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I
1831–1872
Die Ausbildung
Als Student

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1. In Basel. 1854–56

Die kleine Schrift, die die große Entscheidung für Bodelschwingh gebracht hatte, war aus Basel gekommen. Als es sich nun für den Beginn seiner theologischen Studien um die Wahl einer Universität handelte, fühlte er sein ganzes Herz nach Basel gerichtet. Da er aber nicht lediglich einem Gefühl folgen wollte, so fragte er in Berlin seinen alten Seelsorger Snethlage um Rat. „Gehen Sie nach Basel!” sagte dieser, schickte ihn aber zu seinem Kollegen, dem Domprediger Hoffmann, der bis vor kurzem Missionsinspektor in Basel gewesen war, um auch dessen Meinung einzuholen. Auch Hoffmann sagte: „Gehen Sie nach Basel!” Und so sah er seinen Weg entschieden.

Er eilte zur Mutter. Sie stimmte der Wendung, die sein Lebensweg genommen hatte, aus tiefstem Herzen zu und sah darin die Erfüllung ihres verborgenen Herzenswunsches. Zugleich entdeckte sie ihrem Sohn, daß auch sein Vater, ohne es je seinem Kinde auszusprechen, die Hoffnung gehegt habe, daß einer seiner Söhne einmal das Studium der Theologie ergreifen möchte. Nur Ernst von Senfft war aufs tiefste erschüttert. Er hatte die geniale Begabung seines Freundes für das Praktische zur Genüge erkannt, und nun beschwor er ihn, bei dem alten Berufe zu bleiben. Er war überzeugt, daß der Entschluß seines Freundes nichts als das Aufwallen einer religiösen Stimmung sei, die ihn nur auf Abwege bringen könne.

Aber die Stimme des Freundes konnte nichts mehr ausrichten. Wichtiger als seine eigene Entscheidung war ihm die Gewißheit, daß Gott über ihn entschieden hatte. Und wenn es auch Jahre dauerte, so erlebte er es doch schließlich bei seinem Freunde Senfft, daß, wenn jemandes Wege Gott gefallen, er nicht nur seine Feinde, sondern erst recht seine Freunde mit ihm zufrieden macht.

So machte sich der im 24. Jahre stehende Student über Frankfurt a. M., wo sein Bruder Ernst stand, nach Basel auf.

„Der Aufenthalt bei meinem Bruder Ernst”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „brachte mir eine besondere Erquickung. Ich war ja so ganz mit ihm aufgewachsen, so viele Jahre lang hatten wir ein Wohn- und Schlafzimmer geteilt, so viele Wege hatten wir miteinander zur Schule gemacht. Aber nun erst konnten wir unsere Herzen ganz gegeneinander aufschließen. Ernst war von einem unbeschreiblich kindlichen Zutrauen zu mir. Wir gingen in der Nacht am Ufer des Mains auf und ab, und er erzählte mir von den schweren Kämpfen, die er habe, um seinem Versprechen nicht untreu zu werden, das er zusammen mit seinem Freunde von Oidtmann Gott gegeben hatte, daß sie in ihrem Soldatenleben nichts tun wollten, was ihr Gewissen befleckte. Er bat mich brüderlich und herzlich, ihn in diesem schweren Glaubenskampf zu unterstützen und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Er sagte mir auch, daß es ihm von ganz besonderem Segen sei, den lieben Vater, der an ihm, seinem Benjamin, wie er ihn zu nennen pflegte, mehr noch als an seinen andern Kindern gehangen hatte, im Himmel zu wissen; denn er könne sich vorstellen, daß der Vater erfahre, wie er, sein Sohn, auf Erden wandele. Und dies sei ihm eine Stärkung im guten Kampf. Auch bat er mich, ihm von Basel gute Schriften zu schicken, um mit ihnen den ihm unterstellten Soldaten zu dienen.

Am andern Tage – es war am 6. November 1854 – langte ich abends spät in Basel an, das mir nun für anderthalb Jahre eine ganz besonders reiche Segensstätte werden sollte. Ich stieg in einem kleinen Gasthof ab, der dicht am Rhein lag. Hier wurde ich gleich freudig überrascht, als ich auf meinem Nachttisch eine Bibel liegen fand, die sich als Eigentum des Wirtshauses herausstellte, und als ich von der alten Magd, die das Zimmer bediente, erfuhr, daß der Wirt in jedes Zimmer eine Bibel lege. Das war mir bis dahin auf meiner Pilgerreise noch nicht vorgekommen.

Ich fand auf dem Petersplatz bei ein paar alten Fräulein ein gar freundliches Zimmer, das ich auch die anderthalb Jahre nicht wieder verlassen habe. Die beiden alten Damen hatten eine württembergische Magd, die auch schon bei Jahren war. Sie hieß Rösli Schwarz. Es war für mich, der ich nach ernster Sammlung und stillem Studium verlangte, eine große Wohltat, durch diese Magd alle Mahlzeiten im Hause bekommen zu können, auch mein Mittagbrot. Ich hatte aber auch außerdem manchen Segen durch diese treue Person. Sie hatte eine Schwester, die an einen Missionar in Afrika verheiratet war, und sie trug die Heidenmission, die ja auch mir so sehr anlag, unablässig auf betendem Herzen. Sie war eine von den Verborgenen und Stillen im Lande, durch die Gott gewiß nicht die kleinsten Taten tut.

So oft eine frohe Nachricht aus den Heidenländern kam, konnte ich es ihr gleich anmerken; denn dann glänzte ihr Angesicht vor Freude. So oft aber auf dem Missionsfelde etwas Schmerzliches vorgefallen war, ging sie gebeugt einher als eine, die selbst an solcher Niederlage mit schuld war, weil sie, wie sie sich selbst anklagte, im Wachen und Beten nachgelassen habe. Es ist selbstverständlich, daß ich bei solchem Herzenszustande an ihr eine mütterliche Pflegerin hatte, und bis auf diese Stunde (1887), wo sie als eine bald 80 jährige Pfründnerin zu Fellbach bei Stuttgart lebt, bekomme ich von ihr alljährlich die rührendsten Gaben und Liebeszeichen. Durch sie wurde ich auch mit manchen Württemberger Zuständen näher bekannt, namentlich mit dem lieben Korntal, wo sie längere Zeit ihres Lebens gewohnt hatte.

Ebenso angenehm wie mein kleines Zimmer und meine häusliche Verpflegung war auch die Umgebung meiner Wohnung. Dicht vor meinem Fenster ragten die schönen hohen Ulmen und Linden des großen Petersplatzes empor. An der linken Seite, von der die Treppe nach der Unterstadt hinabführte, lag die Peterskirche, an der der würdige Pfarrer La Roche stand. Schaute ich rechts zu meinem Fenster hinaus, so begrenzte hier der alte Wall meine Aussicht. Ich brauchte aber nur den Kamm des Walles zu übersteigen, so sah ich auf der andern Seite des Wallgrabens den großen Friedhof der Stadt liegen und darüber hinweg die Vogesen. Wenn ich quer über den Petersplatz ging, so hatte ich von der andern Seite des Platzes aus nur noch ein kurzes Gäßchen zu durchschreiten, dann stand ich an dem schönsten Tor der Stadt, dem alten Spalentor, vor dem jetzt das neue Missionshaus liegt. Damals war jenseits des Tores noch freies Feld. So suchte ich mir dort in der Frühlings- und Herbstzeit jeden Morgen zwischen den grünen Matten die schönsten Wege auf, um in der Stille ein Kapitel in meinem griechischen Neuen Testament zu lesen. Da habe ich unbeschreiblich köstliche Feierstunden zugebracht.

Die alte Universität von Basel lag dicht über dem Rhein, oberhalb der Rheinbrücke. Die Hörsäle blickten fast sämtlich vom steilen Abhang herunter in den lieben Rheinstrom hinein, der in einem prachtvollen Bogen die Stadt durchströmt. Ein wenig oberhalb der Universität liegt das herrliche Münster von Basel, aus rotem Sandstein gebaut, in das ich oft und gern eintrat und in dem ich manche wertvolle Predigt gehört habe.

Es war damals gute Zeit in Basel, so gut, wie sie vorher und nachher Studenten vielleicht kaum erlebt haben. Ein kleiner Kreis frommer Männer hatte seit längerer Zeit aus freiwilligen Mitteln dafür gesorgt, daß immer ein entschieden biblischer Theologe an der Universität angestellt war. Als Nachfolger des trefflichen Beck, der nach Tübingen gegangen war, stand damals Professor Auberlen in seiner vollen Liebesglut. Er war einer von denen, die, wie Woltersdorf und Hofacker, ihre Kraft im Dienste ihres Herrn verzehrten. Denn nur bis in den Anfang seiner dreißiger Jahre hat er seine Pilgerschaft geführt, und man merkte es ihm an, daß er seinen Lehrerberuf nahe vor den Toren Jerusalems trieb. Unangetastet von allen kritischen Grübeleien, ließ er die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende in herzlichster Freude stehen, wie sie stand. Er hatte eine ungemein einfältige biblische Belesenheit, und seine frischen, warmen Vorträge fanden lebendigen Widerhall in den Herzen seiner Zuhörer.

Aber als entschlossener Freund biblischer einfältiger Theologie stand er nicht einsam da. Da war unser lieber Professor Joh. Riggenbach, der vorher während seines neunjährigen Pfarramtes sich auf dem Boden der Praxis aus den Irrgängen des Rationalismus zum fröhlichen Glauben durchgerungen hatte, eine rechte Johannesnatur, nicht streitbar, aber reich an Liebe und Demut. Da war der alte Preiswerk, unser Hebräer, den wir Levi nannten. (Da ich auf dem Gymnasium kein Hebräisch getrieben hatte, so wurde ich ihm zu besonderem Dank verpflichtet, weil er mich fast allein in die hebräische Grammatik einführte.) Er war neben seiner Professur Prediger an St. Leonhard und predigte damals stets über das Alte Testament, kurz und kernig und immer so, daß er zum Schluß mit wenigen Worten von der Weissagung auf die Erfüllung hinwies und aus dem Schatten des Alten Bundes in das Licht und die Helligkeit des Neuen Testamentes eintrat. Da war Hagenbach, der ausgezeichnete Kirchenhistoriker, und schließlich der Lizentiat Stockmeyer, später Antistes der Baseler Kirche, dessen scharfsinniger und gewissenhafter Auslegung paulinischer Briefe ich manches verdanke.

Außerdem war gerade damals ein junger Philosoph Steffensen aus Kiel nach Basel gekommen, fast noch ein Jüngling mit wallendem Haar und ausdrucksvollem, schönem Gesicht. Er war von seinem Beruf durch und durch ergriffen und trug die Geschichte der Philosophie mit einer Glut der Begeisterung vor, daß man aus den verschiedenen Fakultäten in sein Kolleg lief. Dabei hatte er eine prachtvolle Diktion, sprach völlig frei und oft mit solcher Anstrengung, daß er am Schluß ganz erschöpft war. Doch hatte ihn keineswegs seine Philosophie so berückt, daß er sich nicht hätte gefangen geben können unter den Gehorsam des Glaubens. Mit einigen von uns ging er gelegentlich spazieren, wobei wir über dies und jenes Problem disputierten.

Aber wieviel gesunde Speise damals auch die Universität bot, noch lieber war mir das Missionshaus. Auf die Fürsprache von Hoffmann in Berlin, dem früheren Missionsinspektor, war es mir gestattet worden, an dem Unterricht der Missionszöglinge teilzunehmen. Da ging es dann freilich weniger gelehrt, aber doch noch inniger und zutraulicher zu als auf der Universität. Es war besonders der Pfarrer Geß, später Generalsuperintendent in Posen, der uns mit seiner Tiefe und Einfachheit in die Heilige Schrift einführte. Wir lasen das Alte und Neue Testament im Urtext, und zwar so, daß wir nicht nur selbst übersetzten, sondern auch selbst auszulegen versuchten, Geß uns aber verbesserte.

Später nahm ich an den Predigtübungen teil, die Inspektor Josenhans leitete. Aber auch zu allen andern Gelegenheiten stand mir das Missionshaus offen. Besonders lieb waren mir immer die Abschiedsfeiern der ausziehenden Missionare. Ich lernte hier mit steigender Freude die Seligkeit eines Dienstes in der Nachfolge Christi kennen, in der man um seinetwillen Vater und Mutter, Vaterland und Freundschaft verlassen kann und dabei in der Gewißheit eines beständigen Beisammenseins vor seinem Angesicht kurze irdische Scheidestunden nicht zu achten braucht. Wenn ich an solche Feiern und überhaupt namentlich an meine Sonntage im lieben Basel denke, so fällt mir ein, daß ich oft am Abend so voll Freude über alles Erlebte war, daß ich mit Jauchzen und Springen in meine Wohnung eilte und über dem, was Gott schon auf Erden schenkt, manchmal in der Nacht vor Freude nicht schlafen konnte.

Unter denen, die zu dieser meiner Freude beitrugen, steht mir besonders das Angesicht des lieben alten Missionars Graf Zaremba vor Augen. Wir pflegten wohl zu sagen, daß, wenn man ihn ansehe, man unmittelbar in den Himmel hineinsehe. Sodann war es Dr. Ostertag, der Bibelmann, der, schon an seinen Augen erblindend, sich doch noch am Unterricht der Missionszöglinge beteiligte und mit seinen köstlichen Predigten viel dazu beitrug, daß uns die Augen aufgeschlossen wurden für die Herrlichkeiten des Reiches Gottes. Unter den Lehrern am Missionshaus war auch noch ein junger Kandidat Haug, bei dem ich zwar keinen Unterricht hatte, der mich aber oft aufsuchte und mit mir spazieren ging. Einmal an einem Pfingstmorgen sagte er mir: „Heute vor vier Jahren habe ich mein Augenlicht wiederbekommen, und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blumhardt.” Durch Haug wurde ich auf solche Weise zuerst auf Blumhardt aufmerksam.”

Neben den Vorlesungen auf der Universität und im Missionshaus benutzte Bodelschwingh jede Gelegenheit, um mit seinen Lehrern in persönliche Berührung zu kommen. Namentlich auf ihren Spaziergängen begleitete er sie und besprach sich mit ihnen. Auf peinlich nachgeschriebene Kollegienhefte legte er keinen Wert. Dagegen faßte er zu Hause den Ertrag des Hörsaals und der Besprechungen, die er mit seinen Lehrern gehabt hatte, in eigener Bearbeitung zusammen. So begann er schon in Basel die selbständige Ausarbeitung einer Glaubenslehre.

Dazu kam nun ein reiches Freundschaftsleben. „Mit der jüngeren Generation”, schreibt er, „hatte ich damals schon bemoostes Haupt nicht sehr viel Umgang, weil ich niemals den Tabaksdunst der Pfeife vertragen konnte und darum die studentischen Versammlungen gern mied. Doch gab es in der Studentenverbindung „Schwyzer Hüsli” eine Anzahl lieber frischer junger Leute. Sie nahmen mich, wie es in der Studentensprache hieß, als Konkneipant bei sich auf, und mit einigen von ihnen knüpfte ich ein enges Freundschaftsband.

Ganz besonders aber zog mich ein Student an, der nicht diesem Kreise angehörte. Er stand, wie ich, im ersten Semester und hieß Jakob Riggenbach. Er gehörte einer alten Baseler Kaufmannsfamilie an, hatte sich zunächst dem Kaufmannsstande gewidmet und war erst später, ebenso wie ich, zur Theologie übergegangen. Er war eine hohe, Achtung gebietende Gestalt, noch fünf Jahre älter als ich. Heiße Kämpfe des Leibes und der Seele standen in seinem Angesicht geschrieben. Da er in der reformierten Kirche die persönliche Seelsorge vermißte und namentlich den Gebrauch der Löseschlüssel in der Privatbeichte, so hatte er sich eine Zeitlang zur irvingianischen Gemeinde geflüchtet; doch hatte er auch dort nicht gefunden, was er suchte, und sich mit großem Mut wieder von ihr getrennt. Schließlich hatte der Friede Gottes aber die Oberhand bei ihm gewonnen, und sein freundliches, mildes Auge hatte etwas besonders Anziehendes für mich. Er konnte es nicht viel und lange in den Kollegien aushalten, und mir ging es ebenso. Deswegen streiften wir miteinander oft in den nahen Bergen umher, manchmal mehrere Tage ausbleibend, wobei wir auch befreundete Pfarrhäuser in der Landschaft besuchten. Immer führten wir die Schrift mit uns und besprachen sie gegenseitig.

Bei einer solchen Wanderung kehrten wir auch einmal bei einem Pfarrer ein, in dessen Gemeinde viel geistiges Leben war. Der Pfarrer selbst aber hatte einen großen Schmerz, der damals schon anfing, sein Vaterherz zu zerreißen. Er hatte einen 15 jährigen Sohn, der sich auf das entschiedenste gegen den Geist des Elternhauses auflehnte. Da der Sohn die höhere Schule in Basel besuchte, so bat mich sein Vater, ihm doch nachzugehen. Ich wußte, daß der Sohn Wege ging, die ihm sein Vater verboten hatte. Aber ich war auch nicht einverstanden mit dem Vater, daß er dem Sohn mehr verbot, als er halten konnte.

Der Junge hatte einen glühenden Zug zum Theater und verwandte darauf jeden Groschen, den er erübrigen konnte. Sein Vater aber hatte ihm den Theaterbesuch verboten. Nun stellte ich mich eines Abends in der Nähe des Theaters auf, wo der Junge durchkommen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lange, da kam er mit scheuen, hastigen Schritten dahergestürzt. Er erschrak, als ich ihn beim Arm faßte. Flehentlich bat er, ich möchte ihn doch nicht zurückhalten; er müsse ins Theater. Ich sagte ihm dagegen, daß er nichts gegen das klare Verbot des Vaters tun dürfe, versprach ihm aber, mich bei seinem Vater zu verwenden, damit er die Erlaubnis bekäme, mitunter einmal mit gutem Gewissen ins Theater zu gehen. Der Junge heulte laut, gab aber endlich doch nach.

Leider erreichte ich beim Vater nichts. Die Schule in Basel schickte schließlich den Jungen fort; und nun ging es immer mehr mit ihm bergab. Ich hörte lange nichts von ihm, bis er mir eines Tages aus einem jener schrecklichen Lazarette schrieb, in denen die Soldaten der afrikanischen Fremdenlegion untergebracht sind. Als ich den Brief an seinen Vater weitergab, antwortete er mir mit einem durchdringenden Schmerzensschrei. Aus Haß gegen das Christentum ging der unglückliche Mensch schließlich so weit, daß er Mohammedaner wurde. Er ist dann gestorben und verschollen – ich weiß nicht, wo. Dies Erlebnis aber war mir ein schmerzliches Warnungszeichen dafür, daß christliches Leben niemals gewaltsam aufgepreßt werden darf, wie es bei diesem unglücklichen Sohn seitens des Vaters geschehen war.

Unter den jüngeren Freunden, mit denen ich in Basel zusammen studierte, war auch Theodor Zahn, der, während Riggenbach mir um fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, – denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling – wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.

Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.

Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.

Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.

Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.

Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.

Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.

Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.

Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.

Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.

Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”

Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.

Neben Hendrichs stand mir ein anderer angehender Missionar sehr nahe: Gottfried Hauser. Daß ich mit ihm verbunden wurde, hatte seine besondere Veranlassung. Es bestand nämlich im Missionshause zu Basel die Einrichtung, daß die Missionare in dem letzten Jahre vor der Ausreise auf das Missionsfeld zu zwei und zwei auszogen, um in den Dörfern des Baseler und badischen Landes Bibelstunden zu halten oder auch die Kinder zu sammeln in der Weise der heutigen Sonntagsschulen, die man damals aber noch nicht kannte. So war mir mit Gottfried Hauser zusammen das Dorf Birsfelden, südlich von Basel, zugeteilt worden. Eine Witwe, eine fromme alte Bauersfrau, hatte hier ihr Haus für die Versammlung geöffnet. Es waren vor allem Kinder, die hier zusammenkamen und die von Hauser und mir in der Weise von Frage und Antwort unterwiesen wurden, während einige ältere Personen zuhörten. Mit welchem Zittern und Zagen habe ich mich auf diese Stunden vorbereitet, zumal dabei auch öffentlich gebetet zu werden pflegte! Aber wie manchen Segen habe ich auch aus diesen Stunden mitgebracht für meine eigene Seele!

Von einem höchst merkwürdigen Mann muß ich noch einiges sagen, der mir in besonderer Weise nahetrat: das war der Vater Spittler. Von Beruf Buchhändler war Spittler zu Anfang des Jahrhunderts aus dem Württemberger Land nach Basel gekommen. Er wohnte im sogenannten „Fälkli”, einem alten Gebäude, das früher zum Augustinerkloster gehört hatte und einen Falken im Wappen führte. Das Fälkli war die Heimat der von Spittler gegründeten Buch- und Traktatgesellschaft. In innigster Dankbarkeit gegen jenes kleine Büchlein über Tschin, den Chinesenknaben, das von hier aus mir nach Gramenz geschickt geworden war, konnte ich es nicht lassen, mir im „Fälkli” immer neue Traktate zu kaufen und nach allen Richtungen zu verteilen, namentlich unter den Kindern. Auch versorgte ich von hier aus, unserer letzten Verabredung entsprechend, meinen Bruder Ernst in Frankfurt mit den Schriften, die er sich für seine Soldaten von mir erbeten hatte.

Das Zimmer des alten Spittler steht mir noch lebendig vor Augen. Es erschien mir sehr ehrwürdig, wie das eines alten Einsiedlers, in alter deutscher Weise ausmöbliert. Die Wände waren mit allerlei Missionskarten behangen. Eine dieser Karten stellte die christlichen Länder dar. Auf ihr waren überall durch Lichter und kleine Fackeln die Gegenden bezeichnet, in denen der eingeschlafene Glauben wieder im Erwachen war oder wo für die Ausbreitung des Reiches Gottes sonst irgend etwas geschah. Zwischen diesen Lichtern und Fackeln aber lag der größte Teil der Christenheit im Halbdunkel oder im schwarzen Schatten.

Der alte Spittler erklärte mir die Karte selbst. Während das Baseler Missionshaus unter den Heiden leuchtete, sah er es als seine Hauptaufgabe an, in der abgefallenen Christenheit das Wort Gottes wieder auf den Leuchter zu stellen. Durch ihn waren fast alle Anstalten der christlichen Barmherzigkeit, die in und um Basel blühten, ins Leben gerufen worden. Sobald er auf einem Punkt fertig war, ging er wieder einen Schritt weiter. Augenblicklich galten seine Liebe und seine Kraft ganz besonders der Pilgermission. Jenseits des Rheins, auf dem letzten Vorsprung des Schwarzwaldes, hatte er eine kleine alte Kirche gekauft mit einigen Äckern umher. Die Kirche samt ihrem Turm hatte er so ausgebaut, daß darin seine Zöglinge samt ihren Lehrern Unterkunft fanden. St. Chrischona hieß das Kirchlein. Und ich bin manchmal auf die herrliche Höhe hinaufgestiegen, von der man bei klarem Wetter über den Jura weg die Alpenkette überschauen kann.

Nun waren damals die Gedanken des alten Spittler besonders auf die alte christliche Kirche in Abessinien gerichtet. Dahin hatte er bereits seine Pilger geschickt, um diese alte eingeschlafene Kirche wieder wachzurufen. Von Abessinien aus aber sollte es weitergehen zu dem südlicher wohnenden wilden afrikanischen Stamm der Gallas. Bald merkte ich, daß Vater Spittler sein Auge auf mich warf, ob ich wohl bereit sei, nach Abessinien zu ziehen.

Durch meine Verbindung mit dem Baseler Missionshaus, das Inspektor Josenhans leitete, standen aber meine Gedanken damals nicht nach Abessinien, sondern nach Indien. Und wenn ich auch beschlossen hatte, zunächst mein theologisches Examen in Preußen zu machen, so wollte ich doch so bald wie möglich nach Basel zurückkehren, um meinen Freunden Hauser, Hendrichs und dem dritten aus unserm engeren Freundeskreis, namens Strobel, nach Indien zu folgen.

Jetzt aber wurde ich in meinem Vorhaben erschüttert. Denn eines Tages erschien in Begleitung meiner Dienstmagd, der Rösli Schwarz, eine schwarze Mädchengestalt auf meinem Zimmer. Es war Pauline Fatmele, die Tochter eines Gallafürsten aus dem Süden Abessiniens. Sie war, nachdem ihr Vater neben ihr erschlagen worden war, von einem Sklavenhändler zum andern schließlich an den Hof des Vizekönigs von Ägypten verkauft worden. Dort war sie einem deutschen Reisenden geschenkt worden, und dieser hatte sie nach Stuttgart gebracht. Von da war sie nach Korntal in eine christliche Familie gekommen. Hier war in wunderbarer Weise ein fröhliches christliches Glaubensleben in ihr erwacht. Der alte Spittler war ihr Taufpate geworden und hatte sie nun nach Basel kommen lassen. Da meine Magd ja auch aus Korntal war, so hatte Fatmele sie besucht, und auf diese Weise kam es, daß sie mit meiner Magd zusammen mein Zimmer betrat.

Das reine, kindliche, mächtige Glaubensleben der schwarzen Fürstentochter machte, obwohl sie nur eine Viertelstunde bei mir blieb, einen großen Eindruck auf mich. „Wenn ich jetzt Flügel hätte,” sagte sie mir, „dann möchte ich gern in meine Heimat fliegen, um zu erzählen, wie lieb Gott Europa hat.” Ihr Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Wenige Tage darauf bekam sie Bluthusten, aus dem sich die galoppierende Schwindsucht entwickelte, und im Diakonissenhause zu Riehen, wohin sie der alte Spittler brachte, starb sie nach wenigen Wochen seligen Leidenskampfes, vielen zur Stärkung des Glaubens. Chrischonabrüder bliesen an ihrem Grab die Posaunen. Auf ihrem Sterbebett aber hatte sie den Vater Spittler gebeten, ihr Volk nicht zu vergessen, wenn sie selbst auch nicht hinziehen könne.

So kam es, daß der alte Spittler einen Beschluß des Komitees herbeiführte, durch den ich armer, junger Student berufen wurde, als Bote der Pilgermission an den Hof des Königs Theodorus nach Abessinien zu gehen. Ich sollte zunächst bei Bischof Gobat in Jerusalem das Abessinische lernen und mich von da mit einigen Pilgermissionaren nach Abessinien und dann weiter südwärts zu den Gallas aufmachen. Solche Aussicht zog mein Gemüt lebhaft an, und ich stand im Geiste schon auf dem Ölberg, um von da aus mit dem Kämmerer aus dem Mohrenlande meinen Weg anzutreten.

Jetzt aber erfuhr der Inspektor des Missionshauses, Pfarrer Josenhans, von dem Plan des alten Spittler. Er ließ mich auf sein Zimmer kommen und ergoß sich in einem Strom von Zorn über meinen lieben alten Freund und sein unüberlegtes Handeln, mich mit solchen Plänen zu umstricken. Jetzt kamen auch mir ernste Bedenken gegen den Plan des alten Spittler. Aber als ich zu ihm ging, um ihm diese Bedenken vorzutragen, da gab es nun auf Spittlers Seite eine solche Schilderung der Verkehrtheit des Missionshauses, daß ich gar nicht wußte, wie ich daran war.

Spittler vertrat ungefähr den Standpunkt des alten Vater Goßner, der von dem vielen Studieren und der Gelehrsamkeit seiner Missionare gar nichts hielt, sondern sie einfach hinaussandte und sie draußen sich selbst ihren Unterhalt verdienen ließ. Deswegen bildete er seine Pilgermissionare auch besonders in allen Handwerken und in der Landwirtschaft aus, um ihnen so die Möglichkeit zu gewähren, sich ihren Unterhalt in den Heidenländern selbst zu erwerben. Josenhans dagegen vertrat die Notwendigkeit einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung, auch in den alten Sprachen, und glaubte, seinen Missionaren durchaus ein auskömmliches Gehalt geben zu müssen, damit sie ihre ganze Kraft dem Dienste des Wortes widmen könnten.

Beide Anschauungen haben ihr Berechtigtes, und es wäre auch wohl möglich, auf demselben Missionsgebiet, je nach den verschiedenen Gaben, beide zu vereinigen. Es wäre darum auch nicht nötig gewesen, daß die beiden vortrefflichen Männer sich um dieser verschiedenen Anschauungen willen so ereiferten. Aber das Entscheidende für mich war, daß ich merkte, daß es bei beiden auf meine Person abgesehen war und daß hierdurch ihr Eifer ein falscher Eifer war. Es war gerade Fastnachtszeit. Alles lief auf den Straßen von Basel in Fastnachtskappen umher, und ich weiß noch, wie ich zu einem meiner Freunde sagte, es wäre mir lieber, daß der alte Spittler und Josenhans sich Schellenkappen aufgesetzt hätten und auf der Gasse von Basel miteinander herumgesprungen wären, als daß sie sich in solcher Weise um meine arme Person zankten.

An sich war mir die Sache gut. Denn ich hatte mich in der Tat zu sehr an Menschen gehängt und zu hoch an Menschen hinaufgeblickt. Ich wies die Versuchung von mir, mit halber theologischer Bildung ohne weiteres in die Heidenwelt hinauszugehen, wie es der alte Spittler wünschte; und die Dankbarkeit gegen das Baseler Missionshaus ließ den überwiegenden Wunsch in meinem Herzen bestehen, dereinst in die Arbeit auf dem Baseler Missionsgebiet einzutreten.

Am 21. März, kurz vor meiner Abreise aus Basel, am Abend des Karfreitags, hielt ich meine erste öffentliche Predigt in der kleinen Elisabethkirche über Jes. 53, 11 und 12; es war mir eine gar herzbewegliche Stunde. Am 22. März nahm ich Abschied von meinen Lehrern und Freunden und von der lieben Stadt, die mir eine zweite Heimat auf Erden geworden war, um über Frankfurt a. M., wo damals meine Mutter wohnte, nach Erlangen zu gehen.”

2. In Erlangen. 1856

Erlangen stand in bezug auf die theologische Fakultät damals in sehr hoher Blüte. Hofmann, Thomasius, Delitzsch, Harnack zogen namentlich aus Norddeutschland große Scharen junger Theologen an, und es herrschte ein reges wissenschaftliches Streben voller Ernst, Frohsinn und Tüchtigkeit. Bei Hofmann war es mir schwer, daß ihn viele Studenten und namentlich die, die ihn am wenigsten verstanden, zu sehr vergötterten und daß seine Ausdrucksweise durchaus eine andere sein mußte als die anderer Theologen. Ich habe mich am meisten an seiner Auslegung der Psalmen erquickt, obwohl man ihm gerade hier am wenigsten Tüchtigkeit zuschrieb. Auch freute es mich, daß der hochgelehrte Mann für Studenten ein Missionskränzchen hielt, in das ich mich auch aufnehmen ließ und in dem ich vor einer größeren Studentenschaft einen Vortrag hielt.

Es war eine ganze Reihe meiner Baseler Freunde mit mir nach Erlangen übergesiedelt, und es war merkwürdig, daß wir Baseler uns ganz besonders zu den Philadelphen hingezogen fühlten, die aus der Leipziger Schule stammten und streng konfessionell-lutherisch gerichtet waren. Die Baseler waren das Gegenteil. Trotzdem fanden wir uns in der Woche mit den Philadelphen in einem theologischen Kränzchen zusammen, wo einer von uns eine von ihm durchgearbeitete theologische Frage vorzutragen hatte, über die dann disputiert wurde. Oft ging es hierbei sehr scharf her, sodaß es nötig wurde, für den andern Tag einen Versöhnungsspaziergang anzuordnen.

Viel Freude machten uns unsere gemeinsamen Wege nach dem schönen Nürnberg. Am liebsten zogen wir Sonntags ganz früh aus und kamen mit dem Läuten der Glocken in der Stadt an, um hier in einer der prachtvollen Kirchen dem Gottesdienst beizuwohnen. Nachmittags wurden dann die Herrlichkeiten der alten Reichsstadt gründlich durchmustert, die alte Hohenzollernburg nicht ausgenommen, und abends kehrten wir zu Fuß zurück. Zu Himmelfahrt sind wir auch mit den Philadelphen nach Neuendettelsau zu Löhe gepilgert, um ihn predigen und nachmittags auf seiner Filiale katechisieren zu hören.

Meine Gefährten kehrten am Tage nach Himmelfahrt wieder nach Erlangen zurück, ich aber zog noch an demselben Abend auf das liebe Schwabenland los, wo ich mir mit meinem Baseler Freunde, Gottfried Hauser, ein Stelldichein gegeben hatte, ehe er nach Indien aufbrach. Ich hatte mir zu dieser Reise einen Kittel von grauer Leinwand machen lassen und mich zum Schutz gegen den Regen mit einem Stück Wachstuch versehen, das ich mir um die Schultern legen konnte.

Auf dem Wege durch die fränkische Schweiz wurde ich von einem reisenden Handwerksburschen eingeholt, der sich mir als Buchbinder zu erkennen gab. Durch ihn erfuhr ich zum erstenmal die verschiedenen Regeln, welche Handwerksburschen auf ihrer Pilgerfahrt und in ihrem Nachtquartier befolgen. Auch kamen wir in Religionsgespräche hinein, und ich mußte staunen, bis zu welchem Grade schon damals grundstürzende Gedanken über Gottes Wort unter den Handwerksburschen verbreitet waren. Wir blieben gemeinsam in einer kleinen Dorfschenke auf einer Kammer über Nacht und zogen auch des andern Tages noch einige Stunden miteinander weiter unter manchen fröhlichen und ernsten Gesprächen. An einem Scheidewege trennten wir uns, der Buchbinder seinen Weg nach Frankfurt, ich den meinen nach Stuttgart einschlagend. Zum Abschied schenkte ich ihm mein Neues Testament, schrieb ihm auch von Stuttgart aus noch einen längeren Brief, um ihm eine Anleitung zum Lesen des Neuen Testamentes zu geben.

Als ich 32 Jahre später im Vereinshaus in Leipzig einkehrte, wo ich, wie vorher in den Blättern angezeigt worden war, einen Vortrag halten sollte, wurde mir mitgeteilt, es sei etwas für mich abgegeben worden. Es war das Neue Testament, das ich meinem Reisegefährten geschenkt hatte, und mein Brief aus Stuttgart. Nach dem Vortrag stellte sich dann richtig ein ehrwürdiger Buchbindermeister mit langem, grauem Bart ein. Es war mein damaliger Reisegefährte, der mir sagen wollte, daß jene kurze Pilgerfahrt samt meinem Briefe und dem Büchlein ihre Früchte für ihn und sein Haus getragen hatten.

Mein Weg ging über Kirchheim unter Teck nach Welzheim. Dort traf ich mit meinem Freunde Hauser zusammen, und hier wurde er bei Gelegenheit eines Missionsfestes von Inspektor Josenhans ordiniert. Von da ging es weiter nach Fellbach, dem Heimatsort meines Freundes. Fellbach war damals einer der Orte im Württemberger Lande, an welchem das christliche Gemeinschaftsleben grünte und blühte. Die Fellbacher hatten ein eigenes Vereinshaus gebaut, wo sie unter sich ihre Andachtsstunden hielten, doch so, daß sie auch gern ihren trefflichen Pfarrer zu sich einluden.

Ehe wir in diesem Vereinshaus den Abschied meines Freundes feierten, machten wir noch eine gemeinsame Fußwanderung durch die Dörfer in einem größeren Umkreise von Stuttgart, die der Mission besonders zugetan waren. Überall wurden wir von den lieben Bauersleuten beherbergt und mit großer Liebe aufgenommen und verabschiedet. Überall steckten die Leute auch dem abziehenden Freunde Geld für seine Reise nach Indien in die Hand, und ich konnte es nicht immer abwehren, daß sie auch mir eine Gabe aufpreßten. „Sie werden es schon brauchen,” sagten sie; denn ich hatte immer noch meinen grauen Reisekittel an. Auf diesem Wege kam ich auch nach Calw, wo ich den merkwürdigen alten Dr. Barth, den Leiter des Calwer Verlages, kennen lernte.

Die Reise nach Calw, auf der Inspektor Josenhans uns begleitete, ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Denn Josenhans erzählte unterwegs von dem wunderbaren Gesicht, das er einmal in Basel gehabt habe. Er sei etwas leidend gewesen, in fieberhaftem Zustande, aber völlig wach. Plötzlich fangen vor seinen Augen die Herrlichkeiten der Stadt, namentlich die Kaufläden von Basel, an zu tanzen und stürzen nacheinander in den Abgrund. Dann sieht er, wie die Türme der Stadt zu wanken anfangen und zusammenbrechen. Jetzt sinken auch die Berge des Schwarzwaldes, des Jura und der Alpen in sich zusammen. Vor sich sieht er nichts als eine unabsehbare Ebene. Er macht sich auf und läuft über die Ebene weg auf Stuttgart zu. Da begegnet ihm sein Sohn, ein zwölfjähriger Knabe, (er saß bei uns im Wagen, während sein Vater dies erzählte) und sagt: „Vater, komm! Sie warten schon alle.” Und wie er aufblickt, sieht er eine unermeßliche Schar, die niemand zählen kann, auf einem weiten, weiten Felde stehen. Aber sie sind nicht alle gleichartig: die Freude auf den Gesichtern der einen ist durcheinandergemischt mit dem Schrecken auf den Gesichtern der andern. Da tritt einer auf – Josenhans erkennt in ihm den Kirchenvater Augustinus – und ruft mit gewaltiger Stimme: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und eine ungezählte Schar macht sich strahlenden Antlitzes auf und folgt ihm. Es sind die Gläubigen aus der katholischen Kirche. Aber eine ebenso große Schar wird blaß und grau, schrumpft zusammen und verkriecht sich in die Löcher der Erde. Jetzt tritt ein zweiter auf: es ist Dr. Martin Luther. Und Luther ruft wieder überlaut: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und wieder folgt ihm eine Schar, die niemand zählen kann, mit erhobenen Häuptern. Aber wieder schrumpft eine andere ebenso große Schar zusammen und verkriecht sich in die „Mauselöcher”. Dann tritt Calvin auf und erhebt seine Stimme; und noch einmal wiederholt sich dasselbe wie bei Augustin und Luther. Jetzt aber stehen sie alle still und blicken unverwandt gen Osten. Da mit einemmal wird es hell wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang – . In diesem Augenblick fiel der Sohn des Inspektors, der der Erzählung atemlos zugehört hatte, seinem Vater laut schluchzend in die Arme, sodaß dieser große Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen, und seine Erzählung nicht zu Ende brachte; aber wir wußten ja, wem die ungezählten Scharen entgegengegangen waren.

Nach Fellbach zurückgekehrt, rüsteten wir uns auf den Abschied meines Freundes. Am letzten Abend versammelten sich noch einmal alle gläubigen Christen Fellbachs in dem Versammlungshause. Verschiedene der alten Väter traten auf und gaben dem scheidenden jungen Missionar einen Gruß aus dem Worte Gottes mit auf den Weg. Andere beteten aus tiefbewegtem Herzen. Er selbst mußte ihnen ebenfalls ein Abschiedswort sagen, und ich auch. Dann legten sie noch mehrere hundert Gulden Reisegeld zusammen, und beim Hinausgehen aus dem Saal war viel Schluchzens.

Am andern Morgen wanderten wir zu Fuß nach Stuttgart. Bis zur Anhöhe über dem Dorf gaben uns noch viele das Geleit. Dann wanderten mein Freund und sein Vater, sein Schwager und ich allein weiter. Die Mutter war schon längst gestorben. Auf dem Bahnhofe in Stuttgart stand der Zug zur Abfahrt nach Basel bereit. Der alte Vater hielt sich tapfer bis zur letzten Umarmung und dem letzten Kuß, den er seinem Gottfried gab. Aber in dem Augenblick, als das Antlitz des Sohnes, der am Wagenfenster stand, entschwand, wandte sich der alte Mann zu mir, fiel mir um den Hals und schluchzte: „Gottfried, mein Sohn, mein Sohn, warum hast du mich verlassen?”

Von Stuttgart aus wanderte ich zunächst dem Hohenstaufen zu. Von da hätte ich es nicht weit bis zu dem damals schon so berühmten Boll mit seinem Pfarrer Blumhardt gehabt. Aber ich hatte eine Abneigung, solche Orte zu besuchen, die gewissermaßen als Wallfahrtsorte galten und zu denen die Menschen vielfach mehr aus Neugierde als eines inneren Bedürfnisses wegen gehen. Doch während ich die einsame, kahle Berghöhe des Hohenstaufen hinaufkletterte, zog ein schweres Gewitter herauf. Ich sah von oben schnell nach allen Seiten in das schöne Schwabenland hinein und eilte dann bergab in der Hoffnung, das Städtchen Göppingen noch vor Ausbruch des Gewitters zu erreichen. Aber das Unwetter ereilte mich unterwegs in seiner vollen Wut. Ich wurde durch und durch naß und hielt es nun für besser, geradezu vorwärts zu marschieren, bis ich vor der Tür von Bad Boll stand. Der liebe Vater Blumhardt nahm sich dann auch des wider Willen zu ihm getriebenen Studenten aufs väterlichste an, und ich gewann solches Zutrauen zu ihm, daß ich ihm mein ganzes Herz ausschütten konnte. Ich blieb einige Tage bei ihm, die mir von großem, bleibendem Segen geworden sind und unser Gemeinschaftsband knüpften bis an das Ende der Tage.

Dann ging es über Ulm und Augsburg, wo die prachtvollen Dome und Kirchen besucht wurden, wieder zurück in die freundliche Musenstadt an der Regnitz, wo freilich aus dem Studieren nicht mehr viel wurde, da ich in diesem sehr heißen Sommer viel an Kopfweh, Nasenbluten und Schlaflosigkeit litt und schließlich so von Kräften kam, daß ich für drei Wochen das Studentenkrankenzimmer in der Universitätsklinik aufsuchen mußte.

Nach Schluß des Semesters gab ich mir mit meinem lieben Freunde Riggenbach in Würzburg ein Stelldichein. Er hatte sich entschlossen, als Pastor zu den Deutschen nach Nordamerika zu gehen, und wir beide wollten die letzten Tage vor seinem Abschied noch miteinander verleben. Wir suchten zunächst den Pastor Fabri auf, den späteren Inspektor des Barmer Missionshauses, der mich schon in Erlangen besucht hatte. Wir blieben einige Tage in dem kleinen lieben Pfarrdörfchen, und Fabri gewann unser Herz durch seine äußerst anregenden Gespräche über die tiefsten Fragen des Reiches Gottes. An Leib und Seele erfrischt, zogen wir dann weiter dem Norden zu. Wir wanderten viel zu Fuß, wie einst in den schönen Schweizer Bergen, und es war mir von großem Segen, zu erleben, mit welcher Einfalt und Treue mein Freund abends und morgens eine Stelle aus der Heiligen Schrift vornahm, sie mit wenigen Worten auslegte und dann niederkniete zum Gebet. Wie war man für den ganzen Tag dann gestärkt und erquickt, und wie schön schlief’s sich abends ein! Es gehört gewiß mit zum Köstlichsten, was man auf Erden haben kann, mit einem solchen Freunde durchs deutsche Vaterland zu wandern.

Unsere Pilgerschaft ging das Lahntal hinauf zu meiner Schwester Sophie, die in Berleburg an den Landrat von Oven verheiratet war, dann zu meiner lieben Mutter nach Velmede und von da nach Bremen, wo wir bei dem Besitzer des Auswandererschiffes, das mein Freund benutzen wollte, die herzlichste Aufnahme fanden. Der liebe Pastor Mallet stand noch in ungebrochener Kraft, und die Kanzel, auf der später Schwalb, mein Studiengenosse von Basel her, den Unglauben verkündete, hatte damals noch der treffliche Treviranus inne. Bei Mallet gingen wir noch einmal gemeinsam zum heiligen Abendmahl. Andern Tages geleitete ich meinen Freund nach Bremerhaven und von da noch ein Stück auf dem Auswandererschiff in die See hinaus, von wo ich über und über seekrank auf dem Lotsenboote wieder in den Hafen gelangte. Dann ging es zur lieben Mutter nach Velmede.”

3. In Berlin. 1856–57

„Nur zu schnell waren die köstlichen Ruhetage im lieben Velmede zu Ende gegangen. Die Ferienzeit war vorüber, und da man nach den damaligen Bestimmungen mindestens ein Jahr auf einer preußischen Universität studieren mußte, so richtete ich meinen Pilgerweg nach Berlin. An der Ecke der Artilleriestraße, hart an der Spree, mit der Aussicht auf den Monbijou-Garten, eroberte ich mir glücklich ein stilles Stübchen, wo ich mein letztes Studienjahr zuzubringen dachte.

Es war damals auch in Berlin schöne Zeit. Neander, den ich in meinem ersten Semester neben meinen physikalischen und botanischen Studien gehört hatte, war schon heimgegangen; aber Strauß, Hengstenberg und Nitzsch standen noch in frischester Kraft. Bei Nitzsch besuchte ich das praktische Seminar, wo wir Predigtübungen zu halten hatten; und ich besinne mich noch gut, wie er solche Studenten, die mit oberflächlichen Redensarten und schönen Worten ihre Predigt füllten, als eitle Gecken abzutun wußte und ihnen den Hoffartsteufel austrieb.

Ich blieb übrigens bei meiner Predigt, die ich vor ihm zu halten hatte, stecken und mußte demütig mein Konzept herauslangen. Umgekehrt ging es mir bei meiner Katechese in der Propstei-Schule an der Nikolaikirche so gut, daß mein lieber Nitzsch mich besonders in sein Herz schloß und mich auch zu seinem regelmäßigen Studenten-Familienabend einlud.

Indessen wurde in diesem ersten Wintersemester aus meinem Studieren nicht sehr viel. Denn für meinen Dienst unter den Heiden mußte ich versuchen, mir einige Kenntnisse in der Krankenpflege und in der Arzneilehre zu erwerben. Pastor Müllensiefen, den ich noch aus der Zeit her kannte, wo er meine Vettern Diest als Hauslehrer unterrichtet hatte, und der jetzt Pastor an der Marienkirche war, machte mich mit seinem Freunde, dem Regimentsarzt Dr. Lauer, dem späteren Leibarzt des alten Kaisers Wilhelm, bekannt. Dieser nahm mich als Lazarettgehilfen in das Lazarett des Kaiser-Franz-Regiments auf. Jeden Morgen besuchte ich zunächst mit dem Assistenzarzt die einzelnen Kranken und ließ mir von ihm zeigen, wie Verbände angelegt und die chirurgischen Dienstleistungen verrichtet werden. Hernach nahm ich an der Visite des Regimentsarztes selbst teil und lernte dann die angeordneten Arzneien in der Apotheke bereiten.

Auf dem Wege zum Lazarett begegnete mir eines Tages ein früherer Schulkamerad vom Joachimstalschen Gymnasium, namens Blankenburg. Ich sah ihm gleich an, daß Schmalhans bei ihm Küchenmeister war. Er war teils wegen seiner schlechten Ernährung, aber auch wegen seiner schlechten Wohnung an seinen Nerven krank geworden. Ich wußte ihm nicht besser zu helfen, als daß ich ihn einlud, ob er bei mir wohnen wollte. Das wurde mit Freuden angenommen. Aber die Aufgabe war nicht klein; denn die Nerven meines Freundes wurden mir förmlich zu Haustyrannen, nach denen ich mich in allen Stücken richten mußte.

Trotzdem wurde ich meinem Stubengenossen bald zu großem Dank verpflichtet. Er machte mich nämlich auf eine große Lücke in meiner Ausbildung aufmerksam. Was ich an Bibelsprüchen und Kirchenliedern auf der Schule und im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, war über alle Maßen wenig gewesen. Blankenburg zwang mich nun, sowohl Kirchenlieder als auch ganze Stücke der Heiligen Schrift wörtlich auswendig zu lernen. Ich war inzwischen mit dem Lazarettkursus fertig geworden, und so wurde neben den übrigen Studien diese Arbeit in der Tat mit allem Fleiß betrieben. Jeden Morgen ging ich in den einsamen Monbijou-Garten, und dort, auf dem schönen Wege, der an der Spree entlang führt, prägte ich mir Kirchenlieder und ganze Kapitel aus der Bibel ein, und wenn ich nach Hause kam, überhörte mich mein lieber Blankenburg.

Inzwischen war mein letztes Semester – Sommer 1857 – herangekommen. Der jüngere Bruder meines Vaters, mein Onkel Karl, legte mir nahe, für den Rest meiner Studienzeit zu ihm überzusiedeln. Ich war in der Tat in meinen Ernährungsverhältnissen etwas zurückgekommen, da ich mit meinem Freunde Blankenburg zusammen etwas zu sparsam hatte leben müssen, um uns beide durchzuschlagen. Zudem wünschten meine Verwandten um ihrer beiden jüngsten Söhne willen, die noch auf dem Gymnasium waren, meine Gegenwart, da sie selbst den größten Teil des Sommers abwesend sein mußten. So zog ich denn gleich nach Ostern in meine alte Heimat, in das Finanzministerium, hinüber.

Von meinen Baseler und Erlanger Freunden hatte mich nur noch einer nach Berlin begleitet. Es war ein Pfarrerssohn aus der Schweiz, mit Namen Endres. Er hieß gewöhnlich nur „der kleine Schwyzer” und kam meist am Nachmittag zu einer Tasse Kaffee und einer Partie Schach ins Finanzministerium herüber. Auch beteiligte er sich wohl an den kleinen Fußtouren, die ich mit meinen beiden jungen Vettern in die Umgegend von Berlin unternahm. Sonst war bei der strammen Arbeit, die das letzte Semester mit sich brachte, kaum irgend ein anderer Verkehr möglich. Nur einige Male ging ich in das theologische Studentenkränzchen, das ähnlich wie in Erlangen auch hier seine Zusammenkünfte hatte. Hier feierten mein Freund Endres und ich auch den Abschiedsabend unserer Universitätszeit. Reiche, köstliche drei Jahre lagen hinter mir, als ich Anfang August 1857 von meiner letzten Musenstadt Abschied nahm und mit dem Nachtzuge nach Hamburg hinüberfuhr!”

Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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