Читать книгу Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi - Страница 7
Pishahang (Scouts)
ОглавлениеWir Kinder verbrachten die Zeit, wie eben Kinder sind. Wohlbehütet in meinem Elternhaus wurde ich von Jahr zu Jahr größer und erwachsener. Doch eines Tages passierte Folgendes:
Wir saßen alle in unserer Schulklasse, hatten gerade Mathematikunterricht, schauten lautlos auf die Tafel und lauschten unserem Lehrer, der uns Plus und Minus erklären wollte. Er sagte: „Die Multiplikation und die Division erkläre ich erst nächste Woche.“ Unser Klassenbester, Farhad, hob den Finger und behauptete: „Herr Lehrer, ich weiß das alles schon!“ Wir Kinder wussten gleich, was der Lehrer zu ihm sagen würde und lachten über Farhad, weil er immer alles besser wissen wollte. Doch schon nach kurzem Gelächter waren wir alle wieder still und folgten dem Plus und Minus an der Tafel.
Plötzlich klopfte es sehr laut an der Klassenzimmertür. Neugierig, wer uns um diese Zeit besuchen würde, öffnete unser Lehrer die Tür. Er war überrascht, ebenso wie wir Kinder. Unser Lehrer sagte: „Barpa.“ Das bedeutet, dass alle ehrfürchtig aufstehen mussten, wie ein Soldat, die Arme und auch die Hände dicht am Körper.
Der Schuldirektor betrat unser Klassenzimmer. Er war recht freundlich und sagte: „Liebe Kinder, setzt euch.“ Wir nahmen Platz und er sprach weiter: „Liebe Kinder dieser Schule, im Namen von Prinz Wahlyahed (des Königs Nachfolger) habe ich Folgendes zu verkünden: Wie in anderen Schulen in unserem Land Iran wird in Kürze Pishahang eingeführt. Alle Eltern sollen euch eine Uniform kaufen. Das ist freiwillig. Wer mitmachen möchte, ist herzlich eingeladen.“ Der Schuldirektor hatte die Schuluniform mitgebracht und zeigte sie uns. Es war ein schöner Anzug, wie für einen General gemacht – an den Schultern waren goldene Schleifen, so ähnlich wie bei einem Birkenbaum, und ein Emblem, wie die Polizei es hatte. Der Schuldirektor nahm einen Hut aus der Tasche. Er sah aus wie ein Hut der Verkehrspolizei. Anstelle der Krawatte, welche die Polizisten trugen, gab es ein rotes Tuch, das man wie einen Schmetterling um den Hemdkragen herum binden konnte. Es sah aus wie eine rote Fliege, wie eine Libelle oder wie ein Schmetterling. Sehr schön. Zudem sollten uns die Eltern ein zusätzliches weißes Hemd kaufen, weil man eines für jeden Tag brauchte.
Der Schuldirektor erklärte uns, wie wichtig es sei, dass wir alle in dieser Uniform sauber und ordentlich aussehen. Es sei eine große Ehre, sie zu tragen. Nun begann er uns Pishahang zu erklären. Oh, wirklich, wir waren alle sehr aufgeregt und neugierig.
„Pishahang ist ein Vorbild für alle. Ihr werdet das Vorbild für andere sein, ihr müsst stets hilfsbereit sein und viele gute Taten tun. Weiterhin werdet ihr während der Schulferien in dieser Uniform gute Dinge für eure Mitmenschen tun. Ihr könnt die Straßenpolizei unterstützen, indem ihr alten Menschen helft, sicher über die Straße zu kommen. Ihr werdet immer aufmerksam sein, wenn Menschen eure Hilfe brauchen. Haltet stets eure Augen auf. Die Uniform verleiht euch die Aufmerksamkeit. In den Sommerferien werden Camps für euch eingerichtet, die das Ministerium mitfinanziert. Hier lernt ihr dann Pishahang aus anderen Städten kennen, auch aus anderen Ländern Asiens. Liebe Kinder, das war meine heutige Botschaft an euch. Geht nach der Schule nach Hause und sprecht mit euren Eltern. Sie müssen ihr Einverständnis in der Schule abgeben, damit wir wissen, wer von euch bei dieser wunderbaren Idee mitmacht. Die Kopfnoten eurer Zeugnisse, Moral und Erziehung, werden bei der Auswahl, wer mitmachen darf, einbezogen, also seid stets brave Schüler.“ Der Schuldirektor verabschiedete sich und unser Lehrer sagte laut und bestimmend: „Barpa.“ Wie Soldaten standen wir auf und durften uns erst setzen, als sich die Tür hinter dem Schuldirektor schloss.
Und schon ging das Getuschel los. Nasrin, die neben mir saß, flüsterte mir ins Ohr: „Das ist genial! Ich spreche nach der Schule mit meinen Eltern, sie sollen mir diese Uniform kaufen.“
Nasrin war mir unangenehm. Ständig belästigte sie mich. Ihre Eltern waren sehr reich, aber sie war nicht nach meinem Geschmack und hatte, so vermutete ich, einen schlechten Charakter. Immer wieder versuchte sie mich anzulächeln, aber ihr Gesicht gefiel mir gar nicht. Das Mädchen zwei Reihen vor mir gefiel mir umso besser, wollte aber nichts von mir wissen. Oft versuchte ich, ihre Sympathie mit meinem Lächeln zu gewinnen. Vielleicht war sie schüchtern oder in einen anderen Jungen verliebt. Ich schlug oft die Hand vor den Kopf, weil ich diese hübsche Mitschülerin nicht erobern konnte und mir stattdessen Nasrin dauernd auf die Nerven ging. Auch wenn ich es nicht verstand, war ich in das Mädchen zwei Reihen vor meinem Platz verliebt. Platonisch. Wir waren alle ungefähr dreizehn Jahre alt. Also Kinder.
Nach diesem Tag lief ich verträumt nach Hause. Ich hatte Hunger und fragte mich, ob meine Mutter meine Lieblingsspeise gekocht hatte. Ich würde ihr gleich von der Pishahang-Idee des Schuldirektors erzählen. Ich träumte so vor mich hin, dachte, wie ich in dieser Uniform aussehen und was ich Gutes tun würde. Die Worte des Schuldirektors beflügelten meine Fantasie. Doch einige Meter vor unserer Haustür kehrte ich in die Gegenwart zurück und überlegte, wie ich die Ausgaben für die Uniform zuerst meiner Mutter erklären würde, die dann meinen Vater von dieser wunderbaren Idee überzeugen musste. Ich wollte natürlich erst einmal nur die Uniform erwähnen und nicht, dass ich in den Sommerferien nach Nischapur fahren würde. All die zusätzlichen Ausgaben wollte ich erst später erwähnen, nachdem ich diese Uniform hatte. Man durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen, sonst bekam man gar nichts. Aber mir war all das wichtig. Ich war neugierig und gespannt darauf, andere kennenzulernen.
Bevor ich das Haus meiner Eltern betrat, roch ich schon von draußen das leckere Essen. Ich erkannte am Geruch, was es gab. Ich hatte großen Hunger. Meine Mutter war gerade dabei, sich nebenan die Hände zu waschen, sodass ich in der Küche schnell die Töpfe kontrollieren konnte. Nur kurz hob ich die Topfdeckel an, da wusste ich schon, es war meine Lieblingsspeise. Fast hätte mich meine Mutter dabei ertappt, ich konnte gerade noch rechtzeitig die Küche verlassen, um meine Schultasche in den Flur zu legen. Ich freute mich so sehr, dass sie Reschte-Plau gekocht hatte. Schnell rief sie mich und meine Geschwister, die im Hof spielten. „Los, los, Kinder setzt euch an den Zefre. Wir essen gleich!“
Es dauerte nur wenige Sekunden, da saßen wir auch schon wie Vögelchen am Zefre und genossen dieses wunderbare Mahl. Meine Mutter fragte, wie es in der Schule gewesen sei. Aber wir Kinder konnten nicht antworten, weil wir den Mund voll hatten und genussvoll kauten. Die Augen meiner Mutter freuten sich über dieses Lob und sie bat uns: „Lasst noch etwas für euren Vater übrig.“
Nach dem Essen sprach ich mit ernsthaften Worten zunächst mit meiner Mutter. Mein Ziel war es, ein stolzer Pishahang zu werden. Meine jüngeren Geschwister schickte ich zum Spielen in den Hof, heute sollten sie die Hühner und den Truthahn füttern. Wir Kinder tauften vier Mal im Jahr einen neuen Truthahn, weil diese Tiere zu besonderen Anlässen wie Ramadan, Nouruz oder einem anderen besonderen Ereignis wie beispielsweise der Geburt eines neuen Geschwisterkindes geschlachtet wurden. Mein Vater fütterte den Truthahn manchmal mit Walnüssen, damit er groß und kräftig wurde. Das Tier war etwas ganz Besonderes. Einmal erklärte mir meine Mutter, dass dieser Truthahn sieben verschiedene Sorten Fleisch hätte. Aber für uns Kinder war es eigentlich ein hässlicher Vogel, außer er landete im Brattopf und wir alle freuten uns, ein besonderes Essen auf unseren Tellern zu haben.
Ich hatte meinen Kopf voll mit den Neuigkeiten aus der Schule, und weil meine Geschwister im Hof beschäftigt waren, konnte ich nun allein mit meiner Mutter sprechen. Ich war sehr aufgeregt. „Mama, Mama, heute war der Schuldirektor in unserer Klasse.“ Ich umarmte sie in meinem Enthusiasmus und verlieh damit, meiner Freude Ausdruck, dass sich etwas Neues in der Schule anbahnte. „Wir werden alle neue Kleidung bekommen, eine Uniform, dann wirst du stolz auf mich sein. Ich werde wie ein General aussehen. Einen Hut werde ich tragen und einen roten Schmetterling um meinen Hals haben. Alle Kinder sind begeistert.“ Ich gab ihr einen Kuss und umarmte sie noch einmal, wie es nur ein Kind, das etwas erreichen wollte, tun konnte.
Sie antwortete: „Wenn dein Vater heute Abend nach Hause kommt, werde ich ihm das mit der Uniform erzählen, und wenn wir das Geld dafür haben, glaube ich, können wir das machen. Aber dein Vater verdient das Geld, ich sorge nur für unser Essen. Wenn wir das machen, musst du immer ein guter Junge sein, gute Schulnoten nach Hause bringen und deinen Geschwistern bei den Hausaufgaben helfen.“
Mir war bewusst, dass ich die Uniform ohne irgendwelche Bedingungen, die meine Eltern an mich stellten, nicht bekommen würde. Also war mein Plan genau richtig: Erst einmal die Uniform ansprechen und dann die Urlaubsreise nach Nischapur. Meine Mutter wollte spät am Abend mit meinem Vater darüber sprechen, sie machte sich extra hübsch für das Schlafengehen. Irgendwann war ich so müde, dass ich ins Bett ging und träumte. Im Traum trug ich die neue Uniform und das Mädchen zwei Reihen vor mir grüßte mich voller Bewunderung und flirtete ein wenig mit ihren schönen Augen.
Am nächsten Morgen beim Frühstück – mein Vater war bereits auf dem Weg nach Teheran, um neue Waren zu bestellen, sein Bus war um 5.00 Uhr abgefahren – verkündete meine Mutter: „Mein lieber Junge, wir werden dir diesen Wunsch erfüllen.“ Sie lachte, weil sie genau wusste, sie erfüllt mir meinen Traum. Sie sagte: „Ich gehe heute Mittag in deine Schule, melde dich für die Uniform an und werde unterschreiben, dass du Pishahang werden darfst.“ Dann ergänzte sie: „Dein Vater ist auch damit einverstanden.“
Was war ich glücklich! Ich rannte in die Schule, neugierig, ob die Eltern von Jewad auch ihr Jawort gegeben hatten. Aber am meisten interessiert mich das Mädchen zwei Reihen vor mir. Ob sie wohl auch in den Sommerferien mit nach Nischapur fahren durfte? Aber das wussten ja meine Eltern noch nicht. Die Uniform und die Unterschrift meiner Mutter waren erst einmal wichtiger.
Meine Mutter kam wie versprochen in die Schule, schrieb mich für Pishahang ein, bezahlte meine Uniform und nahm sie gleich mit nach Hause. Die erste Anprobe fand abends statt, als mein Vater von der Arbeit kam. Meine Eltern freuten sich und ich sah aus wie ein General in dieser hübschen Uniform – wohl wissend, dass ab sofort nur gute Taten von mir erwartet wurden.
In der Zeit bis zu den Sommerferien präsentierte ich auf dem Schulweg stets stolz meine Uniform. Es war ein anderes Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, die den Menschen half und die beachtet wurde. In unserer Stadt gab es verschiedene Aktionen für die Pishahang und wir waren eine Gemeinschaft.
Kurz vor den Sommerferien bekamen meine Eltern einen Brief von der Schule, dass wir Pishahang die Ferien in Nischapur verbringen würden. Meine Mutter kaufte mir noch verschiedene Dinge und packte meinen Koffer. Am Tag der Abreise trafen wir uns um 8.00 Uhr auf dem Schulhof. Dort bemerkte ich, dass die nervige Nasrin auch mitkam. Sofort war sie bei mir und sagte: „Ich freue mich, dass wir zusammen fahren.“ Ich bekam schlechte Laune, gab ihr eine kurz angebundene Antwort und schaute, ob das Mädchen, das zwei Reihen vor mir im Klassenzimmer saß, auch mitreiste. Ja, da wurde sie gerade von ihren Eltern mit dem Auto gebracht. Ich war erleichtert. Als alle Schüler in den Bus gestiegen waren, winkten wir unseren Eltern zum Abschied.
Die Fahrt begann. Es war ein schöner Tag mit viel Sonne und blauem Himmel. Ich saß am Fenster und betrachtete die Landschaft. Wir fuhren durch Dörfer, in denen Menschen auf der Straße liefen und ihre Einkäufe erledigten. Auf den Feldern gingen die Bauern ihrer Arbeit nach und wir konnten im Vorbeifahren die Tiere auf der Weide beobachten. Nach zweieinhalb Stunden erreichten wir Sanandaj, die Provinzhauptstadt von Kurdistan. So eine große Stadt mit so vielen Autos hatte ich noch nie gesehen. Ich dachte: Was für eine große Stadt im Vergleich zu Marivan!
In Sanandaj trafen noch viele andere Bussen ein. Sie kamen aus allen möglichen Städten Kurdistans. Wir trafen dort Schüler, die anders waren als wir. Auf der einen Seite waren sie frech, auf der anderen aber auch sehr schick. Sie gaben sich selbstbewusst und die Mädchen waren irgendwie freier als unsere Mädchen. Sie trugen Make-up, ihre Augen waren geschminkt und die Lippen rot. Ich bewunderte unsere Mädchen, denn sie versuchten sich vor den anderen zu verstecken, weil sie sich armselig fühlten. Zu der Gruppe der uns fremden Schüler gehörten einige Musiker mit verschiedenen Instrumenten. Wir hatten keine Chance, mit denen konnten wir nicht mithalten.
Die Stimme eines der Lehrer erklang durch einen Lautsprecher. „Wir fahren alle zusammen mit vier großen Bussen weiter. Die Fahrt geht über mehrere Hundert Kilometer, aber wir machen alle paar Stunden eine Pause. Zuerst fahren wir nach Mashhad zu dem Grab von Imam Reza und beten. Von dort aus geht es weiter zu dem Camp in Nischapur.“ Auf allen vier Bussen klebte ein Plakat mit der Aufschrift „Schulkarawane aus Kurdistan“. So fuhren wir über die Autobahnen zu unserem Ziel.
Unterwegs spielten Sanandajs Schüler Musik, zu der wir alle sangen. Später hielten wir an einer Raststätte und machten eine halbe Stunde Pause. Die Lehrer hatten inzwischen Essen und Getränke an uns verteilt. Jeder bekam eine kleine Tüte mit einem belegten Brötchen und einer Dose Cola. Als ich genüsslich in mein Brötchen biss, kam Nasrin zu mir und sagte: „Ich muss mit dir reden.“ Sie sprach gleich weiter: „Hast du gesehen, dass die Pishahang von Sanandaj alle miteinander befreundet sind? Die Jungs haben alle eine Freundin und die Paare gehen Hand in Hand. Wir beide müssen auf dieser Reise zusammenhalten und du passt bitte auf mich auf.“
Ich erwiderte: „Warum soll ich auf dich aufpassen? Warum kommst du ausgerechnet zu mir? Soll sich doch ein anderer um ich kümmern.“
Nasrin bettelte weiter: „Ich freue mich, bei Imam Reza zu beten. Es war schon immer mein Traum, ihm meine Wünsche zu sagen, damit sie in Erfüllung gehen. Aber ich habe Angst, dass mir etwas passiert. Ich habe ein schwaches Herz und gerate in Menschenansammlungen leicht in Panik. Wenn ich umfalle und bewusstlos werde, wer soll mir dann helfen?“
Ich lenkte ein. „Gut, ich passe auf dich auf, hab keine Angst.“
Sofort erklärte sie mir: „Wenn ich umfalle, musst du mich von Mund zu Mund beatmen.“
Ich fragte mich, was Nasrin plante. Während ich grübelte, sah ich ein Sanandaj-Mädchen am Rand der Autobahn stehen. Sie hatte sich von der Schülergruppe gelöst, war dorthin gelaufen, hatte ihre Bluse hochgezogen und zeigte sich so den vorbeifahrenden Autofahrern, die begeistert waren und große Augen machten. Alle Schüler lachten und klatschten, weil die Autofahrer sich nicht mehr auf das Fahren konzentrierten. Und so kam es, wie es kommen musste: Einige Autos fuhren ineinander und es gab einen Unfall.
Die Lehrer reagierten schnell, holten das Mädchen zurück und schimpften mit ihr.
Unter uns Schülern löste das Ereignis eine große Diskussion aus. Wir waren der Meinung, dass dieses Verhalten für uns Kurden eine Schande war. Was sollen die Menschen nur von uns denken? Die Busse waren ja plakatiert. Andere meinten, wir hätten die Perser verarscht und den Unfall verursacht. Das zeigte wieder einmal: Wir waren Kurden, die waren Perser, und wir waren nicht das gleiche Volk. Dieses Beispiel verdeutlichte den Unterschied in unserem Land, den Unterschied zwischen Reich und Arm (Machthaber und Besatzungsland). Wir Schüler fragten uns ständig: Warum war es hier anders? Hier war es viel schöner als bei uns. Seit der letzten Stadt, die wir in Kurdistan passiert hatten, war alles anders. Hier gab es gut ausgebaute Autobahnen mit besseren Straßenschildern, hübsche Gebäude und im Vorbeifahren sahen wir überwiegend neue Autos. Bei uns in Kurdistan wurden meist alte Autos gefahren und Autobahnen gab es nur wenige. Was die Kultur betraf, so waren wir jedoch etwas freier als die Perser, nicht so abergläubisch. Das öffnete mir die Augen und in meinem Gedanken ging es mir um Gerechtigkeit, wie bei Hajeje Uhlhassan, der Analphabet war und nicht persisch sprechen konnte, weil das nur in der Schule gelehrt wurde, die er aber nie besucht hatte. Wie ungerecht war das für ihn!
Ich war tief in Gedanken versunken, als der Reiseführer uns darüber informierte, dass wir gleich das heilige Grab von Imam Reza erreichen würden. „Wir bleiben eine Stunde. Seid bitte pünktlich wieder hier. Danach reisen wir zu unserem Camp.“
Wir stiegen aus den Bussen und gingen zum Haram Imam Reza. Das Dach des Hauses war eine riesengroße, goldene Kuppel, es war eine gigantische Residenz! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ein riesiger Palast in Gold gehüllt. In der großen Halle war das Grab vom Imam. Es war von goldenen Gittern umrahmt. Da waren Tausende Gläubige, die ihre Gebet oder Wünsche vor sich hin murmelten. Ich war verwundert, dass so viele Menschen den Imam kannten und um ihn weinten, obwohl er doch bereits vor mehreren Jahrtausenden ermordet worden war. Ich beobachtete die Gläubigen. Eine Frau hatte etwas hinter das Goldgitter geworfen. Das machte mich neugierig und ich traute meinen Augen nicht, als ich näher hinsah. Da lagen zahlreiche große Geldscheine, goldene Ringe, Goldketten. Ich überlegte. Davon ließen sich in Kurdistan Krankenhäuser und Schulen bauen oder man könnte mit diesem Geld Dörfer mit Strom und fließendem Wasser versorgen. Aber ich war nur ein Kind und hatte keine Ahnung.
Meine Gedanken wurden von Nasrin gestört, die mich laut rief. Nein, sie schrie! Sie schrie tatsächlich um Hilfe. Ein großer Mann hatte Nasrin an das Goldgitter gepresst und wollte sich von hinten an sie drücken. Alle, die rundherum beteten, hoben die Hände nach oben und drängten in einer Masse zusammen. Mit meiner Faust schlug ich auf den großen Mann ein, schrie und schimpfte: „Was machen Sie mit meiner Schwester?“
Der Mann fragte: „Sie ist deine Schwester? Dann ist sie auch meine Schwester.“
Als Nasrin ohnmächtig auf den Boden sank, ließ der Mann endlich von ihr ab. Ich bekam Angst und wusste nicht, was ich tun sollte. Hektisch fragte ich eine alte Frau: „Können Sie helfen!“ Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. Dann gab sie Nasrin etwas zu trinken aus ihrer Wasserflasche und spritzte ein paar Tropfen Wasser über ihr Gesicht. Nasrin kam zu sich, rappelte sich auf und schaute mich verwirrt an. Nach all diesen Eindrücken und Erlebnissen würde mir der Ort Mashhad in Erinnerung bleiben.
Später erzählte ich in Marivan Jewad von diesem Ereignis. Er lachte mich aus. „Hussein, du bist ein Dummkopf, warum hast du sie nicht beatmet.“ Sie wollte doch nur, dass du sie küsst!“ Aber ich dachte nur an das Mädchen zwei Reihen vor mir.
Die Busfahrt ging weiter und wir fuhren als kurdische Karawane unserem nächsten Ziel entgegen, dem Camp. Die anderen drei Busse waren hinter uns. Es war so schön, im Vorbeifahren die Landschaft zu betrachten. Alles in dieser Umgebung war in ein faszinierendes Grün gehüllt, so als hätte Gott mit der Natur ein Geschenk vollbracht. Die vielen Obstbäume und die gepflegten Felder waren traumhaft. In dieser Gegend gab es auch im Sommer Regen. Dadurch war es immer feucht, sodass die Landwirtschaft erblühen konnte. Die Straßen sahen aus wie Alleen, denn sie waren von hohen Bäumen gesäumt. Ein leiser Wind wehte durch die halb offenen Fenster in unseren Bus und verstärkte das aufkommende Gefühl von Ferien. Wir waren neugierig und gleichzeitig gespannt, welche Abenteuer uns im Camp erwarten würden.
Endlich erreichten wir das Camp. Man zeigte uns die Plätze, die für uns vorgesehen waren. „Richtet euch in euren Unterkünften ein, packt eure Koffer aus und bezieht eure Betten. Die Lehrer bringen euch später zum Camp-Zentrum“, sagte unser Betreuer.
Neugierig schaute ich mich im Camp um. Es war eine riesengroße Anlage mit vielen schmalen Straßen, an deren Rand Blumen wuchsen. Alles sah sehr gepflegt aus. Ich suchte nach Zelten, jedoch waren unsere Unterkünfte kleine Hütten wie bei unseren Bauern in Kurdistan, aber aus neuerem Material wie Aluminium und Holz. Zudem waren sie auch noch bunt. Eine Seite war blau, gegenüber war die Außenwand rot und die linke Seite einer Hütte war gelb. Vielleicht waren die Farben so ausgewählt, weil sie die Farben jeder Stadt oder des Landes darstellen sollten. Neben jeder sechsten Hütte stand ein kleines Haus, das mit Schildern versehen war. Es waren die sanitären Anlagen mit Dusche, Toiletten und Waschmöglichkeiten. Beim Zähneputzen konnte man sich im Spiegel betrachten. Ich war erstaunt. Alles war so schick und sauber. So etwas hatte ich in unserer Stadt noch nie gesehen. Meine Gedanken kreisten und ich fragte mich, wer hat das alles gebaut hatte. In jedem Häuschen befanden sich zwei Betten, zwei kleine Schränke und sogar ein kleiner Kühlschrank.
Voller Staunen konzentrierte ich mich kurz darauf auf unseren Lehrer. Er sagte: „Ihr zwei, Hussein und Mohamed Pänahy, geht in das Haus Nummer 208.“ Wir beide schauten uns an, griffen freudig nach unserem Gepäck und bezogen unser Haus. Wir waren neugierig und voller Erwartung. Mohamed, der größer und kräftiger war als ich, warf seinen Koffer auf das Bett, war der Erste am Kühlschrank, griff sich etwas Essbares und stopfte sich den Mund voll. Ich dachte: Was ist das für ein Kamerad, der erst einmal etwas für sich nimmt? Er sprach mich an: „Lass uns ganz unkompliziert beim Vornamen nennen, Hussein. Du kannst mich Mohamed nennen. Lassen wir den Unsinn mit den Nachnamen. Soll ich dir was verraten? Ich habe etwas Schnaps von zu Hause mitgebracht, weil der hier bestimmt verboten ist.“ Er versteckte ein paar Flaschen hinter seinem Bett und beschwor mich, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich musste etwas unsicher gewirkt haben, denn er sagte: „Wir sind eben schon moderner als ihr aus Marivan, aber wir sind alle Kurden. Meine Freunde aus der Schule haben alle einige Flaschen mitgebracht. Wir sind doch hier in den Ferien, um Spaß zu haben. Wir werden nachts bestimmt viel diskutieren, über unser Volk und dessen Ungerechtigkeiten in diesem Land.“ Ich stimmte ihm zu. Ja, ja, wir waren in den Ferien. Gleichzeitig machte ich mir Gedanken, welche Menschen ich hier noch kennenlernen würde.
Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte und etwas Obst gegessen hatte, liefen Mohamed und ich zur Zentralstation des Camps. Dort trafen wir auf mehrere Hundert Jungen und Mädchen in ihren Uniformen aus verschiedenen Städten Irans.
In einem großen Saal der Zentralstation war der Oberste der Organisation auf der Bühne hinter ein Mikrofon getreten und begrüßte uns alle. Er erklärte uns, warum wir hier seien und welche Aktivitäten uns während der Ferienzeit erwarteten. Er wies darauf hin, was erlaubt und was verboten sei. Nachdem er einige Hinweise zu normalen Aspekten des menschlichen Miteinanders gegeben hatte, wies er strengstens darauf hin, dass jeglicher Genuss von Alkohol strikt verboten sei, und wenn jemand dabei erwischt werden sollte, gäbe es eine Strafe und einen Verweis aus dem Camp. Da ich kleiner war, schaute ich zu Mohamed hoch. Er zwinkerte und lächelte mir zu. Ich machte ein unschuldiges Gesicht, als wüsste ich nicht, was Mohamed mir zuvor in unserer Hütte erzählt hatte. Reden war bekanntlich Silber und Schweigen Gold.
Der Camp-Oberste in Uniform fuhr in seiner endlosen Rede fort: „Morgen kommen unsere Gäste aus Pakistan, Indien, Irak, Bangladesch und Japan. Ihr werdet ein Vorbild für unser Land sein, und wenn unsere Gäste nach den Ferien nach Hause fahren, werden sie nur Gutes über unser Land Iran und die Pishahang berichten. Ihr seid verpflichtet, Freundschaften mit euren Nachbarschülern zu schließen, damit sie unser Land nach den Ferien in guter Erinnerung behalten.“
Nach dem gemeinsamen Abendessen in der Kantine schlenderte ich mit Mohamed und einigen seiner Freunde in Richtung der Hütten. Einer der anderen sagte: „Wir ziehen uns um und besuchen euch in einer halben Stunde.“ Ich fragte Mohamed: „Was meinen deine Freunde damit?“ Er lachte: „Junge, wir sind Kurden, wir haben unsere eigene Kleidung, unsere eigene Tradition. Wir laufen doch nicht den ganzen Tag in der Pishahang-Uniform herum. Mach dir keinen Kopf, du wirst schon sehen.“
In unserem Zimmer wechselte ich die Pishahang-Uniform gegen Mohameds kurdischen Anzug, der etwas zu groß für mich war. Ich fand, dass ich in dieser Kleidung komisch aussah, weil die Ärmel und die Länge der Hose gar nicht zu meinem Körper passten. Aber ich bedankte mich bei Mohamed. Es fehlte das kurdische Tuch für meinen Kopf, sodass ich aus Verlegenheit das Pishahang-Tuch um meinen Hals wickelte. Mohamed betrachtete mich in meiner Verkleidung und sagte: „Hussein, diese Uniform steht dir besser.“
Plötzlich klopfte es an unsere Tür. Die Freunde von Mohamed waren gekommen. Sie waren zu fünft, und das Erste, was einer von ihnen Mohamed fragte, war: „Wer ist das?“ Dabei sah er mich prüfend an. Es war Huschiar, der uns gleich darauf wie auch die vier anderen begrüßte. Mohamed antwortete: „Liebe Freunde, das ist mein Zimmerkollege Hussein aus Marivan. Er hat keine kurdische Kleidung dabei und ich habe ihm etwas von mir geliehen. Die Kleidung ist zwar ein wenig zu groß für ihn, aber Not macht erfinderisch. Es steht ihm doch gut, oder?“
Alle seine Freunde, die es sich gerade in unserer Hütte gemütlich machten, trugen traditionelle kurdische Kleidung. Manche trugen sogar ihre Schuhe. Die Kelasch gehörten wie das Kopftuch zu unserer Tradition. Die Kleidung, die ich trug, war zwar zu groß, meine Schuhe passten nicht zur Kleidung und statt des kurdischen Kopftuches trug ich das rote Pishahang-Tuch um den Hals, aber so war ich erst einmal akzeptiert, was die Kleidung anbelangte. Es war für mich ein völlig neues Erlebnis, aber ich war sehr neugierig.
Huschiar sagte zu Mohamed: „Dies ist unsere erste Nacht im Camp und wir wollen Spaß haben. Also lasst uns einen Schluck Schnaps trinken. Wo ist die Flasche?“
Mohamed kroch unter sein Bett, holte eine Flasche hervor und reichte sie Huschiar.
Der fragte: „Haben wir keine Gläser? – Ach, das macht nichts. Wir nehmen alle einen Schluck aus der Flasche. Und wenn die leer ist, gehen wir alle zum Azerga.“ Er nahm einen großen Schluck aus der Schnapsflasche und reichte sie weiter.
Es war, als wollten wir uns für später Mut antrinken. Rezgar war der Nächste und die Flasche ging reihum, bis ich als Letzter einen großen Schluck trinken sollte. Ich tat so, als wäre es für mich eine Selbstverständlichkeit, aber ich hatte noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken. Ich empfand es als Mutprobe, denn ich wollte mich nicht vor den anderen blamieren. Ich wusste aus eigenen Beobachtungen, dass Alkohol nicht gut für den Körper war, weil er den Geist verwischte. Als mir die Flasche gereicht wurde, erinnerte ich mich an den Vater meines Freundes Jewad. Er war nach zu starkem Alkoholgenuss des Öfteren im Basar umgefallen. Jewad schämte sich sehr für seinen Vater, der häufig mit einer Schubkarre vom Basar nach Hause gebracht werden musste. Man stellte ihn vor der Tür ab und Jewads Mutter musste den Transport bezahlen. Das war mehr als peinlich für die ganze Familie. Es war armselig, wie der Mann im Leben abrutschte. Jedoch konnte man in die Seele eines Menschen nicht hineinschauen, dachte ich. Es konnte jedem passieren, alkoholkrank zu werden, zum Beispiel wenn es Probleme gab, die man nicht lösen konnte. Aber dieses Zeugs, das wusste ich, machte Konflikte im Grunde nur noch schlimmer.
Ich setzte die Flasche an und nahm einen großen Schluck, als hätte ich das schon hundert Mal gemacht. In meiner Brust wurde es auf einmal ganz heiß. Der Schnaps lief in meinen Magen und mir war hundeelend. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich musste würgen, versuchte aber, es zu unterdrücken. Die Flasche kreiste weiter, und als sie endlich leer war, gingen wir alle fröhlich zum Azerga, dem Feuerlager.
Schon von Weitem hörten wir die Musik, und als wir näher kamen, erschien es mir, als wäre ich in einer anderen Welt.
Die Farben des Feuers tanzten vor meinen Augen, als mich Nasrin erblickte. Sie war traurig. „Woher hast du diese Kleidung?“, wollte sie wissen. „Ich habe kein schönes Kleid mitgebracht und kann nicht mit euch feiern.“ Sie hatte Tränen in den Augen.
Ich reichte ihr die Hand zum Tanz und sagte: „Nasrin, du bist auch ohne schönes Kleid ein wertvoller Mensch.“ Dann zog ich sie zum Feuer und wir gesellten uns zu den Tanzenden. Die Musiker spielten unsere kurdische Musik und mir war, als wäre ich losgelöst von allen Sorgen und Anstrengungen des Lebens. Jungen und Mädchen tanzten rund um das Feuer. Es war ein wunderschöner Anblick, die vielen tanzenden Menschen in kurdischer Kleidung und mit fröhlichen Gesichtern zu sehen. Alle Augen, die ich beobachten konnte, leuchteten wie glückliche Blitze und hatten ein Strahlen, als hätte man sich verliebt und würde auf einer Wolke schweben. Die Freiheit kannte keine Grenzen in diesen Glücksmomenten.
Viele der Jugendlichen waren mit ihrer Pishahang-Uniform gekommen. Aber wir Kurden trugen unsere traditionelle Kleidung und die kurdischen Mädchen zeigten sich in farbenfrohen, langen Kleidern, die im Wind um das Feuer wehten und ein wunderschönes Bild abgaben. Voller Romantik spiegelten sich die hübschen Mädchen mit funkelnden Augen hinter den Farben des Feuers. Es waren unbeschreibliche Bilder. Eine Augenweide im schnellen Rhythmus des Tanzes und unserer Lieder.
Immer mehr Pishahang, Türken und andere junge Leute gesellten sich zu uns und reihten sich in den Tanz rund um das Feuer ein. Einige von ihnen kannten diese Fröhlichkeit nicht, doch sie ließen sich bald davon anstecken. Wir alle waren plötzlich eins, wir sangen und tanzten. Bis spät in die Nacht hinein waren wir wie eine glückliche Familie. An diesem Abend gab es keinen Unterschied zwischen den Menschen und ihren Kulturen. Viele von den anderen kannten uns Kurden gar nicht, sie glaubten auch nicht, dass wir im Iran leben. Sie waren neugierig und wollten unsere Lieder und deren Inhalte verstehen lernen.
Es wurde spät, und wir alle gingen in unsere Unterkunft, denn es waren nur noch wenige Stunden bis zum nächsten Morgen. Ich fiel wie berauscht und glücklich in mein Bett und träumte die ganze kurze Nacht von diesem schönen Abend. Es war ein wunderschöner Traum, voller Zufriedenheit und Neugierde, was alles während unserer Ferien im Camp noch passieren würde. Als es Morgen wurde, träumte ich noch immer, jetzt aber anders. In meinem Traum hörte ich ein Lied und dachte in den Bildern meines Traumes, ich sei noch immer am abendlichen Feuerlager. Jedoch war das Lied ein anderes, es war nicht unsere Musik, nicht unser Tanz.
Vorsichtig öffnete ich nach dieser kurzen Nacht meine Augen und bemerkte, dass dieses Lied kein Traum war. Es klang nach der persischen Sprache und hatte auch keine Melodie. Jemand sprach über die Lautsprecher des Camps und weckte alle zum rechtzeitigen Aufstehen. Mit müden Augen schaute ich zu Mohamed, der noch im Tiefschlaf war. Schnell, aber vorsichtig weckte ich ihn. „Mohamed, wir müssen aufstehen. Es ist schon spät. Wir müssen uns anziehen und zum Frühstück in die Kantine laufen.“ Er reagierte sofort und wir eilten zum Waschhaus. Dort stellten wir uns gemeinsam an das Waschbecken, machten eine Katzenwäsche, putzen uns den Nachgeschmack des Alkohols aus dem Mund und schlüpften, als wir wieder in unsere Hütte zurückgekehrt waren, in Windeseile in unsere Pishahang-Uniform. Dann rannten wir los, um zu frühstücken.
Die große Kantine war schon voller Jungen und Mädchen. Wir entdeckten das große Büffet, nahmen uns ein Tablett und stellten uns an. Das Angebot an Speisen war sehr reichhaltig, es gab alles, was das Herz begehrte. Verschiedene Brotsorten, Käse, gekochte Eier, auch Wurst auf iranische Art, Marmelade, Honig, Milch und Orangensaft. Noch nie zuvor hatte ich Nahrungsmittel in dieser Dimension gesehen. Aber es musste ja auch für alle reichen. Ich war begeistert.
Mohameds Augen glänzten und er füllte sein Tablett im Überfluss. Er sagte: „Hussein, mach mir das nach, nimm alles, worauf du Hunger hast.“
Nachdem unser Tablett übervoll war, bahnten wir uns einen Weg an den Tischen vorbei in die hintere Ecke, wo wir auf Huschiar trafen. Er winkte uns und deutete damit an, dass an seinem Tisch noch Plätze frei seien. Huschiar schaute auf unsere Tabletts. „Mohamed, was hast du denn gemacht? Das kannst du nie im Leben alles aufessen, das reicht ja für zehn Personen!“ Mein Tablett war tatsächlich übervoll und ich schämte mich, weil ich das Gleiche tat wie Mohamed.
Mohamed, der sich ebenfalls angesprochen fühlte, lächelte nur und sagte: „Das ist doch egal, ich habe einfach zugeschlagen, weil ich noch nie so viele leckere Sachen auf einmal gesehen habe.“
Huschiar überlegte: „Eigentlich hast du recht, Mohamed. Auch ich habe so einen Überfluss noch nie in meinem Leben gesehen. Ich weiß nicht, wer das alles finanziert. Aber hier kann man mal sehen, wie die Reichen leben.“
Wir saßen am Tisch und aßen alles, was unser Hunger erlaubte. Hossein, der sich zu uns gesellt hatte, sagte: „Auf der einen Seite bin ich froh, so viel Essen vor meinen Augen zu haben, aber wenn ich an zu Hause denke, an unsere Nachbarn, die acht Kinder haben – deren Vater ist Bauarbeiter und findet im Jahr sechs Monate lang keine Arbeit –, dann ist es traurig. Und seine Frau putzt bei anderen Leuten, durchstöbert auf dem Markt die Abfallkörbe nach verfaultem Obst und versucht auf dem Basar altes Brot zu finden. Ihre Kinder sind armselig gekleidet und tragen alte, gebrauchte Kleidung. Da werde ich nachdenklich und traurig.“
Wir alle hoben unseren Blick und stimmten Hossein zu. Was er erzählt hatte, machte jeden von uns nachdenklich.
Wir sahen meinen Lehrer aus Marivan auf unseren Tisch zukommen. „Störe ich euch?“ Als keiner von uns antwortete, fragte er: „Darf ich mich zu euch setzen?“
„Sie stören doch nicht“, sagte ich. „Bitte nehmen Sie Platz.“
Nachdem er uns gefragt hatte, wie es uns geht und ob es uns hier gefällt, rückte er mit seinem eigentlichen Anliegen heraus: „Wisst ihr, ich bin aus einem besonderen Grund zu euch gekommen. Gestern Abend habe ich eure Musik gehört, euch beim Tanzen gesehen und möchte mit euch darüber sprechen.“
Prompt und unaufgefordert reagierte Huschiar: „Wir haben einfach mit allen gesungen, getanzt. Und das Azerga-Feuer war für alle angezündet.“
Der Lehrer sagte: „Ja, aber ihr habt kurdische Kleidung angehabt.“
„Na und?“, entgegnete Huschiar. „Was soll daran falsch sein?“
„Ja“, sagte der Lehrer, „es war euer freier Abend und ich will nicht sagen, was daran falsch oder richtig war, ich möchte euch nur einen Ratschlag geben. Hört auf mich wie auf einen großen Bruder. Wir sind hier auf den Befehl von oben gekommen, und zwar mit dem Ziel, Kontakte zu anderen Schulen zu knüpfen, das Ministerium will es so. Ihr alle müsst auf euch achten. Es gibt hier geheimdienstliche Aufpasser der Savak.“ Mit diesen Worten ließ er uns allein. Im Stillen musste ich an Hajeje denken, den armen alten Mann, dem die Savak Finger- und Fußnägel ausrissen hatten. Die reinste Folter! Aber das behielt ich für mich.
„Was ist das für ein Lehrer?“, fragte Huschiar. „Er spricht persisch und nicht unsere Sprache, kurdisch.“
Ich entgegnete: „Das ist mein Lehrer aus Marivan. Er spricht nur persisch. Er gibt sich auch in der Schule sehr ängstlich. Wenn wir Kinder ihn auf der Straße treffen und grüßen, antwortet er immer nur kurz und knapp.“
„Was ist das für ein Kurde?“, ereiferte sich Huschiar. „Auf solche Feiglinge kann ich verzichten. Im Gegenteil, bei uns in Bane sprechen unsere Lehrer nur kurdisch mit uns. Und sie sind wie unsere Brüder. Nur in Ausnahmefällen, wenn es unbedingt nötig ist, sprechen sie persisch mit uns. Unser Lehrer ist schon oft zur Savak vorgeladen worden, aber er ist mutig und macht weiter. Mein Vater kennt seine ganze Familie, die politisch aktiv ist. Er hat mir auch gesagt, dass sein Großvater in Komala-J-Kaf war.“
Ich fragte ihn, was das sei, Komala-J-Kaf?
„Komala-J-Kaf ist eine Widerstandsbewegung in der Republik Mahabad, die gegen den Schah protestiert hat.“ Huschiar schaute mich an und sagte: „Junge, du musst noch viel lernen! Aber jetzt haben wir keine Zeit, wir müssen gehen. Mal sehen, was sie heute mit uns machen.“
Bevor wir die Kantine verließen, gaben wir unser Tablett zurück, auf dem noch so viel Essen lag, dass einige der Armen in unserer Stadt davon satt geworden wären. Aber man konnte es ja nicht sammeln und dort hinschicken, dachte ich.
Draußen sahen wir viele von den Schülern, die gestern Abend mit uns getanzt und gefeiert hatten. Sie sahen heute Morgen so anders aus. In einer Gruppe konnte ich Mädchen von Jungen nicht unterscheiden. Sie waren sehr schick und sauber.
Huschiar erklärte: „Das sind Japaner. Sie sind erst gestern Abend angereist.“
Oh, ein Mädchen lächelte mich von Weitem an. War es wirklich ein Mädchen? Sie – oder er? – kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich stellte mich kurz vor und sagte auf Englisch: „Hallo, ich freue mich, mein Name ist Ezadi.“ Und in meiner eigenen Sprache fügte ich hinzu: „Ich komme aus Marivan, also mein Name ist Ezadi, made in Iran.“
Mein Gegenüber, dessen Geschlecht ich noch immer nicht erkannt hatte, lachte; die anderen um uns herum auch. Nun hatte ich meinen Spitznamen im Camp weg: „Ezadi, made in Iran.“
Der Tag nahm seinen Lauf. Wir hatten Sport in kleinen Gruppen. Diese Gruppen waren gemischt aus den Pishahang der einzelnen Regionen und den Schülern aus anderen Ländern, deren Sprache wir nicht verstanden. Jedoch zeigte ein jeder Kampfgeist für seine Gruppe und wir verständigten uns mit Mimik und Gestik. Sport vereinigt die Menschen, dachte ich. Man hatte mich in eine Fußballmannschaft gesteckt. Zu der gehörten auch zwei kleine Japaner. Das war mir sehr angenehm. Im Vergleich zu ihnen war ich zwar nur wenige Zentimeter größer, aber ich wusste, ich hatte viel Kraft, um vielleicht ein Tor zu schießen. Und tatsächlich: Ich schoss ein Tor! Meine Mannschaft rannte auf mich zu und alle umarmten mich voller Begeisterung. Die Japaner riefen: „Ezadi, made in Iran! Du hast uns gerettet!“ Ach, mir war es fast peinlich. Wir gewannen zwei zu eins und ich ging glücklich, aber körperlich ausgelaugt mit den anderen zum Duschen. War ich heute ein kleiner Held? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, bis wir später zum Abendessen in die Kantine gingen.
An unserem Tisch sagte Huschiar zu Mohamed und mir: „Ich habe vorhin mit den Musikern von Sene gesprochen und sie waren damit einverstanden, dass sie heute Abend beim Azerga gute Tanzmusik spielen.“ Ich nahm mir heimlich einen Becher Joghurt und etwas Salz mit, weil ich wusste, was auf mich zukam.
Dieses Mal brachte Huschiar eine Flasche Schnaps mit. Es war meine zweite Mutprobe – ein weiterer Schluck Schnaps. Ekelhaft, es wurde wieder heiß in meiner Brust bis hinunter zum Bauch, genau wie gestern. Aber ich ließ mir nichts anmerken, schließlich wollte ich akzeptiert werden. Ich löschte dieses brennende Gefühl auf der Toilette mit dem Joghurt und dem Salz. Niemand bemerkte es. Nachdem die Flasche leer war, traten wir alle vor den kleinen Spiegel im Zimmer und kontrollierten unser Aussehen in der kurdischen Kleidung. Hossein entsorgte zuvor noch den Müll und vor allem die Flasche in der Nähe unserer Unterkunft, damit uns niemand entlarven konnte. An der Straßenecke warteten wir auf ihn und gingen dann vergnügt, aber mit heißem Kopf zu unserem Treffpunkt.
Von Weitem sahen wir das Azerga in lodernden Flammen und die schöne Musik wehte zu uns herüber. Als wir ankamen, spürten wir die gute Stimmung unter den Tanzenden. Wir sangen mit und reihten uns farbenfroh gekleidet in den Tanz ein. Alles war bunt und berauschend im Licht des Feuers. Die schönen Mädchen in ihren wehenden langen Kleidern zu sehen, war wie in einem Traum. Ihre geschminkten Augen spiegelten sich im Licht des Feuers und alles drehte sich im Kreis. Wir waren unbeschwert und konnten für ein paar Stunden die Gedanken des Lebens ausschalten. Die Musiker gaben ihr Bestes und ein Hauch von Romantik schlich sich in meine Gedanken. Wir tanzten weiter im Kreis um das Feuer, bis auf einmal einige Perser dazukamen, sich an unsere Mädchen heranmachten und sie belästigten. Wir Jungs verteilten einige Ohrfeigen, beschimpften die Störenfriede und jagten sie weg, was uns für unsere Mädchen zu Helden machte. Bis Mitternacht genossen wir den Tanz rund um das Feuer.
Hundemüde fielen Mohammed und ich nach diesem wunderbaren Abend in unser Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich der Abend noch einmal in meinem Traum gezeigt. Mein Unterbewusstsein hatte wohl die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber es war ein schönes Gefühl gewesen, ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit mit den Farben im Licht des Feuers. Ich rieb mir die Augen und sah, dass es draußen bereits hell wurde. Plötzlich hörte ich eine Stimme aus dem Lautsprecher, bekam aber nicht mit, was sie sagte. Bei der Wiederholung stand ich kerzengerade neben meinem Bett. Angst, was soll das? Über dem Lautsprecher hörte ich die Namen „Mohamed“, „Huschiar“, „Hossein“, einige andere Namen und „Hussein“. War ich gemeint? Es schien so. Wir alle sollten uns im Büro des Camps melden. Voller Angst gingen wir vor dem Frühstück dorthin. Mohamed war der Meinung, dass wir wegen des Tragens von kurdischer Kleidung beim Tanzen eine Rüge oder eine Strafe bekämen. So etwas war hier wohl nicht erlaubt.
„Na, jedenfalls hatten wir gestern Abend viel Spaß und haben gezeigt, dass wir eine andere Kultur vertreten.“ Hossein glaubte nicht daran, dass unser Handeln falsch gewesen war. „Man kann uns zwar tagsüber die Pishahang-Uniform aufzwingen, aber wir haben unseren Stolz, den uns niemand nehmen wird.“
Am Camp-Büro angekommen, klopften wir leise an die Tür. Unser Lehrer war schon dort. Wir standen da wie Schwerverbrecher, aber wir hatten doch nichts Falsches getan. Oder?
Der Chef des Camp-Büros sagte in wenigen Sätzen: „Ihr alle habt gegen die Regeln des Camps verstoßen. Wir haben eure Zimmer durchsucht und Alkohol gefunden. Abends tragt ihr keine Pishahang-Uniform. Ein Pishahang hat ein Vorbild zu sein. Ihr seid es jedoch nicht.“
Hossein widersprach dem Direktor und wollte uns verteidigen.
Auch Rezgar setzte an: „Aber Herr Direktor …“
Aber man ließ uns nicht zu Wort kommen. Wir hatten keine Chance der Erklärung.
„Packt sofort eure Sachen zusammen, ihr werdet das Camp verlassen und nach Hause gebracht. Eure Schule und eure Eltern werden mit der Post einen Brief bekommen, damit sie von eurem Fehlverhalten erfahren.“ Für den Direktor war die Sache erledigt.
Mit gesenkten Köpfen verließen wir das Camp-Büro. Wir alle hatten Tränen in den Augen, tauschten unsere Adressen aus, reichten uns die Hand und schworen uns, dass wir zu unserer Kultur stehen würden.
Die Fahrt nach Hause war für mich sehr lang und voller Gedanken über das, was passiert war und was noch kommen würde. Ich begann die Ungerechtigkeit zu begreifen, schaute aus dem Fenster des Autos und fühlte mich allein gelassen – wie unser Volk in der Unterdrückung durch andere. Was würde mein Vater sagen? Und meine Mutter? Sie würden überrascht sein, wenn ich bereits nach drei Tagen wieder zu Hause ankam. Die Ferien waren für drei Wochen geplant. Ich dachte an meinen Vater, an das, was er Mele, meiner Mutter, von der Savak und von Hajeje erzählte hatte und wie traurig er über dessen Folterung gewesen war. Ich würde einfach sagen, dass der Hauptgrund dafür, aus dem Camp geflogen zu sein, unsere kurdische Kleidung gewesen sei. Den kleinen Schluck Schnaps würde ich so erklären, dass ich kein Spielverderber sein wollte und dass es mir dabei schlecht gegangen war. Ach, meine Eltern würden mich schon verstehen! Und doch hatte ich das schlechte Gefühl im Bauch, versagt zu haben. Aber ich war auch sehr stolz, stolz, ein junger Mensch zu sein, der über die Ereignisse nachdachte und unsere Kultur schätzte. Mehr wusste ich nicht, aber ich konnte mir selbst ein Bild machen. Ja, ich war stolz, ein Mensch zu sein, der es nicht akzeptierte, was andere befahlen, schrieben oder sagten, ohne selbst darüber nachzudenken. Ich begriff nicht, warum man im Camp so hart gegen uns vorgegangen war, warum sie uns rausgeschmissen hatten. War es wegen des bisschen Alkohols? War es wegen unserer Kleidung? Unsere Kleidung war doch so schön! Besonders die Kleidung unserer Mädchen. Die anderen Gruppen hatten unsere Kleidung bewundert. Und die Schüler anderer Nationen, zum Beispiel die Pakistaner, hatten doch auch ihre traditionelle Kleidung getragen. Warum war es nur uns verboten gewesen? Was war schlimm daran? Vielleicht hatte Huschiar recht gehabt und die harte Reaktion beruhte tatsächlich auf unserer Kleidung. Die Machthaber des Iran wollen die Ungerechtigkeit gegen unser Land versteckt halten, damit die Außenwelt nichts davon erfuhr. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das nichts Gutes bedeutete. Warum herrschte in diesem Schüler-Camp eine so starke Überwachung? Wir waren doch noch Kinder, Jugendliche! Warum waren dort Savak-Beamte, die uns ausspionierten und überwachten? Welche Gefahr barg ein Schülertreffen? Mit all diesen Gedanken schaute ich aus dem Fenster und bemerkte, dass ich wieder in Marivan angekommen war.
Der Fahrer des Wagens setzte mich vor unserer Haustür ab. Ich nahm meinen Koffer und bedanke mich. Allerdings aus reiner Höflichkeit. Innerlich kochte ich, weil der Fahrer bestimmt auch ein Savak war.
Meine Mutter schaute aus dem Küchenfenster und sagte: „Junge, was machst du denn schon hier? Es sind erst drei Tage, die du weg warst.“ Sie machte eine einladende Handbewegung. „Komm rein, ich mache dir ein Glas Milch.“
Kleinlaut erzählte ich meinen Eltern, die in der Küche saßen, alles, was passiert war und warum ich wieder zu Hause war. Ich war schuldbewusst, aber meine Befürchtungen traten nicht ein.
Mein Vater sagte: „Junge, du brauchst dich nicht weiter zu erklären. Was passiert ist, kann man nicht rückgängig machen.“ Und doch schaute er mich traurig an. Nach einer Weile fuhr er fort: „Hussein, mein Junge, pass immer auf dich auf da draußen, kümmere dich um die Schule und lerne! Die unwichtigen Dinge vergisst du am besten. Versuche, nicht mehr an dieses Erlebnis zu denken.“
Ich war erleichtert, dass meine Eltern nicht böse auf mich waren.
Am nächsten Tag traf ich Jewad auf der Straße. „Oh, Hussein, ich freue mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir? Was machst du hier? Ich dachte, du bist für mehrere Wochen in diesem Ferien-Camp, und jetzt bist du hier?“
Ich schüttelte den Kopf und antwortete zerknirscht: „Ja, ja du hast recht, ich bin vorzeitig wieder zurück. Die haben mich und meine Freunde rausgeschmissen.“
Dich und deine Freunde? Wer sind deine Freunde?“ Mit erstauntem Gesicht wartete Jewad auf meine Antwort.
Ich sagte: „Jewad, wenn du Zeit hast, erzähle ich dir, was passiert ist.“
„Ja, natürlich habe ich Zeit, erzähle schon!“
Dann begann ich von der Reise zu erzählen. Ich sprach von Huschiar, Hossein, Mohamed und den anderen neuen Freunden, die ich kennengelernt hatte. „Jewad, weißt du, trotz dieser kurzen Reise und obwohl man uns rausgeschmissen hat, war es schön und beeindruckend. Ich habe gute neue Freunde gefunden, und noch wichtiger: Ich habe große Städte gesehen und sehr große Straßen, die man dort Autobahnen nennt. Es ist jammerschade, dass du nicht dabei warst. Wärst du mitgekommen, wäre es noch schöner gewesen. Es hätte dir auch gefallen.“
Jewad lächelte mir zu. „Ja Hussein, ich glaube dir. Eine Reise ist immer gut und man kann viel Neues sehen und neue Erfahrungen sammeln. Aber du weißt doch, dass wir eine arme Familie sind und meine Eltern mir diese Reise nicht erlauben konnten. Ich freue mich, wenn ich während der Sommerferien arbeiten und etwas Geld für Schulsachen sparen kann. Einen Teil gebe ich meinen Eltern für den Haushalt. Du weißt doch, mein Vater verdient sehr wenig, und mein Bruder und ich müssen mithelfen, damit unsere Familie nicht um Hilfe bitten oder gar wie Bettler die Hand aufhalten muss. Es ist ein Geschenk, wenn meine Mutter einmal lächelt, weil ihr Gesicht sonst nur von Sorgenfalten gezeichnet ist. Ich liebe meine Mutter, weil sie für uns Kinder immer das Beste versucht, sodass wir alle zwei Tage eine warme Mahlzeit haben. Auch verstehe ich, dass mein Vater manchmal auf dem Basar trinkt, es sind seine Sorgen, und ich schäme mich dafür. Aber was kann ich schon tun?!
„Jewad, ich würde auch gern etwas Geld verdienen, aber ich weiß gar nicht, wie und wo ich in den Ferien arbeiten könnte.“ Der Gedanke erschien mir gar nicht so schlecht. Ich sagte: „Auch ich möchte meinen Eltern eine Freude machen und vielleicht heimlich etwas sparen.“
Jewad kam etwas in den Sinn: „Ich kenne zwei Jungs aus unserer Schule, die arbeiten in einer Autowerkstatt. Die haben von dem Meister viel gelernt und wissen, wie man Autos repariert. Sie lernen, schauen zu und später wollen sie eine eigene Autowerkstatt aufmachen – also später, wenn die Schule beendet ist.“
Ich hatte Bedenken. „Jewad, ohne Studium können die doch nicht selbständig werden!“
Jewad war anderer Meinung und erwiderte: „Die können, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, als praktisch zu denken. Meine Freunde können nicht lange auf Kosten ihrer Eltern leben, weil die nämlich arm sind.“
„Aber auch ich möchte mein eigenes Geld eher verdienen.“ Der Gedanke nahm immer mehr Formen an. „Und weißt du, Jewad, wenn ich einmal eine Freundin habe, möchte ich ihr imponieren und ihr jeden Freitag ein Geschenk kaufen, damit sie mich mag. Danach würde ich sie zum Zarivar-See auf einen Spaziergang einladen und sie küssen. Dann würde ich ihr eine Seerose aus dem See holen und wir würden verliebt, Hand in Hand, um den See wandern. Es wäre mein Traum, einem Mädchen aus Marivan zu gefallen.“
Jewad hatte mir die ganze Zeit zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Nach einer Weile sagte er: „Hussein, ich finde, dein Vater hat recht. Du hast einen sehr guten Vater.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich.
„Das weißt du ganz genau, mein lieber Freund. Wir Kurden haben keine Möglichkeit, wichtige Beamte dieses Landes zu werden oder gar in ein Ministerium zu gehen. Wir werden doch offensichtlich gehasst, wenn schon unsere Kleidung wie im Camp nicht erlaubt ist. Wir haben in unserem Land niemals eine Chance weiterzukommen.“
„Aber wir sind stolze Menschen.“
„Ja, Hussein, das weiß ich auch, aber trotzdem hat dein Vater recht. Du musst lernen zuzuhören und solltest erst dann sprechen. Du hast noch gar nicht begriffen, warum dein Vater recht hat. Er ist ein kluger Mensch und weiß, dass Lernen nicht nur für dich gut ist, sondern auch für unsere Stadt und unser Volk. Nur mit Wissen kann man den Menschen helfen, also den Armen. Nimm doch als Beispiel meinen Vater. Vor lauter Kummer betrinkt er sich dreimal die Woche und wird mit der Schubkarre nach Hause gebracht. So möchte ich in meinem Leben nicht enden.“ Jewad seufzte und sprach weiter: „Mein armer Vater hat nicht studiert und weiß es nicht besser. Er sorgt sich um seine Familie und wie er sie ernähren soll. Dabei sinkt er immer tiefer. Hussein, du weißt es. Ich will nicht so werden wie er, aber er ist mein Vater! Er war doch nie in einer Schule und hat nur einziges Ziel vor Augen: das Überleben. Sonst nichts. Ich wollte dir damit sagen: Nur das Lernen bringt den Menschen weiter. Stell dir vor, du hättest Medizin studiert, dann könntest du Wunder vollbringen, den armen Menschen helfen, gesund zu werden, du könntest Krankheiten bekämpfen, gerade bei den armen Menschen in unserem Volk.“ Als ich nichts auf seine Worte erwiderte, fragte mich Jewad: „Hussein, hast du schon mal von unserem großen Dichter Qaneh gehört und was er in seinen berühmten Gedichten schrieb? Das hörte sich so ungefähr an: Kurden, Kurdistan, steht alle auf, senkt nicht mehr euren Kopf aus Unwissenheit, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Andere Nationen bereisen die Sterne, fliegen mit Menschen auf den Mond, schicken Satelliten in den Himmel, ergründen andere Planeten. Deshalb müssen wir auch lernen und unser Wissen ständig erweitern. Nur mit Wissen kommen wir weiter oder wir sind verlorene Schafe.“
„Ja, Jewad, natürlich weiß ich von Mamosta Qaneh. Und ich verstehe, was du meinst. Mein Vater liest manchmal zu Hause aus seinen Büchern. Oft habe ich ihm gelauscht. Ohne Studium kann keiner von uns Politiker werden und für unsere Gerechtigkeit kämpfen. Ohne Wissen kann man nie kämpfen. Das weiß ich auch. Die Machthaber wollen uns in Dummheit hüllen. Nur mit Wissen können wir deren Kampagnen entgegenwirken und kämpfen. Die Machthaber denken ausschließlich an ihr eigenes Wohl und ihren Reichtum und behandeln uns, das Volk, wie eine dumme Viehherde. Aber wir sind es nicht. Ich weiß noch nicht viel über unsere Welt, weil ich noch sehr jung bin. Jedoch bin ich überzeugt, dass es überall auf der Welt gleich funktioniert. Die Menschen arbeiten oft Tag und Nacht, um zu überleben. Sie haben gar keine Zeit nachzudenken. Woher kommt das, warum ist das so? Gott weiß das? Meine Mutter sagt immer wieder, Gott hat das gegeben und das ist das Schicksal für uns Menschen. Aber ich glaube nicht daran, denn jeder hat die Möglichkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ Jetzt musste raus, was ich schon so lange mit mir herumtrug: „Jewad, bei uns im Land wird gefoltert! Ich habe von einem Beispiel gehört und weiß nicht, wie viele Fälle es in unserem Land noch gibt.“ Das Beispiel von Hajeje ging mir wieder durch den Kopf. Man hatte ihm Finger- und Fußnägel ausgerissen, nur weil er sich nicht in persischer Sprache hatte wehren können. Hajeje würde immer in meinen Gedanken bleiben, ebenso wie die Ungerechtigkeit in unserem Land. Die Würde des Menschen wurde bis auf das Blut verletzt.
„Oh, Hussein, sehr gut, was du sagst. Diese Reise hat dir offenbar gutgetan. Schön, dass du so denkst. Pass auf, ich mache dir zwei Vorschläge. Ich sorge erstens dafür, dass du während der Ferien eine Arbeit findest, damit du nicht nur etwas Geld verdienst, sondern auch andere Menschen kennenlernst, die sich wie du Gedanken machen und sich sorgen. Sie wissen schon mehr als wir, da sie etwas älter sind. Du solltest mit eigenen Augen sehen, wie hart der Kampf um das Überleben der armen Menschen ist, besonders das der Arbeiter, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und keinen gerechten Lohn erhalten. Zweitens schlage ich dir vor, meine Freunde kennenzulernen. Wir treffen uns dreimal pro Woche, manchmal auch öfter, im Abe Balkis, dem kleinen Kaffeehaus, und spielen Backgammon. Das Spiel ist jedoch nicht das Wichtigste. Wir diskutieren viel. Das Spiel dient dazu, die Neugierigen abzulenken, damit sie sich nicht fragen, warum wir so oft zusammensitzen. Komm doch morgen am Nachmittag dorthin, dann kannst du meine Freunde kennenlernen und selbst von ihnen lernen.“
Das imponierte mir. Voller Freude gab ich Jewad meine Hand und sagte: „Danke Jewad, du bist mein bester Freund. Gern werde ich morgen kommen. Es ist auch egal, welche Arbeit du für mich findest, ich werde sie annehmen.“
Wir verabschiedeten uns und Jewad flüsterte mir noch ins Ohr: „Aber Hussein, behalte das alles für dich, erzähle es niemandem! Unsere Gespräche behalten wir für uns.“
Ich war begeistert. Mit großer Freude schlenderte ich nach Hause. Mein Kopf war voller Gedanken. Ich freute mich, morgen die Freunde von Jewad kennenzulernen. Es waren die besten Menschen in unserer Stadt und mir kam Kak Kawe in den Sinn. Er war anders als die meisten Menschen in unserer Stadt. Immer, wenn ich ihn von Weitem sah, dachte ich, er sei mein Vorbild. Sollte ich einmal heiraten, dann würde ich es so machen wie er. Kak Kawe hatte immer ein Lächeln im Gesicht, für jeden ein gutes Wort, er sah in seiner kurdischen Kleidung stets gepflegt und sauber aus. Manchmal sah ich ihn mit seiner Frau am See spazieren gehen. Es war bei uns nicht normal, dass ein Mann mit seiner Frau Hand in Hand öffentlich spazieren ging. Eigentlich war es verboten.
Kak Kawe war Akademiker. Er hatte in der Oberschule unterrichtet. Wegen seiner politischen Meinung war er vom Ministerium und den Savaks suspendiert und daraufhin arbeitslos geworden. Er durfte nicht mehr unterrichten und hatte wegen seiner politischen Meinung sogar im Gefängnis gesessen. Das Einzige, was ihm und seiner Familie geblieben war, waren eine Unterkunft und ein Auto ähnlich einem Pickup. Er verlieh den Wagen an Bauern, damit sie ihre Ernte von den Feldern zum Markt bringen konnten. Wenn die Bauern kein Geld für das Benzin hatten, gaben sie ihm Kartoffeln und Gemüse. So kam auch bei ihm und seiner Familie warmes Essen auf den Tisch. Er war ein guter Mensch, den die Bauern schätzten. Auch meine Eltern sprachen öfter mit Hochachtung von ihm. Aber er war den Savak-Leuten ein Dorn im Auge.
Kurz bevor ich zu Hause ankam, überlegte ich, welchen Grund ich für morgen vorbringen würde, um in das Kaffeehaus zu gehen. Wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam, brauchte ich eine Erklärung für meine Eltern. Ich beschloss zu sagen, dass wir uns für ein Fußballspiel verabredet hatten und ich etwas später nach Hause käme. Das dürfte erst einmal genügen. Später konnte ich immer noch sagen, dass wir uns trafen, um Backgammon zu spielen.