Читать книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi - Страница 10
Kak Foad im Hungerstreik
ОглавлениеWährend unseres Abendessens sagte mein Vater zu mir: „Komm morgen Vormittag in mein Geschäft.“
Ich entgegnete: „Warum soll ich kommen?“
Er war schlecht gelaunt. „Das ist egal. Wenn ich das sage, hast du zu kommen. Bevor du auf der Straße herumhängst, kannst du lieber etwas Sinnvolles tun und mir helfen. Außerdem ist morgen Freitag und du hast keine Schule.“
Meine Mutter unterbrach meinen Vater: „Warum kannst du das nicht in einem normalen Ton sagen? Weshalb bist du so schlecht gelaunt?“
„Du und deine Söhne!“, stöhnte er. „Ich brauche eben Hilfe. Ich erwarte neue Ware aus Teheran und außerdem gehe ich zum Freitagsgebet in die Moschee, wie ich das jeden Freitag tue.“
Um die schlechte Laune meines Vaters zu dämpfen, sagte ich: „Ja, ja, mein lieber Vater, ich komme morgen.“ Ich zwinkerte meiner Mutter zu, die heimlich zurücklächelte. Mein Vater setzte eine grimmige Miene auf.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück lief ich zum Geschäft meines Vaters auf dem Basar. Trotz des Sonnenscheins war es kalt. Der kühle Wind kam von Darsiran. Der Basar war voller Menschen, wie jeden Freitag, weil es der einzige freie Tag war und alle Ämter und Schulen geschlossen hatten. Die Beamten genossen die freie Zeit, um ihre Einkäufe meist für die ganze Woche zu erledigen. Es war ein Markttreiben in bunten Farben. Die Gemüsehändler schrien und präsentierten ihr frisch geerntetes Obst und Gemüse. Alte Bäuerinnen verkauften am Rande des Basars ihren selbstgemachten Joghurt und andere Köstlichkeiten wie Marmelade und selbstgebackene Kuchen. Die kleine Welt in Marivan war in vollem Gang. Das Stimmengewirr war laut und hatte seinen eigenen Charme.
Von Weitem sah ich, dass Arbeiter mit Schubkarren die Ware von dem Terminal der Busstation zum Geschäft meines Vaters brachten. Ich beeilte mich und fand meinen Vater schwitzend bei der Arbeit. Er sah mich und sagte: „Ach, bist du auch schon da! Das wird aber Zeit. Du siehst, was hier los ist.“ Er gab mir ein Messer zum Öffnen der vielen Kartons und fuhr fort: „Stelle alles ordentlich in die Regale.“
Während ich vor dem Laden die Ware auspackte, sah ich plötzlich Jewad auf seinem Motorrad. Hinter ihm saß jemand. Ich ließ alles stehen und liegen und rannte hinter ihm her. Laut rief ich: „Jewad, Jewad, bleib stehen!“
Er reagierte sofort und stoppte das Motorrad.
„Hallo Jewad, wo steckst du nur, ich habe dich tagelang nicht gesehen. Du hattest mir doch versprochen, mir ein Buch zu geben.“
Wie immer lächelte er. „Erst einmal einen guten Tag, wie geht es dir, Hussein? Darf ich dir einen Freund vorstellen. Das ist Abe Kaweh, der Bruder von Kak Foad.“
Ich antwortete mit einem freundlichen Gruß und sagte: „Ah ja, ich kenne Herrn Soltani. Ich helfe übrigens heute meinem Vater.“
„Bist du allein im Laden?“
„Nein, aber später geht mein Vater zum Gebet in die Moschee, dann werde ich hier allein sein.“
Jewad nickte: „Gut, wir müssen jetzt erst einmal ins Stadtzentrum fahren und kommen nachher zu dir, während dein Vater in der Moschee ist. Es gibt sehr viele Neuigkeiten, die ich dir erzählen will.“
Schnell ging ich in den Laden zurück und tat so, als hätte ich unbeobachtet gearbeitet. Mein Vater sagte nichts, doch sein Blick fragte, mit wem ich die wenigen Minuten gesprochen hatte. Na ja, Hauptsache, er war nicht böse mit mir. Ich gab mein Bestes. Ich hoffte, nach der Arbeit ein kleines Taschengeld zu bekommen, aber ich wusste, wie geizig mein Vater war. Im Grunde war das auch egal. Vielmehr war ich gespannt auf die Neuigkeiten, von denen Jewad gesprochen hatte. Bestimmt hatte es etwas mit Kak Foad zu tun. Ob er Kak Kaweh, der auf dem Motorrad mitgefahren war, mit in den Laden bringen würde? Abe Kaweh war Lehrer, ich hatte ihn aber nie bei den Gruppen im Kaffeehaus oder in Kak Jamschids Bücherei gesehen. Wenn ich mir alles zusammenreimte, mussten die Neuigkeiten mit Kak Foad zu tun haben. Seit dem Stromausfall und dem Streit mit dem Bürgermeister hatte man Kak Foad nicht mehr in unserer Stadt gesehen. Die Bevölkerung hatte viele Theorien, wo Kak Foad sein könnte. Die einen dachten, er sei als Leiter der Stromgesellschaft in eine andere Stadt versetzt worden, die anderen waren der Meinung, dass er von der Savak festgenommen worden sei. Hoffentlich war nichts Schlimmes mit Kak Foad passiert. Die Menschen redeten und quatschten und am Ende stimmte es nicht, wie so oft. Ich musste abwarten, was Abe Kaweh und Jewad mir sagen würden. Mein Vater hatte vor Kurzem von einem sehr wichtigen Thema für unsere Stadt gesprochen, aber ich hatte nicht genau verstanden, was er damit meinte. Hoffentlich würden die zwei Stunden schnell vergehen, bis mein Vater sich auf den Weg zur Moschee machte.
Endlich war es so weit. Aus dem großen Lautsprecher hörte ich Allah und Akbar. Man rief alle Gläubigen zum Freitagsgebet. Eilig sagte mein Vater: „Du passt hier im Laden auf, bis ich zurück bin. Wenn Kunden kommen und größere Bestellungen haben, schreibst du das alles unter dem Tagesdatum in das Buch hinter der Kasse. Das Buch ist sehr wichtig – auch für die Finanzbehörde. Schreibe alle Bestellungen auf und die kleineren Aufträge kannst du den Kunden gegen Barzahlung geben. Wenn jemand kommt, der hier anschreiben lässt, sagst du höflich: ‚Mein Vater ist bald zurück.‘ Verärgere diese Kunden nicht, denn sie haben oft kein Geld und zahlen erst nach einer Woche. Man muss auch diesen Menschen helfen, denn sie leben in einer anderen Welt. Die sind das so gewohnt. Manchmal ist es für sie auch eine gewisse Wertschätzung, wenn man sie anschreiben lässt.
„Ja, Vater, ich habe alles verstanden und passe auf den Laden auf.“
Mein Vater merkte, dass ich, statt ihn anzusehen, dauernd zum Ladenfenster herausschaute. „Hussein, wo bist du mit deinen Gedanken? Was schaust du ständig auf die Straße, wartest du auf jemanden?“
„Nein, nein, mein lieber Vater, gehe nun endlich zu deinem Freitagsgebet. Du kannst dich auf mich verlassen.“
Im selben Moment, als mein Vater den Laden verließ, kamen Jewad und Abe Kaweh mit dem Motorrad um die Ecke gefahren. Glück gehabt, dachte ich.
Jewad fing gleich an zu erzählen: „Wir waren gerade bei Freunden. Mit ihrer Hilfe und mit der ihrer Familien werden wir für die Gefangenen demonstrieren, damit alle Inhaftierten ihre Ziele erreichen und ihren Hungerstreik beenden. Ihr Leben und ihre Gesundheit sind in Gefahr. Manche sind schon vollkommen abgemagert. Das können wir nicht zulassen, sonst sterben sie alle. Besonders auch Kak Foad. Er ist Gefangener im Gefängnis in Sene und befindet sich im Hungerstreik.“
Wie ein Blitz schoss diese Nachricht durch mein Gehirn. „Warte mal, Jewad“, sagte ich. „Was sagst du da? Kak Foad ist im Gefängnis in Sene? Niemand hat das in unserer Stadt gewusst. Es gab verschiedene Geschichten, die erzählt wurden, aber das, was du sagst, ist wohl die Wahrheit.“
Jewad und Abe Kaweh lächelten mir zu und Jewad sagte: „Ja, so ist es. Er war vier Jahre in Teheran und wird seitdem in Sene gefangen gehalten. Aber wir wissen das auch erst seit zwei Wochen und seitdem bin ich sehr mit dieser Sache beschäftigt. Ich war nun schon einige Male in Sene.“
„Und wir dachten, er sei wegen des Streits mit dem Bürgermeister nach dem Stromausfall versetzt worden.“
Abe Kaweh ergriff das Wort: „Nein, nein, deswegen wurde er nicht festgenommen. Er war zu der Zeit Lehrer an der Technischen Universität in Sene. Dort nahm ihn die Savak fest.“
„Aber er war doch Leiter der Stromgesellschaft und Ingenieur bei uns in Marivan!?“ Ich verstand das Ganze nicht.
„Ja“, sagten beide gleichzeitig und Abe Kaweh sprach weiter: „Nach seinem Studium und Wehrdienst arbeitete er als Lehrer an der Universität und unterrichtete.“
„Aber warum ist er trotz des langen Studiums Lehrer geworden? Ein Ingenieur zu sein, ist doch viel besser als ein einfacher Lehrer.“
Abe Kaweh lachte. „Du hast recht, Hussein, wir wissen es auch nicht. Seine gesamte Familie fand es ungewöhnlich, aber es war nun mal seine Entscheidung, Lehrer zu werden und zu sein.“
Die beiden wollten wieder aufbrechen, aber ich hielt sie zurück: „Wartet! Ich will euch noch etwas fragen. Ich möchte gern morgen mit euch kommen, ich helfe euch und komme mit nach Sene.“
Jewad protestierte: „Nein, nein, morgen geht das nicht; vielleicht ein anderes Mal. Morgen ist Samstag und du musst zur Schule gehen. Spätestens übermorgen sind wir wieder hier und ich erzähle dir dann alles.“
„In Ordnung, Jewad, also wo treffen wir uns übermorgen?“ Ich wollte ihn nicht ohne Verabredung gehen lassen.
„Nun ja, komm ins Kaffeehaus, dort werden wir uns sehen.“
Kurz darauf waren die beiden mit dem Motorrad außer Sichtweite. Wenige Minuten später kam auch schon mein Vater aus der Moschee zurück und wollte wissen, ob Kunden da gewesen seien.
„Nein, Vater, in dieser Zeit ist niemand gekommen“, antwortete ich etwas verlegen. „Vielleicht waren deine Kunden ja auch alle in der Moschee.“
Er gab mir zwei Toman und sagte: „Du kannst jetzt nach Hause gehen. Ich brauche dich hier nicht mehr.“
Mein Vater war heute sehr großzügig, aber mit zwei Toman konnte man nicht die Welt erobern. Ich schlenderte nach Hause und wusste, dass der Betrag nicht ausreichte, um nach Sene fahren. Ach, dachte ich, ich kaufe mir ein Eis bei Isse Genat, der kleinen Konditorei mit dem leckersten Eis in der ganzen Stadt. Ich zahlte fünfzig Rial und würde den Rest sparen. Es war das Beste, das Geld zu verstecken, damit es mein Bruder Nasser mir nicht wegnahm.
Mein Eis schmeckte wunderbar, aber ich machte mir Gedanken wegen des Hungerstreiks. Es war mir unvorstellbar, dass man mehrere Wochen nichts aß und trank. Kak Foads makelloses Gesicht kam mir in den Sinn. Ich erinnerte mich an die Zeit. als er im Nachbarhaus von Rahimi gewohnt hatte. Meine Mutter sprach oft mit unserer Nachbarin über Foad. Sie erzählten nur Gutes über ihn. Er sei immer höflich und zuvorkommend, hieß es. Manche Mütter aus armen Familien waren neidisch auf Foads Mutter. Dade Fathe, die gegenüber von uns wohnte, sagte oft: „Nicht nur reiche Familien können ihre Kinder gut erziehen. Aber wie sollten wir als arme Familie ein Studium bezahlen? Wir sind nicht so reich wie die Soltani-Familie. Unser Kind muss arbeiten und Geld verdienen.“ Sie war aber auch der Meinung, dass Intelligenz nichts mir Arm oder Reich zu tun hatte. Es gab Kinder von stinkreichen Familien, die nicht einmal einen Schulabschluss hatten und von Haus aus dumm oder faul waren. Kak Foad war anders, auch wenn er aus einer reichen Familie kam. Man sah es ihm nicht an und er benahm sich wie einer von uns. Aber wenn er doch gelernter Ingenieur war, warum war er dann Lehrer geworden? Warum wurden alle guten Menschen in unserer Stadt Lehrer? Hatte das etwas mit der Hintergrundorganisation zu tun? Kak Foad mischte sich unter die Studenten und Schüler, redete mit ihnen und baute seine Organisation auf, falls es diese überhaupt gab. Im Grunde war es nur ein Gerücht. Man hörte, er sei politisch aktiv, aber niemand wusste Genaueres. Ich wollte so gern mehr erfahren und nach Sene fahren. Aber wie sollte das gehen ohne das nötige Geld?
Am Abend versuchte mein Vater die Nachrichten im Radio zu hören, doch es kam nur ein Rauschen aus dem Lautsprecher. Scheinbar fand er nicht die richtige Frequenz. Meine Mutter hielt sich die Ohren zu, bäumte sich vor meinem Vater auf und sagte: „Was soll das? Das ist ja unerträglich. Hör auf mit dem blöden Kasten und setz dich lieber vor den Fernseher. Wenn du die Nachrichten hören willst, kannst du das auch im Fernsehen tun und musst hier nicht so einen Krach mit dem blöden Radio machen.“
Mein Vater antwortete ihr: „Ach, was sagst du da! Im Fernsehen senden sie doch nur Propagandaberichte des Regimes. Es gibt dort keine Wahrheit. Die gibt es nur bei BBC oder anderen Sendern aus dem Ausland. Das Regime stellt Parasiten-Sender auf die ausländischen Sender ein, sodass man nichts Konkretes hören kann. Daher kommen diese unerträglichen Geräusche.“
Ich setzte mich in die Nähe meines Vaters auf das Sofa, um nichts von dem zu verpassen, was der BBC berichtete. Bis mein Vater die richtige Frequenz gefunden hatte, dauerte es eine halbe Stunde. Dann hörten wir einen Bericht über die Gefängnisse in Teheran, das Gassergefängnis und viele andere Orte. Es wurde berichtet, dass dort viele Gefangene auf übelste Weise gefoltert und dass Menschenrechte missbraucht wurden. Von Sene berichtete man nichts im BBC-Radio. In diesem Moment wollte ich meinem Vater sagen, dass im Gefängnis in Sene (Sanandaj) ebenfalls gefoltert wurde und dass die Gefangenen, unter anderem Foad, dort im Hungerstreik seien. Dann hielt ich mich aber zurück und sagte mir: Hussein, halte besser deinen Mund, sonst kommen Fragen über Fragen! Mein Vater würde es schon irgendwann von anderen hören.
An meine Mutter gewandt sagte er: „Ich denke, langsam kommen die Unruhen auch in unsere Region. Nicht umsonst sieht man den Schah und seine Frau nicht im Fernsehen. Von der BBC konnte ich hören, dass bald ausländische Menschenrechtler in unser Land kommen, um die Lage zu prüfen. Und sie wollen die Gefängnisse auf die Einhaltung der Menschenrechte untersuchen.“
„Ach, die finden immer Schuldige“, meldete sich meine Mutter zu Wort. „Woher sollen sie auch wissen, dass die Savak und die Gendarmen die jungen Studenten inhaftieren und foltern! Denk an den armen Hajeje, dem man die Finger- und Fußnägel ausgerissen hat, nur weil er Analphabet ist und sich nicht verteidigen konnte. Warum braucht der Schah so viele Geheimdienste? Wenn sie Schuldige finden wollen, finden sie welche und hängen sie kurzerhand auf. Die kleinen Beamten nehmen sie als Alibi und haben keine Skrupel. Menschenleben sind dem Regime doch egal. Damit beruhigen sie die Bevölkerung und es geht alles weiter wie bisher.
Die Suppe ist die gleiche Suppe, die vorher gekocht wurde, die Teller sind die gleichen Teller, die man zuvor benutzte, man hat sie nur gewaschen.
„Nein, Mele, du hast es noch nicht ganz verstanden. Es kommen Menschenrechtler aus dem Ausland, um hier alle Ungerechtigkeiten zu prüfen. Wenn das Ausland all diese Folter in Gefängnissen feststellt, wird das Land vom Westen nicht mehr unterstützt. Das musst du verstehen. Darum geht es. Bedenke, dass der Schah nur durch die Amerikaner und Europäer stark ist, sonst hätte er selbst keine Macht. Die schreiben ihm vor, was er zu tun und zu lassen hat. Wenn er die Solidarität der Amerikaner verliert, verliert er seine Macht und sein Regime und ist nur noch ein kleines Sandkorn in der Wüste.“
„Ach, bist du denn blind?“, konterte meine Mutter. „Die machen, was sie wollen, auch für das Ausland. Denkst du, die könnten nichts von dem vertuschen, was hier in den Gefängnissen täglich passiert? Was glaubst du, warum der Schah und seine Frau dauernd im Fernsehen zu sehen sind. Man sieht von ihnen nur gute Taten, die lassen Kurzberichte filmen, zeigen sich von der besten Seite, gehen ins Kinderhospital und putzen den Kindern die Nase, nur um von der Realität abzulenken. Wenn die Menschenrechtler aus dem Ausland kommen, gibt es doch nur offizielle Termine. Sie werden alles so vorbereiten, als wäre nichts Unrechtes in unserem Land geschehen. Die sind mit allen Wassern gewaschen und verschleiern, wo sie nur können. Ich sage dir, die werden einfach Savakleute und Beamte im Gefängnis vorführen. Die sehen schließlich gut genährt aus. Die wirklichen Insassen bekommt niemand nicht zu Gesicht. Die vom Ausland machen ein paar Fotos und gehen wieder nach Hause. So wird es sein. Es ist alles nur eine Verschleierungstaktik und die Ausländer schreiben dann in ihrem Bericht, dass der Iran die humansten Gefängnisse der Welt hat.“
Ich konnte der Diskussion meiner Eltern nicht länger zuhören, doch es war die Wahrheit. Ich wollte morgen nicht verschlafen sein und ging ins Bett. Und selbst da hörte ich noch die laute Diskussion meiner Eltern, bis ich endlich einschlief.
In den frühen Morgenstunden wachte ich mit verschlafenen Augen auf. Mein Hirn hatte noch Sequenzen des Traumes in der Erinnerung, wie es oft bei Träumen war. Das Unterbewusstsein arbeitete wohl die ganze Nacht. In meinem Traum hatte ich alle unschuldigen Gefangenen, die nur wegen ihrer politischen Meinung im Gefängnis waren, befreit. Alle meine Kameraden aus meiner Klasse hatten mir geholfen, indem wir Seile, an denen kleine Sägen befestigt waren, in die Fenster der Gefangenen warfen. Wir hatten Lastwagen organisiert, die vor den Gefängnismauern warteten, bis die Gefangenen in dem Moment über die Mauern kletterten, als das Licht des Turmes sie in der Dunkelheit nicht bemerkte. Ich hatte Kak Foad befreit, jedoch hatte er fast keine Kraft mehr gehabt, um über die Mauer zu klettern. Ich war eine Leiter hochgestiegen, um ihm zu helfen – und es klappte. Wir waren davongefahren und alle hatten mir applaudiert: „Hussein, du bist ein Held!“ Das war mein wunderbarer Traum der Befreiung gewesen, leider nur ein Traum!
Am nächsten Tag war mein Kopf voller Gedanken und ich wollte nun endlich wissen, was gerade in Sene passierte. Was war aus dem Hungerstreik der Gefangenen geworden und was war mit Kak Foad?
Nach der Schule lief ich direkt ins Kaffeehaus. Hier saßen Rentner, die Backgammon spielten, und ich konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Stinklangweilig kam es mir vor. Von meinem Taschengeld bestellte ich mir eine kleine Tasse Tee und wartete ab, ob jemand Bekanntes vorbeikam. Nach einer kleinen Weile trat ein schwitzender Junge durch die Tür und ging direkt zu Abe Balkis, der den Jungen fragte: „Was ist mit dir passiert, Junge, du bist ja ganz außer Atem.“
„Nein, ja, ja“, sprudelte er heraus. „Ich bin gerannt, ich hatte Glück. Ich komme gerade von Sene zurück, vielleicht haben sie mich wegen meiner Hose in Ruhe gelassen. Ich trage doch nur ganz normale Jeans. Jedenfalls haben sie am Bus-Terminal in Sene auf den Weg nach Marivan alle festgenommen. Jeder, der kurdische Kleidung trug, wurde einfach abgeführt und mit Polizeiautos weggebracht. Ich hatte verdammt großes Glück wegen der Jeans. Na ja, ich habe gelogen und denen gesagt, ich komme nicht aus Marivan. Und sie haben mir geglaubt.“
„Aha“, lachte Abe. „Dann haben deine Klamotten deinen Arsch vor der Savak gerettet. Aber erzähl: Warum ist jemand verdächtig, der aus Marivan kommt, und wird festgenommen?“
Ich gesellte mich zu Abe Balkis und dem Jungen, um ihnen zuzuhören.
Noch aufgeregt, trank der Junge zwei Schlucke von seinem Tee, den Abe Balkis im inzwischen serviert hatte, und begann zu erzählen: „Weißt du, Abe, ich kam aus dem Haus unserer Verwandten in der Agball Straße. Plötzlich sah ich viele Jugendliche aus Marivan und Sene, die dort demonstrierten.“ Manche von ihnen kannte ich. Sie waren laut und hatten Plakate. Sie warfen Steine, als die Polizei sie angriff. Sie schlugen auch Scheiben der Bank Milli und der Bank Sepah kaputt. Ein alter Lebensmittelladen-Besitzer schimpfte: ‚Die Marivaner sind unmöglich, sie können doch in ihrer eigenen Stadt demonstrieren, statt es hier zu tun!‘ Aber der alte Mann irrte. Die auffälligen jungen Leute waren aus Sene, nicht aus unserer Stadt. Diese Demonstranten trugen kurdische Kleidung, daher lag der Verdacht nahe, dass sie alle aus Marivan waren. Sene ist doch heute schon viel moderner. Dort tragen sie eher Jeans und westlich angehauchte Kleidung, ja eben moderner.“
„Wir verstehen“, sagte Abe Balkis, „aber sag doch mal: Aus welchem Grund wurde denn demonstriert?“
Der Junge in den Jeans schaute auch zu mir, weil er bemerkte, dass ich ihm mit offenem Mund zuhörte. „Es ging um den Hungerstreik der Gefangenen. Der Anführer des Hungerstreiks ist Foad Soltani. Ich weiß nicht, seit wann Foad inhaftiert ist. Er war doch vor Jahren der Leiter der Energiegesellschaft in Marivan – und dann kam der Stromausfall. So reden die Leute jedenfalls. Die Familienangehörigen und Freunde versammelten sich vor dem Gefängnis und wollten ihre inhaftierten Verwandten sehen. Jedoch erteilten die Savak und die Behörden den Angehörigen keine Erlaubnis. Deswegen fand diese Demonstration statt. Die Demonstranten wollten sich so lange vor den Gerichtshof setzen, bis man ihnen die Erlaubnis erteilte, ihre Verwandten zu besuchen. Sie würden dort nicht eher weggehen.“
„Ja“, folgerte der Kaffeehausbesitzer, „man sollte zurzeit nicht nach Sene fahren. Das ist viel zu gefährlich.“
Nachdem ich all diese Neuigkeiten gehört hatte, machte ich mir Sorgen um Jewad und Foads Bruder. Ich wollte den Jungen fragen, ob er die beiden dort gesehen hatte. Aber ich blieb still und beschloss, auf morgen zu warten. Da wollten sie ja zurück sein, zumindest hatte Jewad mir das versprochen.
Am nächsten Morgen war ich auf dem Weg zur Schule so in Gedanken versunken, dass ich auf einmal vor dem Kaffeehaus stand und nicht vor der Schule. Wahrscheinlich hatte mich meine Sorge um Jewad und Abe Kaweh zu sehr beschäftigt. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: dass den beiden nichts passiert war.
Ich beschloss, gleich im Kaffeehaus zu bleiben. In der Schule gab es an diesem Tag sowieso nichts großartig Wichtiges. Für meine Abwesenheit würde ich einfach eine Ausrede erfinden. Also betrat ich das Kaffeehaus und sah einen Bekannten, von dem ich wusste, dass er nie Geld bei sich hatte. Ich hatte keine Lust, ihm seinen Tee zu bezahlen, denn das bisschen Geld, das ich mithatte, reichte gerade mal für mich. Dann ging ich doch hinein und verdrückte mich in die hinterste Ecke des Kaffeehauses. Dort saß bereits jemand, der seinen Kopf über seinen Frühstücksteller neigte und offenbar müde war. Gott sei Dank, es war Jewad! Ich begrüßte ihn: „Hallo Jewad, wann bist du zurückgekommen?“
Er hob seinen Kopf und fragte: „Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht in der Schule?“
„Ist ja gut! Ich weiß, es ist nicht in Ordnung“, gab ich zu, „aber gestern war hier ein Junge, der schreckliche Sachen von Sene erzählt hat. Es seien viele aus Marivan verhaftet worden. Ich habe mir Sorgen um dich und Abe Kaweh gemacht und wollte wissen, was wirklich passiert ist. Deswegen bin ich hier und nicht in der Schule. Ich könnte mich auch nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wann bist du zurückgekommen? Und wo steckt Abe Kaweh?“
Jewad antwortete: „Abe Kaweh ist in Teheran.“
„Oh, was, in Teheran?“
„Jetzt setz dich erst mal hin, Hussein, und lass uns etwas essen. Ich habe gestern Morgen zuletzt gegessen.“
„Nein danke“, sagte ich. „Ich habe doch schon zu Hause gefrühstückt.“ Ich setzte mich zu Jewad. „Bist du gerade von Sene gekommen?“
„Nein, ich bin mit meinem Motorrad schon seit Mitternacht zurück. Aber erzähl mir, was der Junge gestern hier berichtet hat.“
„Der erzählte von der Demonstration in Sene, dass Demonstranten die Fensterscheiben von zwei Banken eingeschlagen haben und dass Steine auf Polizeiautos geworfen wurden. Am Busterminal wurden alle Marivaner festgenommen.“
„Ja, das stimmt, aber nur zum Teil. Nicht nur am Busterminal, sondern an der gesamten Strecke zwischen Sene und Marivan waren Kontrollen mit Blockaden aufgestellt. Die haben alle Autos kontrolliert und dann haben sie drei Busreisende festgenommen. Insgesamt sind fünfunddreißig Personen festgenommen worden, unter anderem auch die Mutter von Kak Foad und seine Schwester Maleke.“
Ich war nun erst recht begierig, alles zu hören, was passiert war. „Wenn du nicht mehr so müde bist, Jewad, musst du mir alles erzählen, ja?!“
„Ich erzähle dir das gern jetzt, Hussein“, lächelte Jewad höflich. „Wie du weißt, fuhren wir gestern mit den Familien Rawschan, Tude und Soltani und anderen Freunden nach Sene. Dort vor dem Gefängnis war es gefährlich für uns. Man hätte uns nicht erlaubt, die Gefangenen im Hungerstreik zu sehen. Viele andere Familien aus Sene waren auch dorthin gekommen. Wir alle wollten zum Gerichtshof gehen und unsere Forderungen stellen. Aber auch dort wurden wir abgewiesen. Wir ließen uns aber nicht wegschicken. Alle riefen: „Wir bleiben hier aus Solidarität, lesen Sie unsere Forderungen für die Gefangenen im Hungerstreik, deren Forderungen sind auch unsere, und zwar so lange, bis Sie die Forderungen erfüllen und der Hungerstreik beendet werden kann.“ Wir alle saßen im Gerichtshof. Die Polizei umringte uns, aber das war noch harmlos. Zwei Stunden später waren die Straßen leer, die Beamten und andere Geschäftsleute machten Feierabend. Erst dann griff uns die Polizei mit Wasserwerfern an. Sie kamen mit Schlagstöcken und griffen uns an, um uns zu vertreiben. Viele mutige Jugendliche wehrten sich und warfen mit Steinen auf die Polizisten. Schließlich schlugen sie einige Fensterscheiben von zwei Banken ein. Dabei gab es Verletzte. Auch Maleke, die Schwester von Foad, wurde verletzt. Die Polizei dachte, diese Jugendlichen seien aus Marivan gekommen, dabei waren die meisten aus Sene.“ Jewad trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: „Noch interessanter ist Sadigh Kamanger. Hussein, hast du von ihm gehört?“
„Nein, wer ist er?“ Ich kannte seinen Namen nicht.
„Sadigh Kamanger“, erklärte Jewad, „ist ein bekannter Anwalt aus Sene, der uns bislang sehr geholfen und uns Ratschläge gegeben hat, wie vorzugehen ist. Er pflegt auch Kontakt mit Kak Foad. Außerdem ist er Mitglied der Menschenrechtler seitens der Justiz. Ah, was wollte ich noch sagen, ja, also Kak Sadigh Kamanger hat uns auch erklärt, wie wir unsere Forderungen für die politisch Inhaftierten formulieren sollen. Einige von uns sind nach Teheran gefahren und haben versucht, dort mit Jabhe Melle und Christian Michel, dem Vorsitzenden des Roten Kreuzes in Iran, Kontakt aufzunehmen. Diese Kontaktpersonen für Menschenrechte im Iran nehmen unsere Forderungen auf und sorgen dafür, dass die Weltmedien über uns berichten. Abe Kaweh ist nach Teheran gefahren, um diese Vermittler zu treffen. Sie werden dort unsere Forderungen mit Hilfe von Sadigh Kamanger, Abdullah Baban und Abe Soltani vortragen.“
Ich sah Jewad an und sprach: „Ich bin sehr froh, dich zu kennen, sonst würde ich all diese Neuigkeiten niemals erfahren. Denkst du wirklich, dass ihre Reise nach Teheran Erfolg haben wird?“
Jewad nickte. „Ja, natürlich. Bedenke, dass wir verloren wären, wenn wir diese klugen Köpfe nicht auf unserer Seite hätten, auf der Seite der Gerechtigkeit. Einer wie Sadigh Kamanger kennt alle Gesetze, alle Paragraphen, er weiß, was er tut. Aber wir müssen die notwendige Geduld aufbringen. Wir hoffen alle auf gute Nachrichten und warten, bis sie zurück sind. Jetzt ist es schon so, dass die Savak und Behörden bereits zittern, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Das sind aber erst die ersten Schritte. Der Kampf geht weiter in alle Richtungen. Die gestrige Demonstration hat dieses Tabu an der Wurzel gepackt und wird in die Geschichte eingehen, weil sich bisher niemand getraut hat. Ein erster Ansatz. Die Menschen werden nicht mehr so viel Angst vor der Savak und der Behörde haben müssen.“ Jewad rieb sich die Augen. „Aber ich habe viel zu tun. Ich bin nur hier, um einige Arbeiten zu erledigen; dann muss ich zurück nach Sene. Du könntest übrigens hier für mich beziehungsweise für uns einiges erledigen, bis ich aus Sene zurück bin, wenn du magst. Ich werde nämlich wieder hinfahren.“
„Was kann ich tun?“, fragte ich. Es machte mich in meinem Herzen froh, dass ich behilflich sein konnte. „Jewad, ich bin überzeugt davon. Ich mache mit. Sag mir, was ich tun soll.“ Ich konnte es kaum noch abwarten.
„Nun mal langsam, Hussein! Also, in meiner Tasche habe ich Handzettel mit den Forderungen der Demonstranten und Gefangenen, die sich im Hungerstreik befinden. Diese Handzettel wirfst du hinter die Eingangstüren der Häuser in unserer Stadt. Jedoch nicht tagsüber! Geh nur in der Dunkelheit auf die Straße und achte immer darauf, dass dich niemand sieht und dich vor allem nicht mit den Handzetteln erwischt. Hefte die Zettel im Dunkeln an die Bäume in den Parks, also überall dort, wo sich tagsüber viele Menschen aufhalten. Am besten ziehst du dich dunkel an und trägst eine Mütze. Du gerätst in Gefahr, wenn dich jemand sieht.“
Ich nickte zu allem und war stolz, dabei sein zu dürfen.
Jewad war noch nicht fertig mit seinen Hinweisen. Er lächelte mich an und sagte: „Es ist eine große Verantwortung, die du übernimmst. Es ist für unsere gute Sache und für den Kampf um Gerechtigkeit. Sei immer auf der Hut, weil du dich auch selbst schützen musst. Wenn du mir versprichst, auf dich aufzupassen, darfst du diese Aufgabe übernehmen.“
Ich nahm all die Handzettel entgegen und verkündete: „Ja mein Freund, ich mache das. Ich mache das so gut ich kann.“
Ich verabschiedete mich, denn Jewad hielt es für besser, wenn ich vor ihm das Kaffeehaus verließ. Vermutlich aus Sicherheitsgründen. Jewad wollte hier nur seine Arbeit erledigen und dann schnell nach Sene zurückfahren.
Ich klemmte die Plastiktasche mit den Handzetteln fest unter meinen Arm und fragte mich, was passieren würde, wenn mich die Savak oder die Polizei erwischte. Ach, dachte ich, dann komme ich eben ins Gefängnis und trete in den Hungerstreik – wie die anderen auch! Aber wenn sie mich foltern, mir die Fingernägel herausreißen, was sollen dann meine Eltern machen? Meine Mutter würde bitterlich weinen. Mein Vater hingegen würde stolz durch die Stadt laufen und verkünden, dass sein Sohn als politisch Gefangener im Gefängnis saß. Er zeigt sich gern etwas traurig, wäre aber im Herzen stolz.
Ich wollte unterwegs in die Tasche schauen, dachte aber, dass das auf offener Straße zu gefährlich sei. Doch wenn ich jetzt nach Hause gehen würde, wüsste meine Mutter, dass ich nicht in der Schule gewesen war. Was sollte ich also den ganzen Vormittag tun? Ich beschloss, in den Park zu gehen. Um diese Uhrzeit waren dort kaum Menschen. Unterwegs machte ich mir bereits Gedanken, wie ich die Zettel verteilen würde. Ich nahm mir vor, nach dem Abendessen heimlich oder mit einer Ausrede rauszugehen. In der Dunkelheit würde ich dann die Zettel hinter die Eingangstüren der Häuser werfen.
Unter einem Baum im Park schaute ich mir vorsichtig die Zettel an. Sie beinhalteten die Forderung der Gefangenen und die Erklärungen und Forderungen der Demonstranten. Ich begann zu lesen.
FORDERUNGEN
• Keine Folter
• Verbesserungen der Sauberkeit und Gesundheit im Gefängnis
• Mehr Zeit zum Duschen und für Hygiene
• Verbesserung der Mahlzeiten (Menge und Qualität)
• Mehr Zeit für frische Luft – Spazieren gehen im Hof
• Erlaubnis für das Betreiben von Weltempfängern, um in der Zelle Radio zu hören
• Erlaubnis für das Aufstellen einer Kochplatte, um Essen warm zu machen
• Besuchserlaubnis für unsere Verwandten
• Arztbesuche
• Keine Beleidigungen durch Beamte gegen Gefangene
Erklärung
Wir, die Bevölkerung von Sanandaj aus allen Schichten der Bevölkerung – Intellektuelle, Lehrerinnen und Lehrer, Studenten, Schüler, Beamtinnen und Beamte und viele mehr –, sind in großer Sorge und traurig über das in Sanandaj am vergangen Samstag Geschehene. Wir alle wollen, dass wir, ebenso wie die iranische Bevölkerung nach den Tagen ihres Widerstands, unsere Freiheit und Rechte zurückbekommen. Die Anhänger des Regimes verhalten sich wie wilde Tiere gegenüber unserer Bevölkerung. Mit ihrem Verhalten will man das Volk ruhigstellen, Wir wählen für Demokratie und Freiheit. Es ist der falsche Weg, den das jetzige Regime einschlägt. Wir sind dagegen, wenn die Polizisten mit Gewalt und Schlagstöcken kommen und unsere friedlichen Demonstrationen mit Gewalt verhindern. Die jungen Menschen kann man nicht kontrollieren. Unsere Jugend kann sich gegen die Gewalt des Regimes nur mit Gewalt wehren. Menschenrechte müssen gesetzlich verankert und praktiziert werden. Wir alle wissen, dass politisch Gefangene in Sene seit zwei Wochen im Hungerstreik sind. Wir demonstrieren wegen der Missstände im Gefängnis – mangelnde Sauberkeit, schlechtes Essen, unmenschliches Verhalten vonseiten der Gefängnisbehörde. Alle Familien der Gefangenen machen sich große Sorgen um das Leben ihrer Lieben. Die Familien sind am Samstag zum Gerichtshof gegangen, um angehört zu werden. Man wies sie ab und droht ihnen, die Polizei zu rufen und sie festnehmen zu lassen. Ja, das war die Reaktion der Staatsanwaltschaft, die eigentlich alles Unrecht bekämpfen sollte. Aber die sind auch nur Trittbrettfahrer des Regimes.
Bewaffnete Beamte wollten mit alten Männern, Frauen und Kindern kämpfen, die keine Waffen trugen und nichts weiter tun konnten, als ihre Meinung zu sagen. Sie riefen: „Wir sind keine Feinde und zeigen lediglich die Solidarität mit den Gefangenen.“ Wir haben friedlich demonstriert, bis uns die Polizei mit aller Gewalt angegriffen hat. Mit Schlagstöcken und Schüssen wurden wir vertrieben. Mehrere von uns wurden festgenommen. Die Gefangenen befinden sich in Lebensgefahr. Manche ihrer Familienmitglieder nahm man fest und steckte sie ebenfalls ins Gefängnis. Aus Protest verweilen wir an diesem Ort, bis unsere Forderungen akzeptiert werden:
• Das Ende des Hungerstreiks
• Alle Forderungen der Gefangenen werden akzeptiert
• Alle Menschenrechte sind auf die Gefangenen anzuwenden
• Sofortige medizinische Versorgung aller Gefangenen
• Sofortige Freilassung der Demonstranten vom vergangenen Samstag
• Bestrafung der Beamten und Polizisten, die am Samstag die Menschen auf der Straße geschlagen und verletzt haben
Wir betonen noch einmal: Wir bleiben so lange hier, bis all unsere Forderungen erfüllt sind. Wir fordern demokratische Rechte für alle Menschen im Iran und auch derer im Ausland, die uns helfen. Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, werden wir weitere Maßnahmen im Sinne unseres „freiheitsdenkenden Volkes“ ergreifen. Kommt man unseren Forderungen nicht nach, wird es zu weiteren Eskalationen in unserer Stadt kommen, die das Regime zu verantworten hat.
Nachdem ich den Text gelesen hatte, packte ich die Flugblätter wieder in die Plastiktasche und lief nach Hause. Unterwegs überlegte ich mir, wo ich die Flugblätter am besten platzieren würde. Die Fensterscheibe an der Bäckerei wäre ein sehr guter Platz. Bevor die Savak-Leute dazu kämen, das Flugblatt abzureißen, hätten es früh morgens schon viele Menschen gelesen. Wenn jedoch der Bäcker aus Angst es selbst abnahm, bevor seine Kunden kamen, würde es nichts nützen. Und wie wäre es gegenüber der Bäckerei an der dunkel gestrichenen Wand? Da käme das helle Blatt gut zu Geltung. Ja, das war besser, dort wollte ich es ankleben. Das nächste Flugblatt sah ich im Geiste schon vor dem Hamam am Zoneneingang hängen, da es dort morgens zahlreiche Besucher sehen würden. Bevor sie zum Morgengebet gingen, besuchten viele das Hamam. Auch der Eingang der Moschee schien mir geeignet für all diejenigen, die nicht das Hamam besuchten. Weitere Flugblätter würde ich an geeigneten Plätzen in der Stadt aufhängen. Den Rest wollte ich für die Schule aufbewahren. Etwas an die Eingangstür der Schule zu kleben lohnte sich nicht, denn der Hausmeister würde es sicher sofort vernichten. Auf jeden Fall wollte ich vor Schulbeginn die Flugblätter vor die einzelnen Klassenzimmer legen. Die Mitschüler würden sie unter sich verteilen. Das ersparte mir, zu der einzigen Rolle Klebeband, die wir zu Hause liegen hatten, weitere Rollen zu kaufen. Taschengeld hatte ich sowieso keines mehr.
Als ich zu Hause war, suchte ich überall nach dem Klebeband, fand es aber nicht. Ich wollte meine Mutter fragen, blieb dann aber still, weil ich nicht wollte, dass sie sich erkundigte, wozu ich es brauchte. Ich wollte sie ja nicht unnötig belügen.
Da erinnerte ich mich plötzlich an meinen wunderschönen, selbst gebastelten Papierdrachen. Er war aus rotem und blauem Papier und hatte Augen und einen Mund. An seine Arme und den Schwanz hatte ich bunte Papierbänder geklebt und ihn in dem Himmel aufsteigen lassen. Ja, das war eine Idee, wie bei meinem Drachen einen Klebstoff aus Mehl und Wasser herzustellen. Das funktionierte auch. Ich besorgte mir aus der Küche einige Löffel Mehl und eine kleine Plastiktüte, dazu einen Löffel, den ich später wieder zurücklegen musste. Nach dem Abendessen, schlich ich mich in mein Zimmer und erklärte, ich müsse für die Schule etwas lesen. Durch das Fenster stieg ich in den Hof, mischte dem Mehl etwas Wasser hinzu und fertig war mein Klebematerial. Ich kletterte wieder in mein Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Mit meiner dunklen Mütze schlich ich mich aus dem Haus, als alle schliefen. Ich war aufgeregt. Die Straßen waren ruhig. Die Stadt schlief. Ich lief viele Straßen auf und ab, immer an den Hauswänden entlang, und warf die Flugblätter über die Eingangstüren der Höfe. Wenn ein Auto zu sehen war, kauerte ich mich in eine Ecke und versteckte mein Gesicht in der Dunkelheit, ging dann weiter und mied dabei Laternen. Niemand durfte mich erwischen. Ich wollte meine Aufgabe gut erfüllen. Kritisch erschien es mir gegenüber der Bäckerei, aber ich schaffte es. Innerhalb von Sekunden hing das Plakat und auch vor dem Hamam und der Moschee wurde ich nicht behelligt. Ich wusste, das war nicht ungefährlich, und ich war außer Atem vor lauter Aufregung. Nachdem ich alles erledigt hatte, blieben mir noch genügend Flugblätter für die Schule. Es war sehr spät in der Nacht und ich musste morgen sehr früh in der Schule sein, und zwar vor allen anderen Schülern. Das Fenster hatte ich nur angelehnt und so kletterte in unbemerkt wieder in mein Zimmer. Ich war total erschöpft und legte die Utensilien für die Handzettelaktion unter mein Kopfkissen. Mit unruhigen Gedanken an die Gefangenen schlief ich kurz darauf ein.
Es war still in unserem Haus und niemand hatte bemerkt, dass ich unterwegs gewesen war. Es war früh morgens und meine Mutter stand gerade auf. Schnell stürzte ich eine Tasse Tee hinunter und verschlang mein Brot mit Joghurt in Windeseile. Ich griff nach meinen Schulsachen und der Tüte mit den Handzetteln und wollte das Haus verlassen. Meine Mutter musste bemerkt haben, wie hektisch ich war. „Mein Junge, was ist heute mit dir los? Warum bist du so unruhig? Du hast doch noch Zeit, warum willst du jetzt schon zur Schule?“
„Ach, Mama“, erklärte ich, „unser Lehrer, Herr Kursch, fängt heute ein neues Thema an. Ich will mit Amin vor dem Unterricht noch darüber sprechen. Du weißt doch, Amin ist einer der Schlauesten in unserer Klasse, er hat immer die beste Note 20.“
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter sagte mir, dass sie mir nicht glaubte. „Mein Junge, warte noch einen Moment, du nimmst am besten Nasser gleich mit.“
„Nein, ich muss sofort weg!“ Ich unterdrückte die aufkommende Panik.
Zum Glück erlaubte sie mir zu gehen: „Dann lauf, wenn es dir so wichtig ist.“
Ich rannte aus dem Haus und auf dem Weg schaute ich nach meinen aufgeklebten Plakaten. Gegenüber unserem Haus bei Dade Fathe hing das Plakat noch. Da war ich stolz und überflog es noch einmal. Bestimmt hat es Dade Fathe noch nicht entdeckt. Schnell lief ich weiter. Auch das Plakat an der dunklen Wand gegenüber der Bäckerei hing noch. Einige ältere Männer standen davor und lasen es.
Ich war stolz auf mich. Die Nachtaktion hatte sich gelohnt.
Als ich an der Schule ankam, war die Eingangstür bereits geöffnet. Ich sah den Hausmeister, der bei den Mülltonnen beschäftigt war. Er durfte mich um diese Uhrzeit nicht sehen. Heimlich und leise betrat ich das Schulgebäude. Ich musste verdammt gut aufpassen, sonst würde mich jemand erwischen und den Schuldirektor benachrichtigen. Dann hätte ich ein großes Problem. Ich verbarg mich hinter der Schuleingangstür und beobachte den Hausmeister, bis er in seinem Hausmeisterraum verschwand. Unbemerkt rannte ich die Treppen hoch und legte vor jedes Klassenzimmer zwei Flugblätter. Dann versteckte ich mich unter einem Tisch im Flur, bis ich vom Hof her laute Stimmen hörte. Die ersten Schüler waren angekommen und ich war beruhigt. Ich schlich leise zurück in den Hof und mischte mich unter meine Mitschüler, sodass es so aussah, als sei auch ich gerade erst angekommen. Aus Verlegenheit sprach ich mit manchen über belanglose Dinge, aber mein Herz klopfte wie verrückt. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn sie alle die Flugblätter sahen. Was würden sie sagen? Wie würden die Lehrer reagieren? Vielleicht brachten sie uns dann alle zurück auf den Schulhof, um herauszufinden, wer verdächtig war.
Ich ging als Letzter in unseren Klassenraum und sah, wie sich meine Schulkameraden über einen Tisch beugten und das Flugblatt lasen. Ich gab mich interessiert und fragte: „Hallo, was lest ihr da? Ist das die neue Hausordnung der Schule?“
Amin, der neben mir stand, antwortete: „Nein, das sind Flugblätter. Jemand hat sie vor den Klassenraum gelegt.“
„Zeig mal her!“ Als auch ich beim Lesen war, kam Herr Kursch in den Klassenraum. Er schien verwundert. „Setzt euch. Was lest ihr da? Gebt mir das Blatt.“ Nachdem er es überflogen hatte, sagte er: „Gut, Kinder, ich lese es euch vor.“ Sein Gesicht zeigte ein bitteres Lächeln. Er war doch als mutiger Lehrer bekannt und galt als Regime-Gegner.
Ungeduldig fragte ich: „Herr Kursch, was denken Sie?“
Er lief im Klassenraum hin und her, an der Wandtafel vorbei, schloss seine Augen und öffnete sie wieder. Das ging eine ganze Weile so und wir alle schauten ihn mit großen Augen an. Plötzlich sagte er: „Wisst ihr, liebe Kinder, das Flugblatt ist gut geschrieben. Wir werden es vervielfältigen und weiter verteilen. Ich bin nicht gegen den Inhalt der Flugblätter, aber ich frage mich: Warum erst jetzt? Das hätte man vor vielen Jahren schon tun müssen. Aber man wäre vor Jahren auch sehr schnell im Gefängnis gelandet. Ich habe hohe Achtung vor den Gefangen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. In allen großen Städten wird öffentlich demonstriert, während bei uns in Marivan diese Flugblätter heimlich verteilt werden. Diejenigen, die das tun, nenne ich Feiglinge. Sie wollen Vorbilder des hohen Gedankenguts sein, verstecken aber ihr Gesicht. Die Zeit ist vorbei, wo man wie ein Strauß den Kopf in den Sand steckte. Die Freiheit und der Kampf für Gerechtigkeit müssen, wie auch in anderen Städten, öffentlich gezeigt werden, indem wir auf die Straße gehen und demonstrieren. Sonst wird nichts passieren.“
Für mich war es wie ein Schlag ins Gesicht, was unser Lehrer da von sich gab. Mein Herz krampfte sich zusammen, und obwohl ich doch heute Nacht der mutigste Mensch in Marivan gewesen war, sollte ich nun ein Feigling sein?! Ich saß auf meinem Stuhl wie ein Häufchen Elend und fühlte mich schuldig. Ich wollte und würde kein Feigling sein. Das waren meine Gedanken, bevor ich dem Lehrer weiter folgen konnte. Ich fand es gemein, gemein für meine Aktion in dieser Nacht. Aber es wusste ja niemand, dass ich es war, der die Flugblätter verteilt hatte. Also atmete ich tief durch und nach einigen Minuten fühlte sich mein hitziger Kopf wieder halbwegs normal an. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht zu explodieren, war ich doch so stolz auf mein Mitwirken an der Aktion.
Herr Kursch setzte sich wieder an sein Lehrerpult und begann mit seinem Tagesgeschäft. „Also, liebe Kinder, wenn keiner mehr Fragen hat, fangen wir heute ein neues Thema an. Es lautet: ‚Wie bereitet man ein Referat, eine Reportage vor?‘ Geht nacheinander an die Tafel und schreibt dort eure Gedanken auf.“
Als ich an der Reihe war, ging ich nach vorn, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Ich war bestimmt sehr blass, weil mich das schlechte Gewissen plagte. Aber dann war ich an der Tafel doch souverän. Meine Gedanken waren zwar bei der Reaktion unseres Lehrers auf die Flugblätter, aber ich ließ es mir nicht anmerken. In diesem Moment dachte ich: Herr Kursch, warum sind Sie nur so ungerecht? Ich war es doch, der heute Nacht Mut aufgebracht hat! Na ja, er konnte es nicht besser wissen. In meinem Kopf schrie es: „Feigling, Feigling, Feigling!“ Das würde ja bedeuten, dass alle in der Untergrundorganisation Feiglinge waren. Alle! Kak Kawe, Kak Shwane, Jewad und all die anderen, die im Gefängnis waren, sollten Feiglinge sein? Nein, dachte ich, als ich vor der Tafel stand. Herr Kursch, Sie haben unrecht! All diese mutigen Freunde waren in meinem Augen Helden, und der Held der letzten Nacht war ich in Marivan. Es blieb mein Geheimnis. Was nützte es, in der Öffentlichkeit auch noch seinen Mund aufzumachen? Dann kämen noch mehr Menschen durch die Savak in Gefängnis. Was sollte das bringen? Unser Lehrer machte sich das zu leicht. Vielleicht war er auch ein Feigling, sonst hätte er schon viel früher etwas tun können.
Ich schrieb an die Tafel: „Eine Reportage muss der Wahrheit entsprechen.“ Mehr Worte hatte ich im Moment nicht übrig. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und war sehr, ja sehr erleichtert, als ich die Klingel hörte. Endlich konnte ich dieser Situation entfliehen!
Gleich nach der Schule lief ich zum Kaffeehaus. Unterwegs fand ich keine aufgeklebten Plakate mehr. Ach, das war auch egal! Ich war sowieso nicht mehr stolz und meine Begeisterung war verblasst. Es war für mich eine große Niederlage, ein Feigling zu sein. Im Kaffeehaus erwartete mich die nächste Enttäuschung. Niemand war da, dem ich meine Gedanken hätte mitteilen können. Jewad fehlte mir in diesem Moment. Nur die Alten saßen da und spielten ihre Brettspiele. Ein Tag voller Erwartungen entpuppte sich als ein Tag des Versagens.
Traurig und müde ging ich nach Hause. Ich wurde diesen Gedanke, ein Feigling zu sein, einfach nicht los. Ich fragte mich: Wieso ist man bei einer guten Tat von der Meinung anderer anhängig? Weshalb ist dieses Verlangen des Lobes da? Wie ist der Mensch und was erwartet er von seiner Umwelt? Zählt man nichts, wenn man alles für sich behalten muss? Dann wird es doch niemand bemerken! Ich beschloss, mich in Geduld zu üben und alles für mich zu behalten. Ich hatte keine andere Wahl. Schweigen, so glaubte ich, war eine hohe Kunst, die ein Mensch zu beherrschen in der Lage war.
Abends beobachtete ich meine Eltern. Mein Vater versuchte, den BBC-Sender einzustellen. Dieses Mal war der Sender klar und kein Parasitensender störte die Übertragung.
„Na, das klappt ja heute besser mit deiner Suche nach der richtigen Frequenz!“, bemerkte meine Mutter.
„Stimmt“, bestätigte mein Vater: „Die Welt hat sich verändert. Der Schah und die Savak können nicht mehr alles boykottieren.“
„Ach“, mischte sich meine Mutter ein, „du und dein Radio, ihr wisst weniger als ich. Ich brauche kein Radio, keine Zeitung, keine Batterie, keinen Strom.“
Mein Vater runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Nichts, nur dass Dade Fathe Weltnachrichten hat. Es gibt Neuigkeiten in der Stadt und der Umgebung. Nicht nur oberflächliche Nachrichten aus dem Radio, sondern reale Nachrichten über das, was in der Region und in unserem Land passiert.“
Mein Vater lachte. „Hast du wieder mit Dade Fathe gequatscht? Was hat sie denn heute wieder für einen Unsinn über den Zaun erzählt?“
Meine Mutter war verärgert darüber, dass ihr Mann mal wieder das Oberhaupt der Familie herauskehrte. Er musste immer recht haben. Ihre Antwort kam laut und ungehalten: „Erzähl du mir, was du gehört hast, dann erzähle ich dir, was ich gehört habe.“
Mein Vater umarmte unsere Mutter, um sie gnädig zu stimmen. „Ach, mein lieber Schatz, nun erzähl schon, was dir Dade Fathe erzählt hat!“
Gespannt saß ich auf dem Teppich, hob mein Buch vor mein Gesicht und tat so, als würde mich die Diskussion meiner Eltern überhaupt nicht interessieren. Bestimmt hatte das, was gleich kommen würde, etwas mit unseren Flugblättern zu tun. Was sollte es sonst für Neuigkeiten in unserer Stadt geben?
Meine Mutter sagte zu meinem Vater, bevor sie vertraulich ihre Hand auf die seine legte: „Ja gut, ich erzähle dir, was ich heute gehört habe: Dade Fathe hat gehört, dass Kak Foad, der junge Ingenieur, der Leiter des Stromwerkes in unserer Stadt war, im Gefängnis in einer lebensbedrohlichen Lage ist. Als Aktivist gegen das Regime ist er seit einigen Jahren im Gefängnis und befindet sich gerade im Hungerstreik. Er kämpft zusammen mit anderen politisch Gefangenen um bessere Haftbedingungen. Aber jetzt ist sein Leben durch den Hungerstreik bedroht.“
Mein Vater lachte. „Aha, und das sollen deine Neuigkeiten sein? Das weiß inzwischen die ganze Stadt! Ich habe doch bereits heute Morgen an der dunklen Wand bei Dade Fathe ein Plakat gelesen.“
„Aber mein lieber Schatz“, wandte meine Mutter ein, „du weißt doch, dass Dade Fathe nicht lesen kann. Sie ist Analphabetin.“
Mein Vater kommentierte den Einwurf mit einer wegwerfenden Handbewegung und sagte: „Bestimmt hat ihr jemand das Plakat vorgelesen. Und dann ist sie durch die Stadt gerannt, um die Neuigkeiten zu verbreiten. Du weißt doch, sie ist wie eine verbale Zeitung. Nichts bleibt ihr verborgen und nichts bleibt bei ihr. Die ist halt so. Wer diese Flugblätter verteilt hat, wusste genau, wie sich die Nachricht über dieses Plappermaul in der Stadt verbreiten würde. Das war bestimmt jemand aus unserer Stadt. Aber wer ist so klug, auf diese Weise den Inhalt des Flugblattes zu verbreiten?“
„Das ist die eine Seite der Medaille“, ergriff meine Mutter wieder das Wort, „aber was soll denn nun die arme Mutter von Foad tun? Wenn eines unserer Kinder in einer ähnlichen Situation wäre, würde ich vor Angst zittern.“
Mein Vater lenkte ein. „Ja, das ist ein schweres Los für eine Mutter. Denk einfach nicht so viel daran. Glaub mir, das Schah-Regime ist bald Vergangenheit.“
Ich ließ das Buch in meinen Schoß sinken und mischte mich behutsam in die Diskussion meiner Eltern ein. „So, Papa, und was hast du gehört?“
Ich sah Erstaunen in seinem Blick. „Junge, du bist noch zu jung für die Weltnachrichten, du brauchst noch nicht die bösen Nachrichten dieser Welt zu hören. Geh lieber in dein Bett, damit du morgen in der Schule etwas lernst. Es hat noch niemandem etwas gebracht, sich politisch zu interessieren und zu engagieren.“
Nun wurde auch meine Mutter ungeduldig. „Sag jetzt endlich, was du in den Nachrichten gehört hast!“ Sie war sehr energisch und mein Vater kannte diesen Ton.
Er antwortete: „Der Schah hat gestern den Premierminister entlassen. Seit Tagen gibt es in Teheran und in anderen Großstädten Demonstrationen und die Menschen rufen laut: „Nieder mit diesem Regime!“ Das Schah-Regime und die Savak haben mit Militär reagiert, aber ohne Erfolg. Die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Scheinbar will der Schah ein neues Ministerium bilden.“ Mein Vater hielt inne, hob seine Hand und deutete uns an, dem Radiobericht zu lauschen. Ein Bericht aus Sanandaj.
Der Nachrichtensprecher von BBC berichtete, dass die seit fast drei Wochen im Gefängnis von Sanandaj im Hungerstreik befindlichen politischen Gefangenen lebensbedrohlich gefährdet seien. Sanandaj lag im westlichen Iran, eine große Stadt, aber auch eine Provinzstadt, in der vielen Kurden lebten, die zu einer Minderheit der Volksgruppen im Iran zählten. Wie in vielen Großstädten des Iran gab es auch hier ein großes Gefängnis, in dem nicht nur Straftäter wie Diebe oder Mörder inhaftiert wurden, sondern auch Regimegegner, wie zum Beispiel Schriftsteller, in Bezug auf die Kurdenfrage politisch engagierte Bürger, Oppositionsparteimitglieder und Aktivisten von Untergrundorganisationen, die für ihre Rechte kämpften. Es wurden Stimmen eingeblendet, die die gerechte Behandlung der zwölf inhaftierten politischen Gefangenen forderten. Der BBC-Moderator war mit einigen Reportern im ganzen Land per Telefon verbunden. Diese berichteten von den sich im Hungerstreik befindlichen Gefangenen. Was wussten sie über die Gefangenen in Sanandaj oder wie sie als Kurden die Stadt Sene nannten? Ein Reporter berichtete: „Wir fanden heraus, dass Freunde und Familienangehörige der in Sene inhaftierten Gefangenen aus Solidarität nach Teheran fuhren und vor dem Gerichtshof friedlich demonstrierten, damit die Gefangenen unter menschenwürdigen Bedingungen im Gefängnis leben können. Sie sind keine Schwerverbrecher, haben lediglich eine andere Meinung und wollen für alle Menschen im Land Gerechtigkeit herbeiführen, auch wenn sie im Sinne des Regimes Kurden sind. Wir wissen, dass während der Demonstration in Sene Schlagstöcke eingesetzt wurden und Schüsse fielen und dass Demonstranten verhaftet worden sind.“ Der Reporter berichtete weiter: „An der Busstrecke von Sene nach Marivan wurden Menschen ohne Grund von der Polizei und der Savak eingefangen, verletzt und inhaftiert. Die Gruppe war in Teheran, um all diese Menschen mit ihrer ganzen Kraft zu verteidigen und um die derzeitigen Missstände zu beseitigen. Sie demonstrierten friedlich und schrieben ihre Forderungen auf.“
Der Moderator schaltete sich ein und fragte alle an der Diskussion beteiligten Reporter: „Wie lauten konkret die Forderungen der Gefangenen und Demonstranten? Aus welchem Grund befinden sich die Gefangenen im Hungerstreik und warum wird überall demonstriert? Wie stellt sich die derzeitige Situation im Gefängnis in Sene dar?“
Ein Reporter antwortete: „Täglich verschlechtert sich die Situation für die Gefangenen und jetzt nach drei Wochen ist sie lebensbedrohlich. Diese Menschen müssen dringend medizinisch betreut werden, sonst sterben sie. Einige von ihnen liegen bereits im Koma.“
„Ja, und es handelt sich um friedliche Forderungen, wenn ich mir ihre Flugblätter ansehe“, sagte der BBC-Moderator zu den Reportern. „Sauberkeit, frische Luft, Radio hören, Zeitungen lesen, keine Schikane durch die Beamten – das muss doch möglich sein! – Mit diesen Worten verabschiedet sich BBC von Ihnen, liebe Zuhörer. Dies war ein Bericht aus Kurdistan im Iran. Wir wünschen Ihnen allen eine gute Nacht. Morgen hören Sie uns um neun Uhr in unseren Morgennachrichten.“
Meine Mutter wollte noch etwas fragen, aber mein Vater winkte ab. „Morgen ist ein neuer Tag. Es ist unfassbar, was mit den Gefangenen geschieht! Lasst uns jetzt schlafen gehen.“
Ich legte mich ins Bett und dachte über diesen ereignisreichen Tag nach. Wenn ich an die Diskussion meiner Eltern dachte, fand ich, dass sie doch eigentlich respektvoll miteinander umgingen, dass sie zusammenhielten. Und trotzdem wollte jeder seine Meinungen vertreten. Manchmal musste man eben seine Ohren auf Durchzug stellen und diplomatisch sein. Wenn jedoch das Gleichgewicht verloren ging, starb etwas. Ich dachte in dieser Nacht, dass unser Staat mit seiner Ungerechtigkeit gegenüber der Bevölkerung weit von Diplomatie und Gleichgewicht entfernt ist.