Читать книгу Das Schlafrad - Gyrdir Eliasson - Страница 7
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ОглавлениеEine helle Sommernacht, aber nicht still, denn man hört dumpfes Motorengedröhn von der Festhalle her, vor der sich eine lärmende Menschenmenge drängt.
Ich bin mit einem grünen Segeltuchhut hergekommen und habe mir eine Whiskyflasche in die Manteltasche gesteckt, schlendere lässig auf die kleine Brücke über den Bach zu. Am Weg stehen halbschlafende und ein wenig staubige Butterblumen, und als mein Blick auf die Wiese oberhalb des Dorfes fällt, ist es, als läge ein Glanz auf ihnen, und man sieht für einen Augenblick die Flügel eines einzelnen Schmetterlings in der Ferne aufblinken. Ich spucke von der Brücke in den Bach hinunter, gehe weiter, biege bei den Benzintanks neben dem Konsumladen um die Ecke. Es sind altmodische Tanks, und da es hier üblich ist, nach den Tanzfesten Benzin zu stehlen, steht der Ladeninhaber jetzt hinter Gummistiefeln und Royalpuddings und späht ab und zu hinaus.
Als ich auf dem Platz ankomme, sind die Männer schon ganz schön betrunken und haben angefangen zu grölen. Aus der leichtgebauten Festhalle dringen schräge Harmonikatöne heraus und kriechen den Leuten draußen in die Ohren. Schnell fühle ich mich noch ausgeschlossener und einsamer in dieser Menschenmenge als in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Hütte. Zuerst würdigt mich niemand eines Blickes, dann ruft einer mit heiserer Stimme, hier sei ein Schriftsteller gekommen und es sei besser, das Maul zu halten. Es folgt ein Gelächter, was mich ziemlich unangenehm berührt, aber dann denke ich an die Wale in Trékyllisvík, und schon geht es mir besser. Ich sehe mich um, ziehe aus der Tasche grotesk harmlose Vampirzähne aus weißem Plastik, setze sie mir ein und schneide vor dem Nächststehenden eine Grimasse.
»Gibt es hier auch schon Klapperschlangen?« höre ich jemanden neben mir fragen. Ich nehme einen ordentlichen Schluck aus der Whiskyflasche, ziehe den Hut über die Augen und zwänge mich durch die Tür. Der Harmonikaspieler ist ganz schön in Fahrt und malträtiert sein Instrument. Ich erinnere mich, von seinem Lastwagen gehört zu haben und von dem jungen Seehund, den er in der Badewanne aufzog und zur Straßenarbeit mitnahm, als er herangewachsen war, und manchmal schlief der Seehund auf dem Vordersitz des Lastwagens und war sehr sauer, wenn man ihn weckte, biß dann blind um sich, kurzhaarig und fett.
Düsternis drinnen, ich ahne Gruppen dunkelgekleideter Wesen, sie kommen mir vor wie Traumgestalten. Starker Alkoholdunst in der Luft, und unter den Tischen biergefüllte Plastik-Brauseflaschen.
An einem Tisch in der Nähe der Tür sehe ich die Wange eines Mädchens, das sofort mein Interesse gefangennimmt, sie trägt ein blaues Kleid, ist schwarzhaarig, mit feinen Gesichtszügen. Ich wende mich ihr zu und lächle sie an.
»Das sind aber häßliche Vampirzähne«, ruft sie durch Harmonikaklang und Tanzlärm.
»Ich bin auf dem Weg hinauf zum Friedhof«, sage ich. »Willst du mir Gesellschaft leisten?«
Sie schüttelt sich.
»Nein, danke.«
»Wie du meinst, du hast ja keine Ahnung, wie bequem die Särge da oben sind«, sage ich mitleidsvoll und wende mich ab, schlendere hinaus. Ein paar Jungen kommen mit einem Rind am Halfter herangelaufen, als ich durch die Tür gehe. Es ist ein großer Stier, dem die Bösartigkeit anzusehen ist, es ist aber auch etwas Trauriges in seinen Augen, etwas ebenso Flehendes wie bei dem Seeungeheuer, etwas, das sagt: »Hilfe, ich bin so schrecklich böse!«
Schwarzblau schimmert der riesige Körper, nur ein weißer Fleck auf der Stirn. Die Hörner wirken unscheinbar. Die Jungen halten das Tier zwischen sich, zerren an den Seilen, die am Nasenring befestigt sind. Der Stier sträubt sich, die Seile sind straff gespannt, und ich empfinde erneut Sympathie mit ihm, doch dann befreit er sich aus dem Halfter und stürmt davon, genau dahin, wohin er wollte: zum Eingang der Festhalle. Vielleicht glaubt er, darin sei ein schöner Stall mit Kühen in sauber gefegten Boxen. Ich bin am Fuße der Treppe angekommen, der Bulle brüllt und schnaubt, läuft durch die Tür, daß es in den Rahmen knarrt, und jetzt fängt drinnen das Schreien und Tosen an. Ich kann solchen Lärm nicht ertragen.
Nächtliches Dämmerlicht hüllt alles ein, ich schlendere in der frischen Luft den Schotterweg hinauf zu den Gräbern.
»He!« höre ich jemanden nach mir rufen. Ein Mann von schätzungsweise sechzig Jahren läuft schwankend hinter mir her.
»Wohin gehst du?« fragt er, nach Atem ringend.
»Auf den Friedhof. Das ist doch wohl der Weg dahin«, sage ich.
»Laß mich mitkommen. Ich habe dort meine Frau.«
»Mein Beileid«, sage ich.
»Du bist im vorletzten Jahr auch schon hiergewesen«, sagt der Mann.
»Ja«, bestätige ich.
Er lächelt traurig. Grauhaarig, mit einem feinmaschigen Netz von Falten um seine wasserblauen Augen, er könnte ein Seemann sein oder ein Komiker oder beides.
»Sie ist voriges Jahr diesen Weg entlanggekommen«, sagt er dann. »Sie haben den Sarg hier am Hang fallen gelassen.«
Wir gingen schweigend an dem Stein vorbei, in dem die Elfen wohnen, er ist mit einer Art Elfenmoos bewachsen, es sind aber kahle Flecken auf ihm entstanden, und sie müßten die Außenfläche einmal in Ordnung bringen.
Das Tor quietscht in den Angeln, als wir uns hindurchzwängen. Der Friedhof ist schön im hellen Dämmerlicht, unter hohem Gras versunken, die Sense hat nur die Menschen getroffen. Gewöhnlich mäht der Pfarrer hier selbst, aber das Wetter war lange trocken, und da geht die Wäsche vor. Er hat die Wäscheklammern den ganzen Sommer über kaum aus der Hand legen können.
Ein wenig oberhalb schlummern die felsigen Berge, in warmem Dunkel, fast in Umarmung, jetzt überhaupt nicht unheimlich wie im Herbst, wenn die Stürme aus ihren Klüften toben und alle Fenster einschlagen wollen.
Der Mann tritt an eines der Gräber, streicht über das dichte Gras, als streichelte er ein zahmes Tier, und murmelt: »So, so.«
Ich wende mich ab. Leere die Flasche. Es stellt sich heraus, daß der Witwer eine fast noch volle Schnapsflasche hat. Wir setzen uns auf den Grabhügel, in Frieden und Freundschaft, glücklich und zufrieden, glücklichzufrieden, singen vor uns hin, stimmen der Frau ein Lied an, und unser Gesang klingt durch die Sommernacht, mischt sich mit dem Summen des Kraftwerks und den Geräuschen vom Dorf her.
»Sie war eine gute Frau. Eine solche Frau findet man nicht an jeder Ecke«, sagt der Mann. »Sie war schrecklich neugierig auf Friedhöfe, wo sie auch hinkam. Jetzt hat sich diese Neugier gelegt.«
Gleich hinter dem Friedhof liegt der Flugplatz, kurz und breit, wie mit einem großen, groben Bleistift in den Sand geritzt; ein Strich. In den herbstlichen Regengüssen bleiben die Flugzeuge da im Kies hängen und wollen sich losreißen, schlagen mit ihren Metallflügeln auf den Fliegenfänger ...
Wir gehen zurück zum Tanzlokal, der Mann schiebt eine Schubkarre, die er ohne zu fragen vom Friedhof mitgenommen hat, und er hat die Flasche auf der Karre, das Glas scheppert gegen die Seiten. Der Stier ist weg, der Ball zu Ende, die Männer torkeln über den Platz. Da sehe ich das Mädchen wieder. Sie steht an der Ecke, als warte sie auf jemanden, zieht die Schultern ein, ohne Mantel. Ich gehe auf sie zu, zum zweiten Mal in dieser Nacht, nehme nun endlich meine Vampirzähne heraus, ziehe die Jacke aus, lege sie ihr vorsichtig über die Schultern, beuge mich vor und küsse sie auf den Mund. Ehe ich mich versehe, schmiegt sie sich an mich, und wir gehen hinunter in den alten Teil des Dorfes. Die Straße führt unmittelbar am Meeresufer vorbei, hier fahren die betrunkenen Männer mit Vollgas entlang, und es ist ein wahres Wunder, daß noch niemand auf den steinigen Strand hinuntergestürzt ist, die Hände um das Steuer geklammert und die Reise ins Jenseits vor Augen.
In den Kriegsjahren explodierte eine Mine hier an den Klippen. Alle hatten sich im Keller der Schule versammelt und warteten schweigend in angstvoller Spannung auf die Explosion, und als endlich der Knall die Siedlung erschütterte, sagte jemand mit trauriger Stimme in die Kohlenstaubluft dort im Keller: »So furzen die Wale.«
Wir gingen die Straße entlang, das Mädchen in der Jacke, ich mit Pullover und Hut. Blieben bei einem kleinen rotbraunen Haus stehen, das in mir den Gedanken an Pfefferkuchen und Rhabarbergelee wachrief. Und darin war ein blaues Bett und ein Schaukelstuhl –