenz an. Wir bezogen miteinander das Vorwerk Raffenberg, eine halbe Stunde von dem Hauptgute Gramenz entfernt. Raffenberg sollte von meinem Freunde Ernst bewirtschaftet werden, während mir zunächst die beiden andern Güter, Schoffhütten und Zechendorf, zugeteilt wurden, die ich von Raffenberg aus inspizieren sollte.
Der alte Herr von Senfft hatte Gramenz in den dreißiger Jahren für 60 000 Taler erworben. Er hätte bei diesem günstigen Ankauf ein sorgenfreies Leben führen können, denn das Hauptgut, das für sich allein 500 Morgen groß war, besaß sehr alte fruchtbare Ländereien und war darum recht wertvoll. Allein der rastlose Geist des alten Herrn war darauf gerichtet, alles unbebaute Land urbar zu machen. Um das dafür nötige Vieh halten zu können, legte er großartige Rieselwiesen an, zu deren Bewässerung das Wasser in drei großen Bassins durch aufgeführte Dämme gesammelt wurde. Allein diese Anlage, die Hunderttausende verschlang, brachte den gewünschten und erhofften Ertrag nicht, zumal gleichzeitig über 100 verschiedene Häuser gebaut wurden, sowohl für die wirtschaftlichen Zweige als für die Tagelöhner. Die Wasser des pommerschen Landrückens waren zu arm und darum der Ertrag der Wiesen zu gering. Infolgedessen befand sich der alte Herr beständig in den drückendsten Sorgen. Da sollten wir jungen Leute nun raten und helfen, und die Hoffnung, die er auf uns setzte, ging dahin, daß binnen kurzem alle Sorgen von ihm genommen sein würden.
Immerhin war, äußerlich angesehen, Gramenz ein prachtvoller Besitz, zwei Meilen (15 Kilometer) lang, eine halbe Meile (3 bis 4 Kilometer) breit, von rieselnden Bächen und anmutigen Tälern durchzogen und an seinem Rande von lieblichen Seen umgeben, die mit Buchenwald eingefaßt waren. Was aber die Hauptsache war, um den Aufenthalt für mich segensreicher zu machen als meine drei letzten landwirtschaftlichen Orte Kienitz, Wollup und Machern: es bestand von alter Zeit her ein kirchlicher Sinn in der Gemeinde, und der Pfarrer Diekmann meinte es sehr treu. In der aufs freundlichste ausgestatteten Dorfkirche wurden erquickende Gottesdienste gehalten, zu denen wir uns regelmäßig Sonntags einfanden.
Wir beiden jungen Leute führten auf unserem Vorwerk ein eigenartiges Junggesellenleben. Die Schäfersfrau besorgte uns unsere Küche. Wir hatten jeder unser Reitpferd. Das meines Freundes hieß Soliman, meins Dido. Ich hatte es bald so gewöhnt, daß es, wenn es auf der Weide ging, auf einen Pfiff herankam und ich ihm bloß die Gerte, die ich in der Hand hatte, ins Maul zu legen brauchte. Dann ließ es sich ungesattelt in allen Gangarten reiten, indem ich es mit der Gerte, deren beide Enden ich gefaßt hatte, lenkte.
Wir beiden Freunde sahen uns gewöhnlich nur morgens und abends, gönnten uns aber doch bisweilen in einer trauten Einsamkeit an irgend einem Bachufer ein Ruhestündchen, um unsere klassischen Studien fortzusetzen. Unsere Freundschaft war sehr innig, auch in bezug auf die äußeren Dinge. Wir waren beide genau gleich groß, sodaß uns unser Zeug gegenseitig paßte. So hielten wir denn auf völlige Gütergemeinschaft, und jeder schaffte nach seinen Mitteln etwas in den gemeinsamen Kleiderschrank an, wobei man mit Vorliebe das anzog, was der andere angeschafft hatte.
So scharf und heiß unsere Arbeit meist den Tag über war, so fehlte es doch auch nicht an Erquickungen. Abends ritten wir oft auf unsern schnellen englischen Vollblutpferden nach dem nur eine Meile entfernten Buchwald hinüber, wo die älteste Schwester meines Freundes an einen Herrn von Glasenap verheiratet war und wo damals ein liebliches Familienleben aufblühte. Glasenaps hatten sich am Ufer eines Sees ein gar freundliches Landhaus gebaut. In den schönen Sommernächten fuhren wir oft noch spät unter fröhlichen Liedern auf dem See, nachdem wir vorher ein erfrischendes Bad genommen hatten. Auch in Gramenz selbst, ehe der alte Herr nach Stettin übersiedelte, gab es in dem lieben Familienkreise manche freundliche Stunde.
Übrigens merkten wir beide, Ernst und ich, bald, daß die Sachen nicht standen, wie sie stehen sollten. Waren in den früheren Jahren große Fehler begangen, indem man zu große Flächen Wald urbar machte und stattliche Gehöfte auf ihnen aufrichtete, ohne die nötigen Mittel zu haben, um das urbar gemachte Land auch ertragfähig zu machen, so war es neuerdings ein besonders schwerer Mißgriff gewesen, daß man sich auf englische Pferdezucht und gar auf Trainierung kostbarer Rennpferde eingelassen hatte. Vor allem aber hatte der liebe alte Landesökonomierat Koppe, der sonst der kundigste Ratgeber war, den man hätte finden können, seinem Freunde Senfft geraten, eine große Zuckerfabrik zu bauen. Doch für den Zuckerrübenbau waren viele Flächen noch zu jung und zu arm.
Noch schlimmer war es, daß der alte Herr von Senfft nicht nachließ, seinen Pächtern immer neue Flächen zu entziehen in der Meinung, dadurch, daß er das Pachtland in eigene Bewirtschaftung übernahm, besser abzuschneiden. Der Sohn war hierin mit seinem Vater gar nicht einverstanden. In seiner romantischen Art konnte er wohl, wenn wir abends über einen der kleinen mit Eichen umstandenen Pachthöfe ritten, unter einer der alten Eichen still halten und sich dann in die Seele solch eines alten vertriebenen Erbpächters hineinzudenken, wie er seine mit ihm ausgetriebenen und zu Tagelöhnern hinuntergesunkenen und hinuntergestoßenen Leidensgefährten versammelte, um ihnen eine Rede zu halten, in der er sie zum Aufruhr gegen ihren Bedränger aufforderte, der sie von ihrem väterlichen Herd verstoßen und sie, voll unersättlicher Gier nach erweiterten Grenzen, aus dem Schatten ihrer alten Eichen verdrängt habe.
Der alte Senfft war in der Tat einer der wunderbarsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Schärfere Widersprüche können kaum in ein und demselben Herzen angetroffen werden. Voll inniger, ungeheuchelter Frömmigkeit, sich seines Heilands niemals schämend, auch am Hofe des Königs nicht, für seine eigene Person mit dem Geringsten zufrieden, ja, ängstlich sparsam, ohne jeden Adelsstolz, hatte er doch auf der andern Seite Eigenschaften, die einem geraden Charakter, wie z. B. meinem Vater, unbeschreiblich schwer waren. Er liebte heimliche Wege, um zu seinen Zielen zu gelangen, und ließ sich niemals hinter seine Geheimnisse schauen. Das schwerste aber war uns Jungen seine Landgier. Diese besondere Gier verschloß ihm die Augen gegen manche furchtbare Härte, ohne die die bisherigen Pächter sich nicht aus ihren alten Wohnstätten vertreiben ließen.
Dazu kam, daß er in der Bewirtschaftung seiner Güter vielfach Unmögliches forderte und darum von seinen Beamten, von deren Vortrefflichkeit er oft geradezu kindliche Ansichten hatte, vielfach hintergangen wurde. Unter solchen schwierigen Umständen, in die sein Sohn und ich ahnungslos hineinversetzt waren, konnte es wohl vorkommen, daß wir zueinander sagten: „Wir müssen beten, sonst sind wir verloren.” So schwer legte sich mitten unter allerlei Knabenscherzen die große Sorge auf unser Herz.”
Einige Wochen nach seiner Ankunft in Gramenz schrieb der junge Inspektor Bodelschwingh seinem Vater:
Raffenberg bei Gramenz, Himmelfahrtstag 1852.
Lieber Vater!
Sei nicht böse, daß ich Dich so lange auf einen vernünftigen Brief habe warten lassen. Die unerwartete Bedeutsamkeit und Ausgedehntheit meiner hiesigen Stellung hat mich bis jetzt bei einer steten aufgeregten Tätigkeit kaum zur Besinnung kommen lassen. Die Feiertage selbst waren bis jetzt teils durch notgedrungenes langes Schlafen, regelmäßigen Kirchenbesuch und gezwungenen Gramenzer Familienaufenthalt, teils mit weitläufigem Rechnungswesen und reformatorischen Beratungen so ausgefüllt, daß ich bis jetzt vergeblich nach einer ruhigen Stunde gespäht habe, die mir nun endlich ein feierlich schöner Himmelfahrtsabend freundlich gewährt.
Zuerst will ich nur gleich vorausschicken, daß unter allen Wohltaten, für die ich dem lieben Gott Dank schuldig bin, kaum eine mir größer erscheint, als daß er mich hierher geführt hat. Ich muß wirklich meine hiesige Stellung nach allen Richtungen hin, sowohl was ihren Wert für meinen Lebenslauf direkt, als für meine ganze geistige Ausbildung im allgemeinen anlangt, eine ausgesucht glückliche nennen. Hier hast Du zuerst eine flüchtige Beschreibung meines landwirtschaftlichen Wirkungskreises.
Schoffhütten, das größere der beiden mir unterstellten Vorwerke, Raffenberg, meinem Wohnort, am nächsten gelegen (3,8 Meilen Entfernung), hat bei einer Viehhaltung von ca. 10 Pferden, 12 Ochsen, 20 Kühen und 700 Schafen ein Areal von etwa 800 Morgen Acker mit 100 Morgen natürlichen Wiesen, außerdem eine unberechnete Fläche teils verpachteten, teils noch nicht urbaren Landes, im ganzen 2400 Morgen. Der bis jetzt unter den Pflug genommene Teil des Schoffhütter Ackers ist seiner Bodenmischung nach unbezweifelt der beste unter allen Gramenzer Ländereien, aber teils von den früheren Pächtern ausgesogen, teils überhaupt noch ohne Kultur. Das Terrain ist dabei im höchsten Grade unübersichtlich, unzählige Gräben und steile Abhänge; die ganze Beackerungsweise ist mir vollständig neu. Dabei sind größere Entwässerungsarbeiten eines in diesem Jahre neu hinzugenommenen Schlages, Roden, Planieren usw. im Gange.
Das zweite mir unterstellte Vorwerk Zechendorf (der Wirtschaftshof liegt über eine halbe Meile von dem Schoffhütter entfernt, sonst sind beide Feldmarken nur durch einen kleinen Gramenzer Pächter voneinander getrennt) hat 700 Morgen Acker, Wiese und Bruch, 6 Pferde, 12 Ochsen, die nötigen Kühe und 3 bis 400 Schafe. Es ist erst seit vorigem Jahre teils aus der Verpachtung genommen, teils neu zugekauft und befindet sich noch auf allen Punkten im Zustande gänzlicher Verkommenheit und Verarmung. Hier sind noch bedeutende Meliorationsarbeiten in Angriff genommen.
Überall handelt es sich um eine erste mühsame Bestellung, überall ist Mangel an allem, darum aber herrscht auch über jedes mühsam neugeschaffene Stück Land desto größere Freude. Die Handarbeitskräfte auf beiden Vorwerken sind mehr als zureichend, da außer 20 eigenen Tagelöhnerfamilien gegen 40 Pächter täglich einen Dienstmann stellen müssen, sodaß ich täglich gegen 80 Leute zu beschäftigen habe. Auf jedem Vorwerk ist ein Hofmeister, beides recht gescheite, eifrige, tüchtige Männer, die bis dahin direkt unter den angrenzenden Inspektoren von Raffenberg und Ernsthöhe gestanden hatten, außerdem aber und seit der bedeutenden Erweiterung der Betriebe in diesem Frühjahr ganz vorzugsweise unter dem Oberinspektor selbst. Der hat mich aber seit dem großartigen Gramenzer Fabriktrubel völlig im Stich gelassen (es handelte sich um eine Meinungsverschiedenheit über Anlage und Betrieb der Zuckerfabrik). Über eine Meile von Gramenz entfernt bin ich selbständiger, als mir lieb ist. Herr von Senfft kümmert sich eigentlich gar nicht um die spezielle Bewirtschaftung; nach meinen entfernten Vorwerken kommt er höchstens fünf- bis sechsmal im ganzen Jahr; mich hat er erst einmal flüchtig besucht.
Außer diesen beiden Vorwerken, von denen mir in ihren jetzigen Verhältnissen jedes einzelne eine reichliche und angenehme Beschäftigung gewähren würde, habe ich nun unser hiesiges Raffenberg, ein Gut von 2200 Morgen schweren Weizenbodens mit 700 Morgen Wiesen, täglich selbst tätig mitwirkend, unter Augen, da Ernst Senfft allein von der Arbeit erdrückt werden würde. Namentlich des hiesigen Rübenbaus, über 200 Morgen (ich selbst habe auf meinen Vorwerken aus Mangel an aller Kultur erst dreißig Morgen bauen können), habe ich mich speziell angenommen.
Außer Raffenberg passiere ich nun auf meinem täglichen Ritt noch Ernsthöhe, 1500 Morgen leichteren Bodens, auch erst seit wenigen Jahren aus der Wildnis emporgearbeitet, und auch hier bleibe ich mit dem ganzen Wirtschaftsbetriebe bei dem ewigen Ineinandergreifen der Vorwerke mit Leuten und Gespannen immer im Zusammenhange. Außerdem muß ich mindestens ein- bis zweimal wöchentlich, außer Sonntag, nach Gramenz, wo mir 450 Morgen Zuckerrüben unterstellt sind, dazu die dortige Rieselwirtschaft und die Wäsche und Schur von 5000 Schafen, wovon die beiden letztgenannten Sachen mir noch ganz fremd sind. So ist das Feld für meine landwirtschaftliche Tätigkeit so unendlich groß, daß ich gar nicht im Stande bin, es auch nur einigermaßen auszunutzen und meine Pflicht, wie ich möchte, zu erfüllen.
Gleichwohl hat diese ersten Wochen über die eigentliche Landwirtschaft nur den geringeren Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Was mich viel lebhafter und inniger beschäftigt hat, war das Schicksal der Tagelöhner, besonders auf meinen entfernten Vorwerken, aber auch in Gramenz. Bei diesen Leuten, die unter rohen Inspektorhänden auf etwas brutale Weise verkümmert und verkommen waren, war es meine erste Sorge, wenigstens dem gröbsten Elend abzuhelfen, wobei mir übrigens Herr von Senfft auf die entschiedenste und freundlichste Weise zu Hilfe kam, da er eigentlich von der Größe des Elends gar keinen Begriff hatte.
Schoffhütten und Zechendorf sind nämlich nicht, wie Raffenberg und Ernsthöhe, neue Vorwerke, sondern beides alte Dörfer, mit ehrwürdigen Bäumen aller Art schön ausgestattet, die die alten Pächterwohnungen nach westfälischem Stil umgeben. Die Pächter sind nun zum großen Teile aus ihren Wohnsitzen verdrängt, und statt ihrer, soweit sie nicht selbst in Tagelöhner umgewandelt und als Tagelöhner wohnen geblieben sind, ist allerlei Gesindel eingezogen, das man aus Gramenz weggebracht hatte. Diese Leute, überschuldet wie sie waren und daher nicht imstande, von ihrem Verdienst zu leben, waren seit mehreren Monaten ohne Kartoffeln, ohne Getreide. Sie trieben sich teils bettelnd umher, teils lagen sie faul zu Hause, mißmutig, etwas zu tun, weil ihnen doch all ihr Verdienst auf ihre gemachten Schulden abgerechnet wurde. Da war es nun meine erste Sorge, gewaltsam und eigenmächtig einzugreifen. Da dies aber nicht geschehen konnte, ohne daß ich mich auf das genaueste um die Familienverhältnisse der Leute kümmerte, so bin ich fast täglich in allen Stätten des großen Elends herumgekrochen und habe in vielen Familien förmlich die Haushaltung geführt.
Pfingsten. Am Himmelfahrtstage zu früh unterbrochen und aufs neue in den Strudel hineingetrieben, bin ich heute vom Gramenzer Mittagstische direkt wieder nach Raffenberg umgekehrt, um endlich den angefangenen Brief zu Ende zu bringen. Du kannst Dir denken, daß nach der Behandlung, die die Tagelöhner bis dahin genossen, ich in diesem Punkte eine unglaublich leichte und dankbare Stellung habe. Obgleich ich mir eine Strenge und Härte anzwinge, die ich mir bis dahin nie zugetraut habe, sind mir alle meine Leute in so kurzer Zeit so ganz zugetan und anhänglich geworden, daß ich mich fast täglich der Ausbrüche ihrer Dankbarkeit gewaltsam erwehren muß.
Ich denke übrigens, indem ich die Leute aus dem Elend gerissen, auch Herrn von Senfft bedeutend genutzt zu haben. Indem ich die Kräfte der eigenen Leute aufs äußerste durch Akkordarbeiten ausnutzte, das Gramenzer Betteln durch Hilfe an Ort und Stelle zu Ende brachte, Frauen und Kinder beim Rübenbau beschäftigte, ist es mir mit der Zeit möglich geworden, gegen 40 fremde Arbeiter und Pächterknechte teils zu entlassen, teils nach Gramenz zu schicken und hier wieder die Annahme von noch teureren fremden Leuten zu vermeiden. In ähnlicher Weise habe ich eine Menge kleiner Einrichtungen gemacht, die ich erst in Zechendorf, dann in Schoffhütten ausprobte und von da hierher nach Raffenberg verpflanzte. Ich habe den Leuten statt des bloßen teuren Roggens, von dem sie ausschließlich lebten, Kartoffeln und Gerste angeschafft, womit sie ein Drittel billiger auskommen. Ich zahle ihnen ihren Tagelohn statt vierteljährlich wöchentlich aus, wodurch sie zu doppeltem Fleiß angefeuert werden. Für die ganz verkommenen Familien lasse ich Suppe kochen, die sie für ein billiges erhalten, damit auch die Frau ohne häusliche Sorgen täglich mitarbeiten kann. Manchen messe ich ihr Mehl für ihre Suppe zu und bestimme danach, wie lange sie mit ihrem Scheffel auskommen müssen, weil ich erfahren hatte, daß sie in der Not, aber wohl auch zum Branntweinsaufen, das empfangene Korn teilweise wieder verkauften.
Ich halte mich notgedrungen beständig in Zusammenhang mit den Speisekammern fast sämtlicher Leute. Die Vorräte an Mehl, Kartoffeln, Salz und Milch muß ich stets im Gedächtnis haben. Das Ganze ist im eigentlichen Sinne des Worts meine eigene Haushaltung. Denn indem ich das Schicksal sämtlicher Leute von der Gramenzer Inspektoren-Kamarilla losband, habe ich auch ihre ganzen Schulden, gegen 300 Taler, persönlich auf mich genommen, zwar nicht mit der Verpflichtung, sie der Gramenzer Gutskasse wieder zu bezahlen, aber doch mit dem Versprechen, darin mein Bestes zu tun. Ich erhalte nun wöchentlich aus der Gutskasse meinen vollen Tagelohn für alle Leute, mit dem ich nach besten Kräften für die Leute wirtschafte. So habe ich also außer meiner ausgedehnten landwirtschaftlichen Tätigkeit auch eine große Familienhaushaltung, die neben manchem andern Lehrreichen auch für mich das Gute hat, daß ich im steten Zusammenhange mit so großer Armut und so großen Entbehrungen mit meinem eigenen Lose recht von Herzen zufrieden sein kann und mir auch für die Zukunft jede Entbehrung leicht werden wird.
Übrigens ist meine jetzige Lebensweise auch keineswegs üppig zu nennen. Am frühen Morgen Raffenberg mit einer Tasse Milch und einem Stück Brot im Magen verlassend, kehre ich der Regel nach erst abends gegen zehn dahin zurück, zu müde, mehr wie einen Teller saure Milch zu vertilgen. Den Tag über auf meinen Vorwerken wird nach Umständen gelebt, mitunter ein Butterbrot, mitunter ein paar Kartoffeln oder Eier, mitunter gar nichts. Dabei befinde ich mich aber so gründlich wohl und kräftig, daß ich es nicht beschreiben kann.
Mein täglicher Ritt beträgt in gradester Richtung mindestens zwei gute Meilen, wozu dann häufig noch die dritte und vierte kommt. Der Weg ist indessen entweder so hart oder bei nassem Wetter so schlüpfrig, das Terrain so hügelig, so viel Moraste, Gräben und mühsame Pfade, daß von scharfem Reiten selten die Rede ist und daß die Zeit zu Pferd mir immer eher eine angenehme Erholungszeit für Geist und Körper als eine Anstrengung ist. Die Szenerie ist zum großen Teile wirklich so lieblich und wird für mein Auge mit jedem Tage so viel lieblicher, daß ich Euch auf Eurer Reise im Thüringer Walde gar nicht zu beneiden brauche.
Jeden frühen Morgen führt mich mein Weg durch den im frischen üppigen Grün prangenden Buchenwald, meist auf selbstgesuchten näheren Pfaden, wo ich oft Zweig für Zweig zurückbiegen oder gebückt durch Laubengänge kriechen muß. Und des Abends, so wie gestern zum Beispiel, kehre ich im Mondschein wieder zurück, am liebsten an den Bachufern entlang, wo die Nachtigallen seit drei Wochen schon fleißig am Singen sind. Meine Feldmarken selbst aber sind wie aus der schönsten westfälischen Landschaft herausgeschnitten, mit Eichengruppen, kleinen Wiesen, Hecken und zerstreuten Pächterwohnungen mannigfach verziert; dazu dann eine weite herrliche Aussicht über das ganze Gramenzer Gelände (denn Schoffhütten und Zechendorf liegen wohl mehrere hundert Fuß über den Gramenzer Wiesen). Da geht mir nicht selten das Herz so auf, daß ich laut aufjauchzen möchte vor Fröhlichkeit.
Zu andern Zeiten kann ich dann freilich auch eine gewisse Wehmut nicht zurückweisen, wenn ich die schönen alten Pächtereien, auf denen oft ein und dieselbe Familie hundert Jahre gewohnt hatte, nun verwaist und verlassen stehen sehe, und nicht selten trifft man auf Leute, denen in Erinnerung an ihre alten Wohnstätten, die sie als ihr Eigentum anzusehen sich gewöhnt hatten, die Tränen in die Augen treten. Wie weit da nun Recht oder Unrecht waltet, kann ich nicht beurteilen, geht mich auch gar nichts an. So viel weiß ich aber, daß so viele Leute ihres heimatlichen Landes beraubt sind, ohne daß bis jetzt Herrn von Senfft der geringste Nutzen daraus erwachsen ist. Denn das den Pächtern genommene Land ist teilweise in Hände geraten, die es noch mehr mißhandelt haben wie jene.
Der jetzige Oberinspektor aber, dahinter sind wir bald genug gekommen, ist in der Tat ein höchst untüchtiger Mann, der seiner Stellung nicht im geringsten gewachsen ist. Er hat in sehr wilder und leichtsinniger Weise darauf losgewirtschaftet, Land und Leute verdorben und Herrn von Senfft großen Schaden gemacht. Es ist daher auch bald ein drückendes Verhältnis zwischen Ernst und mir auf der einen Seite und ihm auf der andern Seite eingetreten. Wir kamen zuerst mit unsern Verbesserungsvorschlägen zu ihm. Aber da wir von ihm zurückgewiesen wurden, hielten wir uns bald für verpflichtet, sie durch Herrn von Senfft selbst durchzusetzen, der uns in allen Stücken ein fast zu großes Vertrauen schenkt. Dadurch ist nun der Mann moralisch sehr heruntergedrückt, während unser Wirkungskreis sich sehr erweitert hat. Einmal mißtrauisch geworden, haben wir uns bald verpflichtet gefunden, überall mit zuzusehen, haben in der Fruchtfolge geändert, im ganzen Leutewesen reformiert, ohne des Oberinspektors Einwilligung das Rechnungswesen umgestaltet usw. Dadurch sind wir allmählich sehr mächtig geworden und sind fast wider unsern Willen in eine Stellung hineingeraten, der wir gar nicht recht gewachsen sind.
Zum Schluß will ich nur noch sagen, daß unser Familienleben, nämlich Ernst Senffts und meins, einzig ist und daß die Freude, mit dem unvergleichlichen Jungen zusammen leben zu können, alle andern Freuden, die mir hier Natur und Beruf reichlich gewähren, weit übersteigt. In einem kleinen Zimmer, mit allem möglichen Studentenflitter ausgestattet, hausen wir auf das lustigste, präsidieren bei Tafel über zwei Wirtschaftslehrlinge und einen Schulmeister, denen gegenüber wir die Würde zweier Wirtschaftsprinzipale einzunehmen wissen. Daß bei unserer jetzigen Tätigkeit nicht viel von theoretisch-wissenschaftlichen Studien die Rede sein kann, magst du leicht denken. Gleichwohl passiert es uns gar häufig, daß wir uns des Abends unwillkürlich aus übergroßer Müdigkeit aufrütteln und uns über irgend einem unserer guten alten Klassiker bis tief in die Nacht hinein ergötzen oder uns an beiderseitigen reichen Erinnerungen aus den letzten Jahren, die wir noch lange nicht alle ausgetauscht haben, beglücken.
In der leisen Hoffnung, wenn nicht Dich selbst, so doch eins der Schwesterchen mit Herrn von Senfft von Berlin ankommen zu sehen, bin ich freilich diesmal getäuscht worden, hoffe aber doch noch einmal, Dir und ihnen unsere Herrlichkeit hier zeigen zu können.
Verzeih mein wildes, unruhiges, unordentliches Geschwätz noch einmal, indem ich hoffe, bald vollständigere Nachricht geben zu können, und grüße die Mutter und die Schwestern
von Deinem gehorsamen Sohn
Friedrich.
„Da der alte Herr”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „die gewöhnlichen Tänzereien bei den Erntefesten nicht litt, so erlaubte er meinem Freunde und mir, unsere Erfindungskraft anzustrengen, auf welche Weise dennoch fröhliche Volksfeste gefeiert werden könnten, um den Tagelöhnern und ihren Kindern nach der heißen Sommerarbeit einen Festtag zu gewähren. An irgend einem hochgelegenen Waldrande unter Eichen und Buchen wurden eine ganze Reihe von Feldküchen eingerichtet und ganze Körbe voll Kuchen und Obst hinausgeschafft. Mit Lied und Lobgesang im Kirchen- und Volkston wurde begonnen. Dann folgte eine Ansprache an die Versammlung, die auf die reiche Güte Gottes hinwies. Jetzt ging’s an die fröhliche Mahlzeit, die von den Gesängen der Kinder unterbrochen wurde. Dann wurde zu den mannigfaltigsten Spielen eingeladen, die für die Größeren und die Kleineren, für die Burschen und für die Mädchen besonders eingerichtet waren. Am Abend wurde mit Gesang und Gebet geschlossen.
Eins dieser Feste, das wir an einem besonders herrlichen Platz meines hochgelegenen romantischen Schoffhütten feierten, nahm freilich ein trauriges Ende. Denn der Pommer liebt leider den Schnaps über alle Maßen. Lieschen Senfft, die Schwester meines Freundes, hatte den Honoratioren der Gesellschaft eine Überraschung bereitet. In einer besonders dichten Waldecke hatte sie einen kleinen Platz aushauen lassen, zu welchem ein ganz verborgener Pfad führte. Hier war künstlich eine schöne Laube zurechtgeflochten, mit Blumen geschmückt und mit Rasenbänken versehen, zwischen denen die schönsten Kaffeetische mit allerlei Zubehör aufgeschlagen waren. Während nun unsere Dorfbewohner fröhlich schmausten und Kaffee tranken, hatten wir uns hierher zurückgezogen. Da kam plötzlich die Nachricht: „Man prügelt sich.” Irgend ein Nichtsnutz hatte in ein anderes Waldgestrüpp ein Schnapsfaß eingeschmuggelt. Dem hatten eine Anzahl junger Burschen so fleißig zugesprochen, daß alsbald nach pommerscher Weise auch das Prügeln begann. Denn Schnaps und blutige Prügeleien waren hier alte Volkssitte. Die Männer liefen mit langen Knütteln bewaffnet herzu, um Frieden zu stiften. Da galt es denn für meinen Freund und mich, mitten zwischen die Knüppel zu springen, und nur mühselig gelang es uns, den Blutströmen zu wehren. Der traurige Abschluß unseres Festes war der Anlaß, daß hinfort keins dieser fröhlichen Volksfeste mehr gefeiert wurde.
Übrigens diente während der Erntezeit dieses ersten Sommers ein merkwürdiges Ereignis dazu, mir die Augen über die ganzen Verhältnisse noch mehr zu öffnen. Mein Freund und ich waren spät abends noch zu einem Moorbrand gerufen worden, dessen Löschen uns bis tief in die Nacht hinein beschäftigt hatte. So hatte ich nur wenig Schlaf gefunden, als ich am andern Morgen um fünf Uhr schon wieder mein Pferd bestieg, um meinen gewohnten Weg nach meinem Vorwerk einzuschlagen. Dort bin ich aber von niemand bemerkt worden. Dagegen kam ich nach etwa sieben Stunden auf dem Pferde sitzend wieder in Raffenberg an. Meine Dido hatte ihre beiden Knie und ich meinen Kopf etwas wund. Ich stieg noch selbst vom Pferde und wollte, wie ich es gern, wenn ich nach Haus kam, zu tun pflegte, das kleine Töchterchen unserer Wirtin auf den Arm nehmen. Diese bemerkte aber etwas Besonderes an mir, gab mir das Kind nicht, sondern geleitete mich auf mein Zimmer, brachte mich zu Bett und sorgte für kalte Umschläge auf meinen Kopf. Erst mit hereinbrechender Nacht wachte ich auf und sah den lieben alten Herrn von Senfft an meinem Bette sitzen.
Offenbar bestand die Lösung des Rätsels darin, daß ich infolge meiner geringen Nachtruhe auf dem Pferde eingeschlafen war und daß meine Dido, durch keinen Zügel gehalten, gestürzt war. Da ich das gelehrige Tier daran gewöhnt hatte, sowohl frei hinter mir herzugehen, indem ich ihm den Zügel über den Hals legte, als auch still zu grasen, wenn ich mich irgendwo ein wenig ausruhen wollte, so hatte mich Dido auch nach unserm beiderseitigen Sturz nicht verlassen, bis ich nach etwa fünf- bis sechsstündigem Liegen auf der Erde wieder so weit zur Besinnung kam, daß ich in den Sattel kommen konnte. So hatte denn das Pferd von selbst seinen Weg nach Hause eingeschlagen. Merkwürdig war nur, daß von dem Vorgefallenen nichts in meiner Erinnerung geblieben war.
Der Arzt stellte eine Gehirnerschütterung fest, und ich hatte etwa vierzehn Tage völlige Ruhe nötig. Erst allmählich lernte ich wieder gehen und lesen, da mir beides anfangs schwer gefallen war. Für diese Ruhezeit nahm mich der alte Herr von Senfft mit nach Gramenz und ließ mich auf das treuste pflegen. Zugleich fand ich hier Gelegenheit, tiefere Blicke in die auf mannigfache Weise zerrütteten Verhältnisse zu tun und auch die Persönlichkeiten zu durchschauen, die dem Bestehen des Ganzen gefährlich waren. Zu meinem Freunde zurückgekehrt, teilte ich ihm alles mit, was ich wahrgenommen, und nicht ohne heiße Kämpfe wurden nun einige Persönlichkeiten aus dem Sattel gehoben, die bis dahin in der höchsten Gunst des alten Herrn gestanden hatten, aber sonst als Tyrannen gefürchtet waren.
Damit brach nun allerdings für mich eine sehr ernste Zeit an. Der alte Herr forderte mich auf, und die Umstände ließen es auch nicht wohl anders zu, die Leitung des ganzen Gutes zu übernehmen. Da ich von Kienitz her mit dem Zuckerrübenbau sehr genau vertraut war, so glaubte er wohl, ein besonderes Recht dazu zu haben, mir die neue Aufgabe zuzumuten. Denn an den Zuckerrüben schien in der Tat die Rettung der ganzen Lage zu hängen. Da er selbst, wie schon bemerkt, nach Stettin übergesiedelt war und sich nur noch gelegentlich in Gramenz aufhielt, so mußte ich meinen Wohnsitz von Raffenberg nach Gramenz verlegen.
Im Herbst 1853 verließ mich mein Freund Ernst, um in Berlin sein Einjährigenjahr abzudienen. Aber Gott schenkte mir ein paar tüchtige neue Gehilfen. Der eine war der Bruder meines früheren Lehrmeisters in Mechern, Bieler, der schon in Kienitz mit mir zusammen gearbeitet hatte, und der andere der Sohn meines früheren Religionslehrers, des Dompredigers Snethlage, Moritz, der anstelle von Ernst Senfft die Bewirtschaftung von Raffenberg übernahm.
Es war kein Geringes, was auf meine Schulter gefallen war. Im Äußeren schenkte Gott gerade für dieses Jahr viel Segen und Hilfe, sodaß die materiellen Nöte zu schwinden schienen. Aber um so größer waren die Nöte und Gefahren, die auf meiner Seele lagen, und oft stieg ich an der Stelle, wo ich, wie ich vermutete, an jenem Morgen bewußtlos gelegen hatte, vom Pferde – die Stelle lag an einem schattigen Bachufer mitten im Walde verborgen – , um Gott um Hilfe anzuschreien. Es waren im ganzen zwölf Inspektoren, ältere und jüngere, die alle der Leitung und Aufsicht bedurften. Dazu fühlte ich aber keineswegs die Kraft in mir. Sonntagmorgens ging man wohl nach alter Ordnung in die Kirche, aber den ganzen Sonntagnachmittag pflegten wir auf der Kegelbahn zuzubringen, und an viel Leichtsinn und Verirrungen mancherlei Art fehlte es unter uns nicht.
Doch wir jungen Leute fanden in unsern geistlichen Nöten einen besonders treuen Freund. Das war der Posthalter von Gramenz, ein früherer Wirtschaftsinspektor, der aber, weil er leidend war, diesen leichteren Posten übernommen hatte. Er hieß Otto Mellin. Oft wenn jemand einen Brief holte oder brachte, hörte er gleichzeitig dessen verborgenste Klagen mit an und teilte Freud und Leid mit jedermann. In besonderen Fällen aber, und wenn Zeit und Stunde es erlaubten, nahm er den Betreffenden mit in sein kleines freundliches Stübchen, das hinter dem Postbüro lag. Dort schlug er in der Bibel die Stelle auf, die ihm für die besondere Not die rechte Arznei zu liefern schien.
Unverhofft merkten wir, der eine wie der andere unter uns jungen Leuten – denn laut wurden diese Sachen nicht verhandelt – , daß man in Otto Mellin einen Freund gefunden und an derselben Quelle Hilfe und Trost geschöpft hatte. Unser lieber Pastor Diekmann, der kräftig und treu sein Amt verwaltete, war persönlich zu heftig, sodaß man sich nicht zu ihm traute. So bot der liebe Mellin, der in unsern schalkhaften Freundeskreisen immer „Seine Majestät die Post” hieß, einen Ersatz für das, was wir bei unserm Pastor an Seelsorge nicht fanden.
Durch Freund Mellin machte ich in einer Hütte, die zu Gramenz gehörte, die Bekanntschaft eines armen Kranken, die für mich von besonderem Wert wurde. Der Besuch in dieser Hütte war um so bedeutsamer für mich, als er in großem Gegensatz stand zu einer früheren Erfahrung. Der alte Herr von Senfft hatte mir einmal im ersten Jahre eine Rolle mit 100 Talern geschenkt mit dem Auftrag, sie zum Besten der Armen zu verwenden, und zwar in den beiden Vorwerken, die mir zuerst anvertraut waren. Besonders in einem dieser Vorwerke herrschte noch in ungezügelter Grausamkeit der Branntwein. Von dieser Macht des Branntweins hatte ich gleich in einer der ersten Katen, in die mich meine Armenbesuche führten, einen besonders erschreckenden Eindruck. Bei den alten pommerschen Katen waren die vier Pfosten der Hütte ohne jede Schwelle einfach auf vier Steine gesetzt. Je mehr nun diese Pfosten an ihrem unteren Ende faulten, desto tiefer sank die Hütte zur Erde herunter. Solange der Branntwein in solch schornsteinlosen Hütten nicht das Regiment führte, ließ sich ganz glücklich darin leben. Ja, es hatte früher einen langjährigen Krieg der Bewohner dieser alten Hütten gegen die modernen Schornsteinhäuser gegeben.
Aber in der obenerwähnten Hütte, in die ich nur mit gebücktem Kopf hatte eintreten können, herrschte der Branntwein. Der Mann soff, solange er etwas hatte, die Frau auch, und selbst ihren Kindern gaben sie zur Betäubung des Hungers von dem unseligen Naß. Als ich nun durch die niedrige Tür in den einzigen Raum, den der Katen enthielt, hineingekrochen war, sah ich auf dem Strohlager an der Erde eine Leiche liegen. Es war die Leiche der Mutter des Hauses. Während ich noch, entsetzt von dem Anblick der Not und des Grauens, dastand, bewegte sich die Decke, und ein schmutziger Kinderkopf und bald noch einer guckten unter der Decke hervor, verkrochen sich aber bald wieder, denn es war bitter kalt. Draußen lag Schnee und drinnen brannte kein Feuer.
Bei dieser armen Familie versuchte ich zuerst mein Heil mit meinen 100 Talern, wurde aber gründlich zuschanden. Denn der Roggen, den ich ihnen schenkte, und die Kleider, die ich für die armen zerlumpten Kinder kaufte, wurden, soweit es möglich war, wieder in Branntwein verwandelt. Ähnlich ging es mir bei andern Familien. Meine 100 Taler waren im Umsehen ausgegeben; aber ausgerichtet hatte ich nichts. Und diese Lehre war mir nicht zum Schaden, denn ich lernte, daß mit bloß menschlichen Künsten der Gutmütigkeit gegen menschliches Elend und gegen Sünde, von der das Elend stammt, nichts auszurichten ist.
Wie ganz anders sah es aber in der Hütte aus, in die mich mein Freund Mellin führte! Auch in ihr wohnte große Armut und Krankheit und Elend dazu. Aber statt des Branntweins hatte hier der Friede Gottes das Regiment! Seit 28 Jahren, fast von seiner Jugend an, lag hier auf verhältnismäßig sauberem Lager ein Lazarus: „der kranke Fritz”, so hieß er im Dorf. Aber er besaß, was mehr war als die Schätze Ägyptens: er wußte, was er an Jesus Christus hatte, nämlich die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und das machte ihn reich und glücklich. Der Vergleich mit den armen Branntweinsäufern, die mit keinem Mittel menschlicher Weisheit aus ihrem Elend gerissen werden konnten, zugleich mit der Erinnerung an meine vergeblich ausgegebenen 100 Taler – und dem gegenüber der kranke Fritz mit seinem reichen Besitz der unvergänglichen köstlichen Perle machten einen tiefen Eindruck auf mich. Der kranke Fritz wurde von da ab im Verborgenen mein Freund. Gott allein weiß es, und die Ewigkeit wird es klarmachen, was ich ihm verdanke!
Mitten in diese für mich so bewegte Arbeits- und Kampfeszeit fiel ein Ereignis besonderer Art. Ich war eines Abends im Monat Mai 1854 nach Buchwald hinübergeritten, wo mir ja immer der Eintritt in das liebe Glasenapsche Familienleben offen stand. Da wurde ein Brief durch einen besonderen Boten von Gramenz hinter mir her geschickt. Er war von der Hand meiner lieben Mutter und begann: „Ehe Du diesen Brief liest, mein lieber Sohn, bitte Gott, daß es Dir zum Segen werde, was ich Dir mitteilen muß.” Und nun kam die Nachricht von dem seligen Heimgang meines Vaters.
Der Vater hatte sich schon mehrere Jahre zuvor wieder eine Arbeit vom König ausgebeten. Und zwar hatte er gewünscht, daß ihm wieder ein Landratsamt zugewiesen werden möchte. Er trachtete nicht nach hohen Dingen, und solch ein geringer Posten wäre ihm in der Tat das liebste gewesen. Statt dessen hatte ihn der König im Jahre 1852 zum Regierungspräsidenten in Arnsberg ernannt anstelle des jüngeren Bruders meines Vaters, der das Finanzministerium in Berlin übernahm. Auch dieser Posten war ihm recht, und er hat ihn mit größter Freudigkeit und Treue die zwei letzten Jahre seines Lebens verwaltet.
Etwa ein Jahr vor der mir ganz überraschend gekommenen Todesnachricht hatte mich schon einmal ein Brief der Mutter plötzlich den weiten Weg von Gramenz nach Westfalen machen lassen. Die Mutter schrieb, daß der Vater tödlich erkrankt sei und die Ärzte wenig Aussicht für sein Leben ließen. Als ich nach Berlin zu meinen Verwandten kam, war die dort eingetroffene Nachricht noch hoffnungsloser, sodaß ich nichts anderes mehr erwarten konnte, als des Vaters Antlitz hienieden nicht mehr zu sehen.
Ich kam von Soest mit der Post abends zehn Uhr in Arnsberg an, wo das elterliche Haus dicht bei der katholischen Kirche an einem freien Abhang gelegen war. Der Mond stand hell am Himmel. Ich traute mich zunächst nicht in das Haus hinein, sondern ging von allen Seiten herum, um an den etwa vorhandenen Lichtern zu erkennen, was ich darin wohl vorfinden würde. Noch stand ich einen Augenblick an das Geländer des Abhangs gelehnt, als plötzlich die Haustür aufging und ein Mann heraustrat. Es war der Doktor. Ich lief ihm nach und faßte ihn beim Arm. „Gehen Sie nur getrost hinein,” sagte er, „seit heute mittag ist die Krisis zum Leben eingetreten.”
Drinnen fand ich außer der Mutter und den beiden Schwestern auch meine beiden Brüder, die bereits vor mir eingetroffen waren, Franz von seiner Oberförsterei, Ernst, der den Soldatenstand erwählt hatte, von seiner Garnison in Frankfurt a. M. Ich war der weiteste und letzte. Am Morgen nach meiner Ankunft hörte ich, an der Tür stehend, den Vater zur Mutter sagen: „Frau, was machst du für ein Gesicht! Ich glaube, der Friedrich ist auch da.” So mußte ich denn hinein. Dann haben wir miteinander, wie schon so oft, die selige Zeit der Wiedergenesung des Vaters mit innigster Dankbarkeit und Freude gefeiert. Denn sobald die Krisis eingetreten war, ging es bei der kräftigen Natur des Vaters meist schnell wieder mit ihm aufwärts. Es war dies das letzte Zusammensein, das ich auf Erden mit dem teuren Vater hatte. Noch einmal kosteten wir alle mit vollen Zügen das friedsame Glück unseres Familienlebens.
Bei Gelegenheit dieser seiner Erkrankung hatte Vater vor der Feier des heiligen Abendmahls einmal gesagt: „Herr, wenn du siehst, daß es mir und den Meinen heilsam ist, daß ich noch bleibe, so will ich wohl bleiben; wenn du aber siehst, daß ich von dir abkommen sollte, so nimm mich nur gleich dahin!” Dem Pastor Bertelsmann aber sagte er damals: „Ein armer bußfertiger Sünder stirbt allezeit in Frieden.” Von dieser Zeit ab äußerte er öfter das Verlangen, daß ihm Gott doch ein langes untätiges Alter ersparen möchte und, wenn er nicht mehr arbeiten könne, mit ihm eilen möchte aus der Zeit in die Ewigkeit.
Besonders schwer lag meinem Vater meine Zukunft auf der Seele. Weil er arm war und mir kein eigenes Gut kaufen konnte, mich auch die Bewirtschaftung unseres kleinen Familienbesitzes Velmede nicht hätte befriedigen können, so hatte ich meinem Vater öfter erklärt, daß ich gern mein Leben lang als Verwalter fremder Güter arbeiten wolle. In der Tat erscheint mir das noch jetzt viel leichter, als selbst Besitzer zu sein, wenigstens unter den Verhältnissen, in denen sich die meisten Besitzer der östlichen Provinzen befinden. (1884 geschrieben.) Einmal ist es die Last der Sorge, die einen großen Teil von ihnen drückt, da sie mit Schulden beladen sind. Aber noch mehr sind die Umstände qualvoll, daß sie sich immer in den Gewinn der Ernte gewissermaßen mit den Tagelöhnern zu teilen haben und dabei der beständige Kampf nicht aufhört, wieviel sie diesen geben, wieviel sie selbst behalten sollen. Für einen Verwalter fremden Gutes, der keinen eigenen Gewinn für sich daraus zu ziehen hat, ist dagegen die Lage unvergleichlich leichter, und die Sorgen sind so viel geringer.
Gleichwohl war dieser Gedanke meinem Vater schwer; und er hatte den Wunsch, da meine Gesundheit sich inzwischen wieder vollkommen gekräftigt hatte, daß ich noch einmal eine Universität beziehen möchte. Was ich aber nach seiner Meinung studieren solle, sagte er nicht. Bloß wenn vom juristischen Studium die Rede war, sagte er: „Junge, das ist für dich zu trocken, das hältst du nicht aus.” – So blieb diese Frage offen. Ich reiste von Arnsberg nach Pommern zurück, um zunächst meine dortige Arbeit fortzusetzen, in der ich dann, ein Jahr später, durch die Nachricht von dem Tode meines Vaters überrascht wurde.
Durch eine Hungersnot, die infolge einer Mißernte im südlichen Teil des Regierungsbezirks Arnsberg herrschte, hatte Vater im Frühling 1854 eine ihn besonders bedrückende Last auf sich liegen. Er liebte es nicht, solche Nöte vom grünen Tisch aus zu bekämpfen, sondern hatte sich persönlich nach dem armen Wittgensteiner Land aufgemacht. Er hatte zu Fuß die armen Ortschaften durchwandert und war selbst in die Hütten eingetreten, an deren Tür der Hunger klopfte, um nach eigenem Augenschein desto leichter und gründlicher Abhilfe schaffen zu können.
Eines Nachmittags wurde er von einem Regenschauer überrascht, sodaß er durchnäßt in dem kleinen Städtchen Medebach anlangte. Dort war es, wo ihm Gott seine Sterbestunde bescherte. So wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mitten aus seiner frischen, fröhlichen Arbeit herausgerufen. Die Mutter konnte auf die Nachricht von seiner Erkrankung noch zu ihm eilen und einige Tage das ihr allezeit köstliche Glück genießen, ihn selbst pflegen zu dürfen und mit ihm stille, selige Stunden zu feiern. Sie war diesmal voller Hoffnung, daß es wieder zum Leben gehen würde. Dann aber war plötzlich Lungenschlag eingetreten, der beiden nur eben so viel Zeit ließ, voneinander Abschied zu nehmen, ohne daß zu einem langen schmerzlichen Scheiden Zeit geblieben wäre.
Als beide Schwestern, Frieda und Sophie, die zuerst die Trauernachricht erreichte, in das Zimmer traten, wo die Mutter neben der Leiche des Vaters saß, da sahen sie zu ihrem Erstaunen nicht ein von Schmerz zerrissenes, sondern von Dank verklärtes Antlitz, ebenso voll Frieden als das verblichene Antlitz des Vaters selbst. „Aber du weinst ja nicht?” fragt eine der Schwestern. „Wie sollte ich weinen,” war ihre Antwort, „da Gott ihn mir 28 Jahre lang gelassen hat und wir so unbeschreiblich glücklich zusammen gewesen sind!” Es war freilich noch etwas Größeres, das ihre Tränen stillte und ihre Traurigkeit in Freude verwandelte: Sie wußte, daß sie nicht in Ewigkeit geschieden waren, sondern vielmehr im Vaterhause ewig verbunden sein sollten.
Ich mußte manches entbehren von dem Segen, der meinen Geschwistern in diesen Tagen geschenkt wurde. Der Brief meiner Mutter nach Gramenz hatte nahezu drei Tage gebraucht, und wiewohl ich mich auf der Stelle aufmachte und Tag und Nacht reiste, so fand ich doch nur das bereits mit Erde zugedeckte Grab meines Vaters. Und doch waren es Tage unerwartet reichen Segens und Friedens, die uns um das Grab versammelten Geschwistern zuteil wurden, als wir noch einige Tage bei der Mutter blieben. Bei unserer lieben Mutter war es immer so, daß gerade während der Zeit des ersten und tiefsten Schmerzes der Glaube in ihr sich am sieghaftesten bewies und die Freude über die Tröstungen Gottes viel größer war als der Schmerz. Besonders groß aber war ihre Freude, als sie während unseres Beisammenseins merkte, daß wir fünf Geschwister alle uns mit ihr auf demselben Wege befanden und ihren Glauben und ihre Hoffnung teilen konnten.
Jedes von uns Geschwistern hatte in jener Zeit in großer Versuchung und Gefahr gestanden oder doch in ernster und schwerer Entscheidung seines Lebens. Noch vor dem Tode des Vaters hatte sich meine Schwester Sophie mit dem Landrat Julius von Oven, mein Bruder Franz mit Clara von Hymmen verlobt. Mein jüngster Bruder Ernst stand bei den Jägern in Frankfurt a. M. Wir Geschwister waren nie gewohnt gewesen, uns über alles auszusprechen, was den tiefsten Herzensgrund bewegte. Aber diesmal öffnete uns die ernste große Stunde den Mund. Mehr wie jemals sonst konnten wir einander ins Herz sehen lassen. Es war uns allen zu Mute, als wenn der Vater, den doch keiner von uns vor seinem Sterben gesehen hatte, noch vorher jedem seine Hände aufs Haupt gelegt und jedem einen ganz besonderen Segen mitgegeben hätte, und wir konnten uns vorstellen, daß er das, was er leiblicherweise zu tun nicht mehr vermocht hatte, doch im Geiste getan hatte und daß er jetzt im ewigen Vaterhause unser aller segnend und liebend gedenke.
Acht Tage dauerte dies unser köstliches Beisammensein. Dann mußte ich in meine große schwere Arbeit zurück. Während der Reise war es nicht eigentlich meine Sorge, wie ich die noch übrigen fünf Monate bis zur Rückkehr meines Freundes Ernst die Verwaltung des großen Gutes leiten sollte, sondern ein anderes bedrückte mich. Mehr wie je vorher hatte ich ein Verlangen nach einer stillen Stunde der Einkehr, zu der während der Arbeitslast der Woche keine Zeit war. Am Sonntag hätte es ja sein können. Aber es war ja unsere Gewohnheit, daß wir jungen Leute den ganzen Sonntagnachmittag auf der schönen Kegelbahn zubrachten, die auf der Insel im Garten recht traulich angelegt war. Und wer wollte uns jungen Leuten diesen Zeitvertreib verargen? Trotzdem hätte ich mich gar zu gern hiervon freigemacht, um den Sonntagnachmittag still für mich allein zu haben. So bat ich Gott, er möge mir einen Weg zeigen, wie ich davon loskäme, ohne eine Unwahrheit zu sagen und ohne mehr von mir zu verlangen, als ich damals öffentlich zu bekennen die Kraft hatte.
Da sah ich es denn als eine Erhörung meines Gebetes an, was mir gleich bei meiner Ankunft in Gramenz widerfuhr. Mein Pferd, der Soliman, ein ausgezeichnetes, ausdauerndes Roß, war während der langen Ruhezeit übermütig geworden. In dem Augenblick, wo ich mich zum erstenmal wieder in seinen Sattel schwang, stieg das Tier steil in die Höhe und überschlug sich rückwärts, sodaß ich unter das Pferd auf das Steinpflaster des Hofes zu liegen kam. Ich hatte weiter keinen Schaden genommen, als daß mein rechter Ellbogen kräftig blutete und der Knochen etwas verletzt war. Aber ich mußte doch meinen Arm mehrere Wochen lang in der Binde tragen; und während der Gramenzer Zeit erstarkte er überhaupt nicht wieder so weit, daß ich eine Kegelkugel damit hätte schieben können. So hatte ich den mir erbetenen stillen Sonntagnachmittag.
Gott schenkt uns mitunter Zeiten in unserer Pilgerschaft, wo wir nicht im dunklen Glauben, sondern im seligen Schauen seiner Gnadenwege einhergehen können und wo jeder Tag uns ein neuer Beweis seiner Barmherzigkeit und Treue ist. Solch eine Zeit brach jetzt für mich an. Ich benutzte sogleich meinen ersten Sonntag, um mich, während die andern Kegel schoben, still in Gottes Wort zu vertiefen, das mir seit meiner frühsten Kindheit ja genug gepredigt worden, mir aber nicht wieder recht persönlich nahegetreten war. Ich stand auch wochentags eine Viertelstunde früher als sonst auf, um unter den alten Linden im Garten auf- und abzuwandeln und dort ungestört meine Morgenandacht zu halten. Jedes Wort der Schrift – ich pflegte jedesmal ein Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen – sah ich nun mit ganz andern Augen an als je zuvor.
Dazu kam noch ein Erlebnis eigener Art. Ich hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit, den Kindern, die mir beim Reinigen der großen Zuckerrübenfelder halfen, außer ihrem Lohn einen der kleinen Traktate zu geben, die entweder aus Stuttgart oder Straßburg oder auch aus Basel stammten und die ich von dem Kolporteur bezog, den der alte Herr von Senfft angestellt hatte. Viele Tausende dieser Traktate hatte ich schon verteilt, doch selbst gelesen hatte ich noch keinen.
Eines Sonntagnachmittags aber, als die andern wieder am Kegelschieben waren, fiel mein Blick auf einen dieser kleinen Kindertraktate. Er hieß: „Tschin, der arme Chinesenknabe”, und kam aus Basel. Er erzählte von einem armen Chinesenkinde, das englische Soldaten während des bekannten Opiumkrieges der Engländer gegen China in Schutz genommen hatten, nachdem des Kindes Vater, weil er den Engländern Dienste geleistet hatte, von den Chinesen ergriffen und hingerichtet worden war. Um das arme Waisenkind zu retten, brachten es die Soldaten mit nach England. Hier nahmen sich christliche Freunde des armen Knaben an, er wurde treulich unterrichtet, kam zum kindlichen Glauben und wurde getauft. Dann aber erkrankte er, wie so viele Kinder des Südens, die in unser kaltes Land kommen, an der Lunge und siechte langsam dahin. Er hatte aber beständig nur ein Verlangen, nämlich daß er seinen Landsleuten auch von dem Heiland sagen könnte, den er selbst gefunden hatte, und er sprach es einmal mit großem, heiligem Ernst aus: „Was soll ich einmal am Tage des Gerichts sagen, wenn meine Brüder mich fragen würden, warum ich, obwohl ich den Weg des Heils gewußt, ihnen solches nicht mitgeteilt hätte?”
In dem Augenblick, wo ich diese einfachen Worte las, war es plötzlich, als ob mir in bezug auf meinen Lebensberuf die Schuppen von den Augen fielen. Ich hatte bis dahin niemals auch nur einen leisen Gedanken in meinem Herzen gehabt, noch hatten es weder Vater noch Mutter noch irgend ein anderer Mensch mir je von fern nahegelegt, daß ich Pastor werden möchte. In diesem Augenblick aber wurde es mir so vollständig gewiß, daß mir Gott diesen Beruf geschenkt habe, daß auch kein leiser Zweifel von der Stunde an über mich kam, und ich konnte Gott mit Freudentränen dafür danken.
Doch teilte ich zunächst keinem Menschen etwas von meiner Freude mit, auch nicht meiner Mutter, auch nicht meinem Freunde Mellin, sondern nahm mir vor, mir von Gott selbst weitere Fingerzeige geben zu lassen. Daran fehlte es dann auch nicht. Im Anschluß an jenes Büchlein hatten sich meine Gedanken zunächst auf die Arbeit unter den Heiden gerichtet. Dahin ging meine Sehnsucht.
Inzwischen war die Erntezeit hereingebrochen. Es war eine gewaltige Ernte, die in den fünf großen Gütern einzubringen war. Es trat anhaltende Hitze ein. Das Korn reifte schnell und gleichzeitig, sodaß es auch möglichst schnell hintereinander geerntet werden mußte. Es wurde mir sehr bange, wo ich die Arbeiter für die Ernte herbekommen sollte, damit sie nicht verdürbe.
Eines Tages hatte ich mich schon mit Tagesanbruch auf mein Pferd gesetzt, um in einem Nachbardorf Arbeiter für meine Ernte zu werben. Als ich damit fertig war, ritt ich hinüber nach dem kleinen Städtchen Bublitz, wo, wie ich wußte, eben ein Missionsfest gefeiert wurde. Die Feier neigte sich schon ihrem Ende zu. Ich band mein Pferd draußen an und trat, um doch noch einiges zu hören, in die Kirche ein. Ich merkte gleich, daß der Pastor den Text hatte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!” Herzandringend schilderte er die Not hinsiechender, sterbender, verderbender Menschenseelen und des Herrn Jammer über sie, und zuletzt fragte er mit großem Ernst, ob denn unter der ganzen Gemeinde, unter allen, die im Gehorsam gegen den Befehl Christi um Arbeiter in seine Ernte bäten, nicht auch ein solcher wäre, der sich selbst für diesen Dienst stellen wollte. Da hieß es laut in mir: „Ja, ja, ich will gern kommen.” Fröhlich, ja, frohlockend jagte ich heimwärts, um zunächst die irdische Erntearbeit in Gang zu bringen.
In fliegender Eile gingen nun die letzten Monate meiner Gramenzer Zeit zu Ende. Mein Freund Ernst Senfft kam, um mich abzulösen. Die äußeren Verhältnisse hatten sich auch weiterhin entschieden gebessert. So konnte ich, da auch einige tüchtige Wirtschaftsinspektoren gefunden waren, meinem Freunde die Aufgabe getrost in die Hand legen. Am 11. Oktober nachts schnürte ich mein Bündel. Das Andachtsbuch meiner Eltern, der liebe Bogatzky, war inzwischen auch mein Freund geworden, und es war mir eine nicht geringe Stärkung meines Glaubens, was mir Bogatzky an diesem Abend mit auf den Weg gab, Apostelgeschichte 26, 17: „Ich will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende.”