Читать книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi - Страница 6
ОглавлениеMARIVAN unter den Kastanienbäumen
Hajeje
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen. Es war ein schöner Vormittag und auf dem Nachhauseweg betrachtete ich bei blauem Himmel all die farbenfrohen Blumen am Wegesrand und freute mich, zu Hause meiner Mutter zu erzählen, dass ich heute an der Tafel von meiner Lehrerin gelobt worden war. Das kam ja nicht so oft vor.
Ich aß mit meiner Mutter und meinen Geschwistern eine Kleinigkeit und trank eine Tasse Milch. Danach sollte ich wie immer meine Hausaufgaben für die Schule machen. Als erstes Kind meiner Eltern musste ich ja mit acht Jahren schon ein Vorbild für meine Geschwister sein.
Plötzlich war mein Vater da. Er kam früher von der Arbeit nach Hause als an den anderen Tagen. Er wirkte sehr traurig, sein Gesicht war rot und nass, als hätte er geweint. Meine Mutter bemerkte das sofort und hielt aus Sorge die Hand vor ihren Mund. Sie fragte meinen Vater: „Was ist mit dir passiert, hast du geweint? Hat dir jemand etwas angetan?“
Als er nicht antwortete, fragte sie erneut: „Sag doch, bitte sag, was ist geschehen?“ Doch mein Vater antwortete nur: „Lass mich in Ruhe. Später erzähle ich dir, was passiert ist.“
Meine Mutter ließ nicht locker, weil sie meinen Vater noch niemals so traurig gesehen hatte. Sie wollte den Grund für seine Traurigkeit wissen.
Ihr Mann, mein Vater, war ein Geschäftsmann und besaß einen eigenen Laden auf dem Basar. Seine Kunden waren viele kleine Einzelhändler. Mein Vater fuhr jede Woche einmal mit dem Bus nach Teheran, um dort die Waren zu bestellen, die dann wenige Tage danach mit einer Speditionsfirma vor seinen Laden in Marivan gebracht wurden. Nachdem alles sortiert war, konnte er den Einzelhändlern die Waren in kleinen Mengen aushändigen. Diese kamen stets mit einem kleineren Koffer, füllten ihn und gingen dann zu Fuß in Richtung der Dörfer rund um die Stadt Marivan, um die Waren von Haus zu Haus anzubieten. Nachdem sie mit ihrer stundenlangen Arbeit fertig waren, liefen sie zurück zu „Haje“, Ahmad, meinem Vater. Das eingenommene Geld befand sich jeweils in den Koffern. Nachdem es gezählt war, bekamen sowohl die Einzelhändler als auch mein Vater als eine Art Großhändler jeweils fünfzig Prozent der Verkaufserlöse. Viele Jahre waren beide Parteien mit dieser Lösung zufrieden und jeder von ihnen konnte seine Familie ernähren.
Meine Mutter kam zu mir. Ihr Gesicht war vor lauter Aufregung rot. „Nimm das Geld“, bat sie mich, „und kaufe uns Brot beim Bäcker.“
Ich wusste aber doch, wir brauchten kein Brot, es war genügend in der Küche. Sie wollte mich wegschicken, um ungestört mit meinem Vater zu sprechen. Ich würde dabei nur stören. Ich sagte zu ihr: „Ja, ich gehe.“ Aber ich tat nur so, als würde ich zum Bäcker gehen, blieb aber zu Hause, weil ich hören wollte, was mit meinem Vater passiert war. Ängstlich versteckte ich mich hinter der Haustür und lauschte. Der Vorhang an der Haustüre schützte mich; niemand konnte mich sehen. Unbemerkt hörte ich zu, was mein Vater meiner Mutter erzählte.
Mein Vater sagte: „Heute war die Savak bei mir und sie haben mich zu einem Verhör in ihr Büro abgeholt.“
„Savak?“, fragte meine Mutter entsetzt. „Warum, was wollten sie von dir?“
Mein Vater antwortete: „Sie wollten nichts von mir. Sie wollten nur wissen, ob jemand bei mir gewesen war, den sie festgenommen haben. Ob ich den kenne. Die Beamten brachten mich in einen anderen Raum und ich sah einen alten Mann zusammengekauert am Boden liegen. Seine Hände und Füße waren gefesselt und er war blutüberströmt.“ Mein Vater weinte vor den Augen meiner Mutter. „Sie haben Hajeje gefoltert. Alle Finger- und Fußnägel haben sie ihm mit einer Beißzange ausgerissen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Schlimmes gesehen. Er lag am Boden wie ein Stückchen Elend, wie ein verletztes Tier.“ Mein Vater machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: „Mele, das war Uhlhassan Hajeje. Die Savak hatten ihn an der Grenze zum Irak festgenommen und dachten, er sei ein Iraki und ein Spion, weil der arme alte Mann nicht Persisch sprechen konnte. Der alte Mann hatte der Savak nur immer wieder meinen Namen genannt. Deswegen haben sie mich abgeholt und dorthin gebracht. Sie fragten mich, ob ich den Mann kenne, und ich habe geantwortet: ‚Ja ich kenne diesen Mann. Er ist Hajeje und verkauft meine Waren in einem Dorf, das nahe der Grenze zum Irak liegt. Deshalb war er nahe der Grenze.‘ Ich sagte den Beamten, dass er unschuldig und harmlos ist. Dann musste ich etwas unterschreiben. Alles, was ich gehört oder gesehen habe, darf ich niemandem erzählen, sonst machen sie mit mir, was sie wollen.“ Mein Vater bat meine Mutter: „Sag auch du zu keinem Menschen ein Wort! Du weißt, die Savak Leute können uns einfach umbringen. Weißt du, die Wand hat Mäuse mit Mund und Ohren; außerdem braucht unser Sohn Hussein das auch nicht zu erfahren, er ist noch zu jung und unerfahren.“
Zitternd lauschte ich hinter dem Vorhang den Worten meiner Eltern. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht aus Sorge um meinen Vater zum Bäcker gegangen war.
Mein Vater sprach weiter: „Ich habe Hajeje Uhlhassan hinter meinen Laden gebracht. Er braucht Medizin und Pflege, bis er wieder laufen kann und gesund wird. Verbinde seine Finger und seine Zehen einzeln. Er muss irgendwann wieder laufen und mit seinen Händen greifen können, damit er sein Leben selbständig meistern und einen Löffel zu seinem Mund führen kann. Du musst dich um ihn kümmern. Bringe ihm täglich einen Teil von unserem Essen in einer Schüssel, damit er wieder zu Kräften kommt. Das Essen sollte warm oder heiß sein, damit sein armer Körper Wärme spürt.“
Meine Mutter streckte ihre Hand nach oben und murmelte vor sich hin. Sie schimpfte auf den Schah und die Savak-Beamten und fragte: „Bis wann muss man dieses Unrecht hören und sehen, wenn man nichts unternimmt?“
Endlich lief ich zum Bäcker. Nachdem ich das Gespräch zwischen meinen Eltern mitbekommen hatte, war ich in tiefen, traurigen Gedanken versunken, weil auch ich diesen armen alten Mann kannte. Ich wusste, er konnte nicht lesen und auch kein Persisch sprechen. Jetzt wusste ich, warum alle in meiner Stadt Angst vor den Savak-Leuten hatten. Wenn sie ein weißes Auto sahen, waren sie ängstlich und liefen schnell weg. Jetzt bekam auch ich Angst, ein kleiner Junge mit acht Jahren. Ja, ich hatte mir das Bild in meinen Gedanken vorgestellt, das mein Vater gesehen hatte. Folter, verstümmelte Finger und Zehen, Blut. Ein furchtbarerer Gedanke, der mich wochenlang bis in den Schlaf verfolgte. Aber wie meine Mutter durfte auch ich das, was ich gehört hatte, mit niemandem teilen. Ich blieb still, doch es prägte mein junges Leben, dass mir diese Grausamkeiten des Schah-Regimes zu Ohren gekommen waren.