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II. Mögliche Gründe für gravierende Unterschiede

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Es mag banal erscheinen, aber der Text der US-Verfassung ist im Original mit 4543 Worten[1] weniger als halb so lang wie der Text des Grundgesetzes von 1949 mit rund 11.000 Worten[2]. Nimmt man alle Verfassungsänderungen hinzu, bleibt das Bild gleich. Die heutige US-Verfassung hat 7591 Worte[3], das aktuelle Grundgesetz mehr als 20.000[4]. Dies bedeutet, dass in der US-Verfassung viel mehr Aspekte ungeregelt geblieben und Konkretisierung, Interpretation sowie Ergänzung häufiger nötig sind[5], als ohnehin im eher offen formulierten Verfassungsrecht[6]. „Ungeschriebenes“ Verfassungsrecht, obwohl in jedem Verfassungssystem vorhanden[7], hat ein größeres Gewicht für die US-Verfassung[8] als für das Grundgesetz.

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Die US-Verfassung ist 162 Jahre älter und zählt zu den am längsten geltenden Verfassungen weltweit[9]. Ihr historischer, politischer und philosophischer Hintergrund ist mit dem des Grundgesetzes unvergleichbar[10]: Auf der einen Seite ein Befreiungskrieg gegen den englischen König und die Konföderationsartikel als erste Verfassung, auf der anderen Seite die Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus, der Besatzung einschließlich der Vorgaben der Militärgouverneure für die neue Verfassung. In den 162 Jahren, die zwischen den beiden Verfassungen liegen, sind Probleme aufgekommen, von denen man 1787 wenig oder nichts ahnen konnte, etwa die Dominanz der politischen Parteien[11], die sogenannte soziale Frage, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder die Frage der Massenmedien.

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Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes stellte sich andererseits – ebenfalls aus historischen Gründen – ein Problem nicht, welches an verschiedenen Stellen der US-Verfassung angesprochen wird: die Sklaverei. Diese war für die Gründungsväter der USA ein fester Bestandteil ihrer Gesellschaft[12]. Sklaven zählten nach dem mittlerweile aufgehobenen Art. I, section 3 USC zur Bevölkerung und steigerten sowohl die Zahl der Sitze im Repräsentantenhaus, die ein Bundesstaat erhielt, als auch die Zahl der Wahlmänner zur Wahl des US-Präsidenten, wobei die nicht wahlberechtigten Sklaven mit Drei-Fünftel eingerechnet wurden[13]. Diese Regelungen hatten die Wirkung, dass der weiterlaufende Import von Sklaven in die Südstaaten der USA deren politischen Einfluss erhöhte (slave bonus)[14]. Ein praktisches Beispiel: 1790 hatten sowohl der Bundesstaat New Hampshire als auch der Bundesstaat South Carolina 140.000 freie Bürger und damit jeweils vier Sitze im damaligen Repräsentantenhaus. Weil in South Carolina aber 100.000 Sklaven registriert waren, bekam dieser Bundesstaat zwei weitere Sitze zugesprochen[15]. Der Sklavenhandel durfte bis 1808 selbst durch Verfassungsänderung nicht verboten werden (Art. I section 9 cl 1 i.V.m. Art. V USC). Der mittlerweile ebenfalls aufgehobene Art. IV section 3 USC verpflichtete dazu, entflohene Sklaven ihren Eigentümern zurückzugeben. Insgesamt lassen die aufgeführten Regelungen den Schluss zu, das die Verfassung von 1787 den Staaten, die Sklaven hielten, sehr entgegenkam[16].

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Die beiden Verfassungstexte stehen in sehr unterschiedlichen juristischen Traditionen. Das amerikanische Recht fußt auf dem englischen common law, welches als Fallrecht von Richtern entwickelt wurde[17], das Grundgesetz entstand vor dem Hintergrund des civil law, welches stärker von Rechtswissenschaftlern entwickelt wurde und auf dem System – oder Kodifikationsgedanken beruht[18]. Es darf vermutet werden, dass im US-amerikanischen Recht pragmatische Lösungen bevorzugt werden (legal realism)[19], wohingegen im deutschen Recht die dogmatische Schlüssigkeit größere Bedeutung haben könnte[20]. Im deutschen Verfassungsrecht haben zudem die Ansichten der Rechtswissenschaft größere Bedeutung als im US-amerikanischen Verfassungsrecht[21], nicht zuletzt deshalb, weil Professorinnen und Professoren an das Bundesverfassungsgericht berufen werden.

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Die Rolle des Staates und die Rolle des Marktes werden in beiden Ländern traditionell sehr unterschiedlich gesehen[22]. Um einen Gedanken von Günter Frankenberg aufzugreifen[23]: Es gibt in verschiedenen Ländern unterschiedliche Auffassungen darüber, was ein öffentliches und was ein rein privates Problem darstellt. In Deutschland wird eher nach dem Staat gerufen, der sich grundsätzlich um fast alle Probleme seiner Bürger zu kümmern hat. In den USA wird die Bundesregierung von nicht wenigen als die zentrale Bedrohung der Freiheiten des Einzelnen gesehen (Angst vor big government)[24]. Bei seiner Einführung in das Präsidentenamt sagte Ronald Reagan 1981[25]: Government is not the solution to our problems, government is the problem. Es wird sogar konstatiert, dass es eine alte und ehrwürdige amerikanische Tradition sei, die Mächtigen zu hassen[26]. Der „self-made-man“ braucht keine Hilfe, von niemandem[27]. Es gibt bedeutsame politische Strömungen in den USA, etwa den Libertarianism[28] oder die radikalen Republikaner (tea-party)[29], die den Einfluss des Staates rigoros zurückdrängen wollen. Diese unterschiedliche Mentalität könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass die USA ein klassisches Einwanderungsland waren und sind[30], so dass viele Menschen sich ihr Leben neu aufbauen mussten und müssen.

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Verfassungsrecht wird ferner vom jeweiligen politischen Hintergrund beeinflusst[31]. Dies scheint in den USA etwas offener diskutiert und akzeptiert zu werden[32], z.B. bei der Auswahl einer neuen Verfassungsrichterin bzw. eines neuen Verfassungsrichters[33] oder bei der Diskussion um die verfassungsrechtliche Rolle des Präsidenten[34]. Deutschland, so Beobachter, hänge stärker an der Wunschvorstellung, dass Politik und Recht getrennte Bereiche seien[35]. Jedenfalls für Verfassungsgerichte – also auch das deutsche Bundesverfassungsgericht – trifft die generelle Beobachtung zu, dass sie sich im Überschneidungsbereich von Recht und Politik bewegen[36].

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Zum politischen Hintergrund des deutschen Grundgesetzes lässt sich sagen, dass in Deutschland eine gewisse Kompromissorientierung vorherrscht, seit der Ära Adenauer hat keine Partei mehr allein regiert, immer gab es Koalitionen[37], vielfach sogar große Koalitionen – das wäre in den USA nicht denkbar. Die beiden großen politischen Lager, die Demokraten und die Republikaner, liegen in vielen Fragen weit auseinander, etwa wenn es um Minderheitenschutz, Einwanderung, Religion, Klimaschutz, Abtreibung[38] oder Waffennutzung[39] geht[40]. Diese Konfrontation der beiden Lage war auch beim Umgang mit dem Corona-Virus zu beobachten[41]. Viele Beobachter konstatieren für die letzten Jahre sogar eine politische Spaltung des Landes[42], eine extreme Zuspitzung[43] und Polarisierung[44] in Hinblick auf das Verhältnis der beiden großen Parteien sowie ihrer jeweiligen Wählerschaften zueinander[45], die bisweilen zu politischer Blockade und Handlungsunfähigkeit führt[46]. Politische Auseinandersetzungen scheinen in den USA härter und persönlicher ausgetragen zu werden, der irrationalen Wut wird in den Medien viel Platz eingeräumt[47]; der frühere Präsident Obama wurde von manchen mit Hitler oder Mussolini verglichen[48]. Es scheint weniger „common ground“ zu geben[49], der jedoch für den Erfolg eines demokratischen Gemeinwesens zentral ist[50]. Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor allem Fremden, sogar dem Fortschritt, – so ein Beobachter – überdecke manchmal den grundlegenden amerikanischen Optimismus[51].

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Ohne hier in die Details gehen zu können, scheinen auch die Medien in beiden Staaten unterschiedlich geprägt zu sein. In den USA werden Medien häufig nicht mehr als neutral wahrgenommen[52], sondern dem jeweils anderen Lager zugeordnet. Dies gilt sowohl für die großen Zeitschriften, wie die New York Times und die Washington Post, als auch für die zahlreichen Nachrichtensender des Radios oder Fernsehens sowie die neuen sozialen Medien[53].

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Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen den beiden Staaten, der sich auch auf die Verfassung auswirkt, liegt in ihrer Geographie und ihrer weltpolitischen Bedeutung. Die Idee einer „splendid isolation“ ist für Deutschland als Land mit vielen Nachbarn in der Mitte Europas nicht praktikabel, die Idee einer europäischen Einigung ist indes aus aktuell machtpolitischen Gründen sowie aus der historischen Erfahrung zweier Weltkriege auf europäischem Boden[54] sinnvoll und in der Präambel zum Grundgesetz benannt. Von ihrer geographischen Lage, ihren Bodenschätzen, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Bevölkerungszahl und ihrer militärischen Stärke her gesehen können die USA dagegen auch allein bestehen[55]. Die von vielen angenommene Sonderstellung der USA findet sich bisweilen auch in einer Geringschätzung von Rechtsvergleichung, internationalen Gerichten und multilateralen Organisationen ausgedrückt[56]. Der Supreme Court hat in einem Fall, der die Missachtung des für die USA bindenden Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen betraf, entschieden, dass die Gerichte der Bundesstaaten solange nicht an einen völkerrechtlichen Vertrag und ein die Missachtung feststellendes Urteil des Internationalen Gerichthofs in Den Haag gebunden sind, bis der Kongress ein dahingehendes Bundesgesetz erlassen hat[57]. Deutschland dagegen hat hohes Interesse an internationaler Einbindung, was sich am Europaartikel (Art. 23 GG)[58], seiner völkerrechtsfreundlichen Rechtsordnung[59], seiner Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe für die Grundrechte[60] und seinem – allein durch das europäische Projekt – starkem Interesse an internationaler Rechtsvergleichung zeigt[61].

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Ein weiterer interessanter Erklärungsansatz für Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-amerikanischen Verfassungsrecht nimmt die jeweilige Relevanz von Vernunft und Volkssouveränität in den Blick. Die These lautet, dass westeuropäische Verfassungsgerichte auf einer gleitenden Skala dieser beiden Werte, die beide für demokratische Verfassungen wichtig sind[62], eher die Vernunftargumente, z.B. das Allgemeinwohl, Interessenabwägungen und Verhältnismäßigkeitsüberlegungen höher gewichteten, wohingegen der US-amerikanische Supreme Court sich eher als Stimme des Volkes begreife[63]. So könnte erklärt werden, dass vom Supreme Court gefordert wird, dass er nicht gegen die Meinung der Bevölkerungsmehrheit entscheiden und nicht die Meinung elitärer Kreise durchsetzen dürfe[64]. Als Anhaltspunkt für diese Idee lassen sich ferner der neunte und der vierzehnte Zusatzartikel heranziehen, die beide weitere ungeschriebene Rechte des Volkes annehmen[65]. Die stärkere Betonung der Bevölkerungsmeinung macht es auch verständlicher, dass es in der Debatte um zweifelhafte Präzedenzfälle ein wichtiges Argument ist, ob sie in der Öffentlichkeit weitgehend Zustimmung gefunden haben und befolgt werden; dann sollen sie aufrechterhalten werden, selbst wenn ihre rechtliche Überzeugungskraft gering ist[66].

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Ein letzter gravierender Unterschied: Obwohl beide Staaten seit Jahrzehnten Einwanderungsländer sind, prägt die Einwanderung die USA historisch stärker. Nahezu jeder Amerikaner hat einen Einwanderungsstammbaum[67]. Es gibt also eine viel geringere ethnische Homogenität in den USA als in Deutschland, sodass die Verfassung als gemeinsames Band wichtiger wird[68]. Dies mag auch erklären, dass eine quasi-religiöse Überhöhung der Verfassung, ihrer Schöpfer und ihrer Institutionen[69], die man nicht selten in den USA antreffen kann, in Deutschland unbekannt ist.

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