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IV. Verfassungsauslegung in den USA und Deutschland

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In beiden Ländern gibt es einen weitgehend akzeptierten Katalog von Interpretationsmöglichkeiten des Rechts, der auch für die Verfassungsauslegung herangezogen wird[1]. Er besteht aus der Wortlautauslegung, der systematischen oder auch kontextbezogenen[2] Auslegung, der historischen Auslegung[3] und der Auslegung nach dem Sinn und Zweck[4]. Die Gewichtung dieser Auslegungsgesichtspunkte ist allerdings durchaus unterschiedlich. In den USA werden, wie sogleich erläutert wird, historische Argumente oft sehr wichtig genommen[5], wohingegen systematisch-dogmatische Argumente, etwa der Gedanke der Einheit der Verfassung, weniger Relevanz haben[6].

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Eine Besonderheit der US-amerikanischen Verfassungsauslegung ist allerdings der von manchen vertretene Ansatz des „original meaning“. Hier wird nach der Bedeutung gesucht, die der Verfassungstext ursprünglich, also zu seiner Entstehungszeit, hatte[7]. Selbst der Wille des Verfassungsgebers wird hierbei von manchen nicht berücksichtigt[8]. Auf diese Weise soll dem Verfassungstext selbst mehr Gewicht zukommen als etwa den hierzu später ergangenen Entscheidungen des Supreme Court[9]. Dies kann bedeuten, dass der demokratisch gewählte Verfassungsgeber gegenüber dem Verfassungsgericht aufgewertet wird[10]. Außerdem soll dieser Interpretationsmodus mehr zur Rechtssicherheit beitragen als sein Gegenentwurf, der etwa mit den Stichworten „living“ oder „evolving constitution“ gekennzeichnet wird[11]. Denn die Bedeutung bestimmter von der Verfassung eingesetzter Begriffe zu einer bestimmten Zeit lässt sich leichter ermitteln, als etwa der Sinn und Zweck, den eine Verfassungsbestimmung heute am besten haben sollte[12]. Zudem solle eine Verfassung Stabilität vermitteln und nicht nach dem Willen der Verfassungsrichterinnen und -richter beliebig wandelbar sein[13]. Generell bestehe bei der teleologischen Interpretation die Gefahr, dass Richter ihre eigenen Vorstellungen an die Stelle der Vorstellungen des Gesetzgebers setzten[14].

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Aus deutscher Perspektive ist der Wunsch, an der ursprünglichen Wortbedeutung aus dem 18. Jahrhundert festzuhalten, ungewöhnlich[15]. Paul Kahn formuliert dies treffend[16]: The American concern with “original intent” for example, appears simply irrational – a kind of legal fetish – to the rest of the world. Eventuell spielt hier die fast religiöse Verehrung des Verfassungstextes[17] und der Verfassungsväter eine gewisse Rolle. Dennoch vermag der streng originalistische Ansatz nicht zu überzeugen[18]. Denn auch ein historisch interpretierter Wortlaut bietet Spielräume, geschichtliche Quellen sind vielfältig und ihre Aussagen nicht eindeutig[19]. Es kommt hinzu, dass die Methode, sich auf den ursprünglichen Text zu konzentrieren, bei Regelungslücken ins Leere geht. So spricht Art. I, section 8, cl. 12 USC von Armeen und Art. I, section 8, cl. 13 USC von der Marine, aber eine Luftwaffe ist in der Verfassung nicht erwähnt, weil 1787 noch unvorstellbar[20]. Dennoch besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kongress die Kompetenz hat, eine Luftwaffe einzurichten. Folglich müssen „Originalisten“ bei historisch umstrittenem Wortlaut oder Regelungslücken ebenfalls auf die anderen Interpretationsmethoden zurückgreifen[21], so dass die Unterschiede zur Gegenauffassung nur graduell sein können. Hier besteht die Gefahr der Inkonsistenz, nämlich dass ich mich nur solange auf die ursprüngliche Wortbedeutung beschränke, wie mir das Ergebnis passt[22]. Es erscheint ohnehin unplausibel, in komplexen Auslegungsfragen bestimmte Informationen, wie etwa die Absichten des Verfassungsgebers oder die Betrachtung der aktuellen Auswirkung bestimmter Auslegungsvarianten von vornherein auszuschließen.

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Überdies müssen die Verfechter der These, dass die ursprüngliche Wortbedeutung das entscheidende Auslegungsinstrument sei, eine Ausnahme für Präzedenzentscheidungen machen[23], die für die US-Verfassungsinterpretation indes eine zentrale Rolle spielen[24]. Diese Ausnahme reißt jedoch eine große Lücke in die Theorie.

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Es lässt sich ferner nicht zuverlässig sagen, dass die streng historische Wortlautinterpretation demokratischen Grundsätzen besser entspricht[25]. Wie ist mit Fällen von unglücklichen oder widersprüchlichen Formulierungen umzugehen, wenn die Absicht des Verfassungsgebers erkennbar ist? Warum sollte die heutige Bevölkerung streng an Überlegungen gebunden sein, die 200 Jahre zurückliegen?[26] Die originalistische Verfassungsinterpretation bevorzugt den Vergangenheitsbezug auf Kosten der Gegenwart[27].

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Als zentrales Argument gegen die Überbetonung des „original meaning“ erweist sich aber die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip. Viele Verfassungsbestimmungen wollen keine präzise Regel formulieren, deren genauer Wortlaut entscheidend ist, sondern eine Grundidee festlegen, etwa Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oder ein faires Gerichtsverfahren[28]. Prinzipien sind grundsätzlich entwicklungsoffen, um die Flexibilität der Verfassung im Wandel der Zeit zu sichern[29]; diese Sichtweise dürfte auch eher der Intention der Verfassungsväter entsprechen[30]. Eine solche Bewertung der Auslegungsfrage passt ebenfalls besser zur generellen Aufgabe von Recht, das Zusammenleben von Menschen (in der Gegenwart) gerecht zu ordnen[31], also auch flexibel auf technische oder moralische Veränderungen zu reagieren[32]. Diese Perspektive ist in den USA ebenfalls vertreten, wie folgendes Zitat des früheren Verfassungsrichters William Brennan zeigt[33]: „But the ultimate question must be: What do the words of the text mean in our time? For the genius of the Constitution rests not in any static meaning it might have had in a world that is dead and gone, but in the adaptability of its great principles to cope with current problems and current needs.”

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Eine weitere Besonderheit der US-amerikanischen Verfassungsauslegung besteht darin, dass keine Protokolle der verfassungsgebenden Versammlung in Philadelphia 1787 existieren. Als historisches Dokument, welches die Anliegen der Verfassungsväter zumindest annähernd abbildet, werden die sogenannten Federalist Papers genutzt[34], das sind 85 ausführliche Zeitungsartikel aus dem Zeitraum von Oktober 1787 bis August 1788, die von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay unter dem Pseudonym Publius verfasst wurden und insbesondere die Bürger in New York von den Vorzügen der neuen Verfassung überzeugen sollten. Noch in den Jahren 1990 bis 2010 zitierte der Supreme Court in mehr als 100 Entscheidungen aus dieser Textsammlung[35].

Einführung in das Verfassungsrecht der USA

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