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I
1831–1872
Im Amt

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Paris. 1858–1864

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, hatte Paris unter seinen Einwohnern etwa 80–100 000 Deutsche. Scherzweise wurde Paris die dritte deutsche Großstadt genannt, denn nächst Berlin und Hamburg waren in keinem Ort der Welt so viele Deutsche versammelt. Künstler, Studierende, Handwerker, Kellner und Dienstmädchen bildeten den einen Teil dieser Einwanderer. Der andere, größere Teil aber bestand aus ganz armen Leuten. Ihre Mittel hatten nicht gereicht, um nach Amerika auszuwandern. So waren sie nach Paris gegangen, um dort Arbeit und Verdienst zu finden. Jeder deutsche Stamm war unter ihnen vertreten. Vor allem waren es Bayern, Elsässer und Hessen.

Sie lebten durch ganz Paris zerstreut. Zu 10, 20 und 30 Familien hausten sie in einer Gasse beisammen. In den Steinbrüchen, auf den Holzplätzen und in den Fabriken in und um Paris fanden sie ihre Arbeit. Wer keine Arbeit hatte, mischte sich unter die französischen Lumpensammler, die mit der Kiepe auf dem Rücken, die Laterne in der linken und den Haken in der rechten Hand, nachts die Müll- und Kehrichthaufen durchsuchten, die damals die Pariser Haushaltungen, sobald es dunkel wurde, einfach auf die Straße zu schütten pflegten. Von den erwachsenen Einwanderern lernten die wenigsten französisch. Nur die notwendigsten Worte, soweit sie zur Arbeit und zum Einkauf des täglichen Unterhalts nötig waren, eignete man sich an. Aber auch dann blieb die Aussprache deutsch: Boulevard hieß Bullerwagen, Champs Élysées Schandliese, rue de Sèvres rote Seif’ u. s. f. Mit den Kindern aber war es umgekehrt. Beim Spiel und in der Schule lernten sie schnell das Französische und vergaßen die deutsche Muttersprache. So kam es, daß viele Eltern sich nur noch notdürftig mit ihren Kindern verständigen konnten. Darunter litt die Erziehung natürlich aufs schwerste; und die heranwachsenden Kinder versanken oft erschreckend schnell in dem Sumpf der Großstadt.

Das Rückgrat unter den Deutschen in Paris bildeten die Einwanderer aus Hessen-Darmstadt. Früher waren die Hessen vielfach in den Osten gewandert, um in den polnischen Seen den Blutegelfang zu betreiben, wie Glaubrecht es so anschaulich in seiner Volkserzählung „Anna, die Blutegelhändlerin” beschreibt. Dann hatte sich der Strom nach Paris gewandt. Hier waren sie Gassenkehrer geworden. Die Straßenreinigung von Paris war allmählich fast ganz in ihre Hand übergegangen. Um vier Uhr morgens begann die Arbeit, ohne Unterschied von Sommer oder Winter, Sonntag oder Werktag; Männer, Frauen und Kinder arbeiteten zusammen unter der Aufsicht von französischen Unternehmern. Um neun Uhr hörten die Kinder auf, um zwölf Uhr die Frauen und am Nachmittag die Männer.

Der Verdienst war gering, aber regelmäßig. War die Familie sparsam, so konnte nach fünf, acht oder zehn Jahren so viel zurückgelegt sein, daß nicht nur die in Deutschland zurückgelassenen Schulden bezahlt, sondern auch die Grundlagen zu einem Neuanfang in der Heimat gewonnen waren. Denn der Sinn dieser Gassenkehrer war darauf gerichtet, in die Heimat zurückzukehren. Ihr Beruf schloß sie von dem Verkehr mit den Franzosen ab und verband sie untereinander. So blieb das Heimatgefühl bei ihnen wacher als bei den übrigen deutschen Landsleuten. Darum lag ihnen auch daran, für ihre Kinder deutschen Unterricht zu bekommen, damit sie bei der Rückkehr in die Heimat die deutsche Schule und den kirchlichen Unterricht mit Erfolg besuchen könnten.

Die geistliche Versorgung dieser deutschen Einwanderer, soweit sie evangelisch waren, lag in der Hand der kleinen Kirche Augsburgischer Konfession. Ihre Anfänge führten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück, wo zahlreiche Deutsche und auch manche Schweden in Paris Zuflucht gesucht hatten. Auch während der schlimmsten Verfolgungen hatte diese kleine Gemeinde ausländischer Lutheraner ihre Gottesdienste halten können. So kam es, daß sich ihr auch Franzosen anschlossen und daß in der Zusammensetzung der Gemeinde allmählich die französischen und elsässischen Elemente überwogen.

Napoleon hatte die Gemeinde anerkannt und ihr eine katholische Kirche für ihre Gottesdienste überwiesen, der später durch die französische Regierung eine zweite hinzugefügt wurde. Um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, stand Pfarrer Louis Meyer an der Spitze dieser kleinen Kirchengemeinschaft, die zusammen mit den übrigen lutherischen Gemeinden in Frankreich und dem Elsaß sich „die Kirche Augsburgischer Konfession” nannte.

Louis Meyer stammte aus Mömpelgard, einer alten württembergischen Kolonie in der Nähe von Belfort. Durch den großen Pariser Prediger Adolf Monod, in dessen Hause er eine Zeitlang lebte, war er der theologischen Freigeisterei entrissen worden. Mit Klarheit und Tiefe hatte er das Evangelium ergriffen, und mit deutscher Gründlichkeit und französischer Glut diente er seiner Gemeinde und seiner Kirche auf und unter der Kanzel. Die große Verwahrlosung der deutschen Einwanderer war ihm auf das Gewissen gefallen. So war ein besonderer kleiner Missionsverein entstanden, der in engem Anschluß an die Kirche Augsburgischer Konfession den Deutschen in Paris dienen sollte. Einen jungen deutschen Kandidaten, namens Beyer, der sich nur besuchsweise in Paris aufgehalten hatte, holte Meyer aus dem Zuge, den er schon zur Heimreise nach Deutschland bestiegen hatte, wieder heraus und gewann ihn zum ersten deutschen Missionar an seinen Landsleuten. Ihm folgten andere deutsche Kandidaten und Hilfsprediger, die meist von Meyer persönlich gewonnen wurden. Zu ihnen gehörte nun auch der Kandidat von Bodelschwingh.

Napoleon hatte damals durch ganz Paris breite Straßenzüge, die sogenannten Boulevards, brechen lassen. Dadurch hatten viele Deutsche ihre Wohnungen im Süden der Stadt verloren und waren in den Norden gezogen. Diese Leute, die auf ein Revier von drei Stunden Länge und einer halben Stunde Breite zerstreut wohnten, sollte Bodelschwingh sammeln. Einige Wochen blieb er in der gastlichen Familie Pfarrer Meyers, um sich nach allen Seiten in Paris umzusehen, dann nahm er das ihm zugewiesene Arbeitsfeld in Angriff. Auf dem Montmartre mietete er sich in einem großen kasernenartigen Gebäude, dem Château des Brouillards („Nebelschloß”), zwei Zimmer, schaffte das geringe Mobiliar, das einem seiner Vorgänger gedient hatte, hinein und begann von dort seine Streifzüge, um seine Herde zu sammeln.

In einem Bericht an die Freunde der Arbeit in Paris aus dem Jahre 1865 schreibt er: „Es war an einem schönen Frühlingsmorgen des Jahres 1858, wo zwei kleine Mädchen in hessischer Tracht im Alter von etwa sieben und zehn Jahren den steilen Abhang des Montmartre hinaufstiegen und in das Château des Brouillards eintraten. Sie kamen aus einer der Sackgassen, die sich an der Mauer des großen Kirchhofes von Montmartre befanden. Dort hatte ich sie tags zuvor bei meiner ersten Entdeckungsreise auf der Straße an ihrer deutschen Tracht erkannt. Da Vater und Mutter, zu denen sie mich führten, bitterlich klagten, daß ihre Kinder ohne Unterricht aufwüchsen – denn zur nächsten deutschen Missionsschule war es quer durch die Stadt fast anderthalb Stunden Weges – , so hatte ich sie zu mir eingeladen und ihnen für das erste Mal den Weg zu meinem Nebelschloß gezeigt.

Inzwischen hatte ich das größere meiner beiden Zimmer zum Schulzimmer und zugleich zur Hauskapelle eingerichtet. In einer Nische der Wand hatte ich ein kleines Harmonium aufgestellt und darüber den bekannten schönen Holzschnitt von Gaber, Christus am Kreuz, gehängt. So ausgerüstet erwartete ich meine ersten geladenen Gäste. Und richtig, zur bezeichneten Stunde klopfte es an die Tür, und die beiden kleinen Hessinnen traten herein.

Es wird mir für mein ganzes Leben ein unvergeßlicher Augenblick sein, als ich nun zum erstenmal die zwei kleinen Mädchen die Hände falten ließ und Gott um seinen Segen bat. Es war mir vollauf so feierlich zumute, als sollte ich in einer großen Pfarrkirche vor Tausenden von Zuhörern meine Antrittspredigt halten, da ich nun anhob, den beiden Kindern, unter Hinweisung auf das Bild, von dem Mann mit der Dornenkrone zu erzählen, der um unserer Sünde willen an das Kreuz erhöht ward. Der Eindruck meiner höchst ungeschickten kurzen Erzählung – denn ich hatte gar keine Übung, mit Kindern von den Geheimnissen des Kreuzes zu reden – war namentlich bei dem kleineren der beiden Mädchen so mächtig, daß ich selbst dadurch innerlich ganz ergriffen wurde. Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigsten Mitleides schaute die Kleine aus ihren dunklen Augen bald auf das Bild, bald auf mich, und hin und wieder lief eine große Träne über ihre braunen Wangen.

Es kann lächerlich oder anmaßend vorkommen, daß ich den Leser mit dieser unbedeutenden Geschichte hinhalte. Aber mir war wirklich nicht lächerlich zumute. Es ist ja doch etwas überaus Ernstes und Großes um die Predigt vom Kreuz des Herrn. Und es ist doppelt und dreifach groß und ernst für einen jungen Menschen, der zum erstenmal, und das in Paris, mit dieser Predigt auftreten soll. Wie war mir doch so bange zumute gewesen, als einige Wochen vorher der Zug spät abends auf dem Nordbahnhofe hielt und der Schaffner sein für den neuen Ankömmling wirklich unheimliches „Paris” in den Wagen hineinrief! Während der Fiaker mit mir die lange Reise quer durch die Stadt bis zum Hause meines väterlichen Freundes, Pfarrer Meyer, machte, mußte ich schließlich die Augen fest zudrücken, so sehr ängsteten mich die breiten Lichtstreifen der verschiedenen Boulevards mit ihrer bunten, wogenden, in die tiefe Nacht hineintaumelnden Volksmenge. „Hier sollst du armen Menschen von dem Kreuze Christi predigen!” so dachte ich; „wie wird’s dir gehen?”

Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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