Читать книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi - Страница 9
Die mutige Bäuerin
ОглавлениеAm nächsten Tag holte mich Jewad an der Ecke unserer kleinen Straße zur Hauptstraße hin ab. Meinen Eltern hatte ich noch nicht erzählt, was ich vorhatte, denn ich war mir nicht sicher, ob sie mir das erlauben würden.
Ah, da kam Jewad, allerdings auf einem Motorrad. Er stieg ab und ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen: „Woher hast du das Motorrad? Seit wann hast du es?“
„Ach Hussein, ich habe es erst seit kurzer Zeit, weil es nicht mehr anders ging. Du weißt doch, die ewigen Busfahrten, das Warten an der Bushaltestelle, die schlechten Fahrplänen und die Unpünktlichkeit der Busse – all das hat dazu geführt, dass ich oft nicht wegkam. Ich hatte Probleme, während der Bauernkampfbewegung, meine jeweiligen Ziele zu erreichen. In den kleinen Dörfern ist es noch schlimmer; da gibt es überhaupt keine Kleinbusse und ich musste oft mit Freunden fahren. Als ich das letzte Mal in Sanandaj war, habe ich mir von meinen Ersparnissen und mit der Hilfe meiner Freunde dieses Motorrad gekauft.“
„Aber“, warf ich ein, „dann bist du doch eine Zielscheibe für die Savak-Leute, wenn sie dich sehen.“
„Mach dir keine Sorgen“, versuchte Jewad mich zu beruhigen. „Ich passe schon auf mich auf. Aber nun setz dich hinter mich, wir müssen los.“
Das Dorf Darsiran war nicht sehr weit entfernt. Es lag kurz hinter der Stadtgrenze. Wir erreichten das Dorf und fuhren direkt zu der Adresse, wo wir dachten, diese Bäuerin anzutreffen. Auf dem Hof arbeitete eine Frau vor dem Kuhstall. Sie stellte Tapalle für den Winter her. Das war ist eine Art Mischung aus Kuhscheiße und Baumrinde, die zunächst zusammengemengt, in der Sonne getrocknet und dann im Winter als Heizmaterial genutzt wurden. Eine harte Arbeit. Das Heizmaterial wurde in der Scheune bis zum Winter gelagert, um es im Haus zum Heizen zu verwenden, wenn draußen Eiseskälte herrschte und der Schnee die Landschaft weiß einhüllte.
Jewad parkte im Hof der Bäuerin und jemand fragte: „Wollen Sie auch zu Dade Tele? Sie hat heute schon viele Gäste gehabt, aber sie wird sich auch Zeit für Sie nehmen, denn sie ist jetzt berühmt. Geht rein ins Haus; da warten noch mehrere Gäste, um ihr später zuzuhören.“
Wir betraten das Haus und setzen uns zu den Wartenden, meist waren es Bäuerinnen des Dorfes. Im Gespräch bekamen wir mit, dass dies nicht das gesuchte Haus war. Irritiert fragte ich: „Wenn dies nicht Dade Teles Haus ist, wo finden wir sie dann?“
Die Bäuerin, die gerade hineingekommen war, antwortete: „Dies ist nur der Sammelpunkt. Aber ihr könnt jetzt zu ihr hingehen.“ Sie beschrieb uns den Weg. „Geht durch unser Dorf. Es ist das Haus, wo die meisten Pickups im Hof stehen.“
Wir gingen los und andere folgten uns. Der Weg zu dem angegebenen Haus war nicht sehr weit. Wir grüßten höflich, wurden aber von einigen alten Bauern nicht gerade freundlich empfangen. Sie fragten: „Wo kommt ihr her, was wollt ihr von uns? Ihr seid doch nicht aus Darsiran.“
Der Mann von Dade Tele, Kak Faraj, kam auf Jewad zu und brüllte ihn an. „Was haben Sie mit meiner Frau gemacht? Sie bringen nur Unruhe in unser einfaches Leben. Meine Frau ist verrückt geworden. Sie denkt, sie sei Farah Diba, nur weil sie in Teheran war. Es ist eine Schande!“
Endlich kam Jewad zu Wort. „Beruhigen Sie sich, alles wird besser. Ihre Frau ist nur noch etwas aufgeregt, weil sie in Teheran war. Es wird schon alles wieder gut.“ Wir betraten den großen Raum des Bauernhauses. Darin war es dunkel und es roch nach Tabak. In der Ecke des Zimmers befand sich ein großer Samowar, voll mit Wasserdampf, damit Tee für alle zubereitet werden konnte. Wir nahmen neben einigen anderen Wartenden auf dem Teppich Platz, der bestimmt schon viele Jahre keinen Schnee gesehen hatte. Meine Mutter machte unsere Teppiche jedes Jahr mit Schnee sauber und klopfte sie dann aus. Aber dieser Teppich war voller Flecken und ich wollte gar nicht wissen, wie viele Jahre er nicht gereinigt worden war. An den Wänden hing schmutzige Arbeitskleidung, aber viel schlimmer waren die verrußten, schwarzen Wände, die mit Fellen bedeckt waren. Sicher war hier jahrelang nicht mehr geputzt worden. Dafür musste es Gründe geben, sagte mir mein Instinkt. Es war recht eklig, aber Jewad sagte kein Wort und so hielt auch ich mich zurück.
Frau Dade Tele saß hinter der Wasserpfeife auf dem Teppich und lehnte sich wie eine Königin mit ihrem Rücken an einige Kissen. Als sie Jewad und mich erblickte, stand sie auf, nahm Jewad in den Arm und sagte: „Mein Junge, wie geht es dir? Wir haben es geschafft! Ich habe den Schah in Teheran getroffen und ihn davon überzeugt, dass die Aghwat und die Gendarmen hier keine Rechte mehr haben, sondern nur noch wir, wir Bauern.“ Dade Tele schielte nach mir, nahm mich auch in den Arm und sagte: „Alle Jungen von Marivan sind nun auch meine Söhne.“ Schnell führte sie uns zu ihrem Platz, damit wir alle von den anderen gesehen wurden. Laut befahl sie einigen Mädchen: „Bringt schnell Obst und Tee für meine Gäste.“
Wir beide setzten uns neben sie.
„Erzähle uns doch, Dade Tele, wie war das alles auf deiner Reise?“, fragte Jewad. „Bist du zufrieden?“
Sie nahm einen Apfel aus der großen Schüssel, schälte ihn mit einem Messer, schnitt ihn in Stücke und legte diese für uns auf einen kleinen Teller. Für sich selbst nahm sie mit ihren schmutzigen Händen einen ganzen Apfel, den sie auf eine Gabel spießte und dann davon abbiss. So als hätte sie mehr verdient als andere. Die Bauern und ihre Frauen saßen mit offenem Mund da und staunten. Innerlich musste ich lachen und gewiss sah man es meinem Gesicht an. Jewad gab mir mit seinen Augen zu verstehen, dass ich mein Lachen verbergen sollte.
Nachdem Dade Tele mehrmals herzhaft in den Apfel gebissen hatte, fing sie an, ihre Geschichte der letzten Tage zu erzählen. „Ach du junger Jewad, du bist nun wie ein Sohn für mich. Also, es war so: Wir sind mit dem Bus nach Teheran gereist und haben gefragt, wo der Palast des Schahs ist. Die Menschen, die ich danach fragte, waren sehr frech zu mir und haben mich ausgelacht, so als wäre meine Frage nicht berechtigt. Aber ich habe mir das nicht gefallen lassen und denen gesagt: ‚Wenn ich den Schah getroffen habe, sage ich ihm, er soll euch die Savak auf den Hals hetzen und die Gendarmen. Dann habt ihr nichts mehr zu lachen!‘ Ja, ja, so energisch war ich. Ich, also ich, Dade Tele, war und bin doch die Vertreterin aller Bauern in Kurdistan. Ach, ich sage euch allen, als wir endlich den Palast des Schahs gefunden hatten, wollten unsere ängstlichen Männer wieder zurücklaufen. Da sieht man wieder einmal, dass wir Frauen mehr Courage haben. ‚Nichts gibt es da, wir gehen nicht zurück. Unser Kampf und unsere Aufgabe machen heute einen Schritt nach vorn und nicht zurück!‘“ Dade Tele war in ihrem Element und alle staunten und lauschten ihren Worten. Bevor sie nach Teheran gereist war, war sie noch nie aus ihrem Dorf herausgekommen und sie berichtete nun darüber wie über eine Weltreisende.
Ich hörte weiter zu und musste mir ein Grinsen verkneifen. Jedoch war ich gespannt, wie ihre Rede weiterging.
„Die Gendarmen in Teheran haben ganz andere Uniformen“, erzählte sie weiter „und die nennen sich dort Polizei. Ach, was soll ich sagen, unsere Männer wollten sich sogar verstecken, hatten keinen Mut wie ich. Echte Jammerlappen sind das. Aber ich, die Tele von Darsiran, bin eine echte Kurdin, und echte Kurden haben und zeigen ihren Mut mit hochgehaltenem Kopf und scheuen sich nicht.“ Sie blickte stolz in die Runde und sprach weiter. „Am Eingang des Palastes standen Wachsoldaten. Die wollten mich nicht in den Palast hineinlassen. Ich wollte schon laut losschreien, als plötzlich eine sehr hübsche Frau das Fenster des Palastes öffnete und hinausrief: ‚Was ist denn hier los?‘ Ich dachte, sie sei die Gattin des Schahs, weil sie wie Farah Diba auf Bildern in Schulbüchern aussah. Also rief ich: ‚Ich möchte den Schah sprechen. Ich bin die Vertreterin der Bauern Kurdistans.‘ Sie reagierte freundlich und lachte. ‚Lasst die Frau herein!‘, befahl sie den Wachsoldaten. Und ihr werdet nicht glauben, was ich gesehen habe. Der Palast ist ein riesengroßes Gebäude. Da sind die Häuser der Aghwat hier Spielzeug! Schon die Eingangshalle ist mit Seidenteppichen ausgelegt und an der Decke hängen Leuchter mit Glitzersteinen. Die Wände sind aus purem Gold. Da hängen große Bilder und auf dem Boden stehen riesige Vasen, die mit prächtigen Blumen gefüllt sind. Farah Diba trug ein langes weißes Kleid und kam aus ihrer Küche in die Halle geeilt. Sehr wahrscheinlich hatte sie gerade das Mittagessen für den Schah gekocht. Sie begrüßte mich, gab mir sogar ihre Hand, stellt euch das einmal vor. Ich entschuldigte mich: ‚Ich komme bestimmt zum falschen Zeitpunkt, aber wissen Sie, ich hatte keine andere Möglichkeit. Ich musste kommen, weil ich die Bauern von Kurdistan vertrete.‘ Ich brachte natürlich unsere Hochachtung vor dem Schah zum Ausdruck und versicherte, dass wir ihrem Mann sehr dankbar seien. Dann fasste ich den Mut, ihr zu sagen, dass die Aghwat und die Gendarmen in Kurdistan den Namen des Schahs in den Dreck ziehen. Farah Diba lächelte mir zu. So eine schöne Frau habe ich noch nie zuvor gesehen.“
Ich beobachtete Dade Tele in ihrem Redeschwall. Sie erzählte, erzählte und hörte nicht auf, die Märchengeschichte fortzuführen. Sie konnte doch nicht mit Messer und Gabel essen. Vor den Augen der Bauern und Bäuerinnen nahm sie immer wieder ein Stück Obst aus der Schüssel und wollte zeigen, dass sie nun anders war. Die Bauern und deren Frauen staunten mit offenem Mund über jede ihrer Bewegungen. Ich war mittlerweile in tiefe Gedanken versunken, weil ich den Unsinn, den sie erzählte, nicht mehr mit anhören konnte. Ihr Mann hatte recht gehabt, sie war verrückt geworden. Und tatsächlich dachte sie, wir würden ihr all diese Lügengeschichten glauben. Wie konnte sie für uns und für die Gerechtigkeit kämpfen, wenn alles erfunden war? Sie schien tatsächlich verrückt geworden zu sein. Warum waren wir nur hierher gefahren. Was hatte sich Jewad dabei gedacht?
Jewad tippte mir auf die Schulter und holte mich aus meinen Gedanken.
Dann hörte ich wieder Dade Tele. Sie schwelgte noch immer in ihren Erzählungen. „Ich habe dem Schah in seinem Büro gesagt, er soll nun unseren Reis von Marivan kaufen, der zwar etwas kleiner ist, aber viel besser schmeckt.“
Oh, mein Gott, was erzählte sie da?
Jewad bemerkte, dass ich all den Unsinn nicht mehr aushielt. Er stand auf und sagte laut: „Wir sind spät in der Zeit. Leider müssen wir uns nun verabschieden.“
„Ja, wir müssen gehen“, fügte ich hinzu.
Dade Tele stand auf und fragte: „Warum geht ihr schon? Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede.“
„Tut mir leid“, antwortete Jewad mit einem Ton des Bedauerns, „aber wir müssen leider aufbrechen. Vielen Dank für deine Erzählungen. Es war sehr gut, dass du so viel Mut bewiesen hast.“
Unterwegs stieß Jewad mich an. „Hussein, du warst ja fast eingeschlafen.“
„Ach, was sollte das Ganze. So viel Unsinn habe ich noch nie auf einmal gehört.“
„Es sind arme Bauern“, erklärte Jewad. „Die haben ihre Träume. Sie wissen es nicht besser. Sie träumen wie viele hier von einem besseren Leben. Ob arm oder reich, im Grunde hat jeder Mensch Träume. Ob du nun Analphabet bist oder studiert hast. Das gibt es keinen Unterschied. Die Bäuerin war doch noch nie in ihrem Leben in einer anderen Stadt. Dass sie nun in Teheran, der größten Stadt unseres Landes, war, ist für sie ein unglaubliches Ereignis. All das, was sie berichtet hat, sind ihre Träume. Sie hat sich ihre Geschichte zusammengebastelt, und alles, was sie über den Palast erzählt hat, weiß sie aus dem Radio. In ihrer Fantasie hat sie tatsächlich Farah Diba getroffen.“
„Aber sie ist doch verrückt. Wenn ich schon sehe, dass sie einen Apfel mit der Gabel aufspießt.“ Ich schüttelte mich. „Meine Träume sehen anders aus, Jewad. Die Bauern glauben wohl ihre Geschichte.“
Ich weiß, Hussein, aber das sind auch einfache Menschen, und wir müssen ihnen helfen.“
Ich zweifelte. „Denkt Dade Tele, wir sind blöde und glauben ihr diese Geschichte?“
„Ich weiß was du meinst, aber die sind halt so.“
„Ach Jewad, du kannst denen weiterhelfen, aber du wirst so nichts erreichen. Wie willst du mit denen gegen die Savak kämpfen und gegen dieses diktatorische Regime?“
„Weißt du, Hussein, diese Menschen müssen durch unsere Hilfe erst einmal selbst sehen, wo sie stehen. Sie wissen zwar, was Recht und Unrecht ist, aber sie haben nicht gelernt, sich zu wehren. Deswegen werden wir sie unterstützen und ihnen Mut machen. Die Bauern sind nicht blöde. Sie wissen schon, um was es geht, weil sie von Natur aus vorsichtig sind. Und wenn sie merken, dass sie gemeinsam stark sind, werden sie auch etwas verändern können.“
Ich überlegte. „Aber die Bauern blicken nicht über ihr Feld hinaus, sie haben doch nur darin Erfahrung, wie sie ihre Kühe auf dem Feld zu füttern oder ihre Ernte mit harter Arbeit einzuholen haben. Etwas anderes wollen sie gar nicht erkennen. Sie wissen nichts von Gerechtigkeit und Freiheit. Für was brauchen die Bauern Freiheit?“
„Oh, Hussein, du bist noch jung und unerfahren. Natürlich braucht jeder Mensch seine Freiheit, um über sein Leben zu bestimmen, auch die Bauern Kurdistans. Du hast heute erstmals Dade Tele gehört und gesehen, aber deine Meinung über sie und ihre Leute ist falsch.“
„Ich weiß, Jewad, aber das, was ich heute erlebt habe, zeigt mir nicht, wie sie wichtige Dinge für ein besseres Leben voranbringen können. Sie haben doch kein geistiges Wissen, waren nie auf der Schule.“
„Doch, doch“, sagte Jewad, „und gerade deshalb haben sie die Macht der Veränderung, nicht wir. Man muss das enthusiastisch sehen. Die Bauern arbeiten Tag und Nacht auf den Feldern und werden von der Aghwat ausgenommen. Aber sie sind in der Mehrzahl. Für diese Menschen kann man ein besseres Leben schaffen. Neben der Landwirtschaft haben wir noch keine Industrie, weil die Machthaber es für Kurdistan nicht erlauben. Das ist alles gewollt und gesteuert. Aber, Hussein, denk nicht so negativ. Es gibt genug Beweise in der Welt, wie Revolutionen die Welt verändert haben. Das nächste Mal bringe ich dir ein Buch über Mao und die Revolution in China mit. Wenn du das gelesen hast, wirst du sehen, dass die Bauern ihre Macht haben werden.“
Einige Tage später, nachdem wir Dade Tele im Dorf besucht hatten, ging ich ins Kaffeehaus. Die anderen Besucher lasen Zeitung. Irgendetwas kam mir merkwürdig vor. Ja, hier waren viel mehr Menschen als an sonstigen Tagen. Lehrer, Studenten … aber keine Spur von Savak-Leuten. Etwas muss geschehen sein, dachte ich. Sonst wurde hier doch nicht so laut gesprochen. Etwas Wichtiges musste passiert sein. Langsam ging ich von Tisch zu Tisch, wollte wissen, was es Neues in der Zeitung gab. Kein Mensch beachtete mich, bis ich Jewad sah, der sich, von vielen Leuten umkreist, über eine Zeitung beugte.
Ich fragte: „Jewad, Jewad, was ist passiert? Was steht da geschrieben?“
Er lachte und drückte mir eine Zeitung in die Hand. „Da, lies selbst. Es ist nur Gutes, Gutes. Wenn du das gelesen hast, wirst du verstehen, dass die Bauern auch bei uns ihre Macht haben werden.“
Ich ging mit der Zeitung in eine freie Ecke des Kaffeehauses und begann zu lesen:
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