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Kapitel 4. Berlin.
ОглавлениеBundesnachrichtendienst, Berlin. Chefbüro der provisorischen Einsatzzentrale. 9. Mai. 14:20 Uhr Ortszeit. Sektion für militärische Angelegenheiten; Abteilung TE (Terrorismus und Kriminalität) Problemlöser.
Zu den Neuerungen der jüngsten Zeit gehörte der Umzug der BND-Zentrale von München-Pullach nach Berlin, der bereits 2006 beschlossen worden war und nun, trotz der üblichen bei solchen Großprojekten stattfindenden Verzögerungen und nach Fortschreiten der Baumaßnahmen für das neue Gebäudeareal, sukzessive im März dieses Jahres begonnen hatte.
Ein Teil des weitläufigen Areals befand sich immer noch im Bau, doch hatte man hier, in der neunten Etage des Hauptgebäudes, bereits ein provisorisches Lagezentrum eingerichtet, um den Übergang, der sich im Laufe dieses und des nächsten Jahres vollziehen sollte, so reibungslos wie möglich zu gestalten. Etwa ein Viertel der Büros waren besetzt.
Generalmajor Heribert Stoessner saß in dem schweren Ledersessel hinter einem wuchtigen Schreibtisch, der vor unwirklicher Aufgeräumtheit strotzte, so, als habe sein Besitzer nicht wirklich viel zu tun. Der Mann in der grauen Uniform mit den rot-goldenen Abzeichen wirkte klein zwischen den Möbeln, und trotzdem verströmte er die Aura von Macht und unbeugsamen Willen.
Das Alter war unmöglich zu schätzen, zwischen fünfzig und fünfundsechzig war alles möglich. Sein Kopf dominierte ihn in ungewöhnlicher Größe und saß fast unmittelbar halslos auf den Schultern. Nase und Mund der völlig bartlosen Gesichtspartie hoben sich groß und fleischig hervor, die Ohren erinnerten von ihrer Größe fast schon an die Alien-Rasse der „Ferengi“ aus der Fernsehserie „Star Trek“. Der Haarschnitt war militärisch kurz und hellgrau, beinahe schon weiß. Die wachen, fast brauen losen Augen blieben hinter einer selbsttönenden Brille verborgen, deren Gläser, da er seitwärts gegen das Nachmittagslicht in Richtung Fenster aufsah, etwas Farbe angenommen hatten und daher deren wütendes Funkeln kaschierten. Sein Blick war direkt auf seinen Gesprächspartner gerichtet, dessen Kontur sich im Licht befand.
„Wir leben im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends“, gab Stoessner gerade etwas ungehalten von sich. „Da rennt kein Agent als Playboy mehr im Alleingang durch die Gegend und legt Leute um und Mädchen flach, auch wenn sie es verdient haben.“ Er war sich der Komik seiner Worte nicht bewusst. „Heutzutage haben wir Satteliten, wir hören Telefone ab, wir überwachen das Internet. Unsere Waffen sind Tastaturen und Bildschirme, nicht Messer und Pistolen!“
„Jawoll, Herr Generalmajor!“ stimmte Günter Freysing dem Chef der Abteilung TE, gegen Terrorismus und Internationale organisierte Kriminalität, zu, neben dem Besuchersessel stehend, da Stoessner ihn noch nicht aufgefordert hatte, Platz zu nehmen.
Die Anrede war anerkennend, wusste er doch, dass Stoessner lange Zeit in der Truppe aktiv gewesen war. Kommando Spezial-Kräfte, KSK. Bevor er hochdekoriert von „Wo-auch-immer“, wie er es nannte, zurückgekehrt und dann in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren eine beinahe kometenhafte Laufbahn eingeschlagen hatte. KFOR im Kosovo und Nato-HQ Brüssel waren nur zwei seiner Stationen, die bekannt waren; es gab auch weniger bekannte.
„Sax“ dachte derweil an seinen letzten Einsatz, der heute Vormittag erst geendet hatte, nach einer weiteren mehr als heißen Nacht mit der schönen Rita – oder Cathleen, wie sie in Wirklichkeit wohl hieß. Katie! - Der Morgen, nachdem sie einander erkannt hatten, war noch einmal sehr feurig gewesen, so als sei es ihre letzte gemeinsame Nacht auf Erden. Er reute nichts.
Leider war sein Freund und Kollege Oskar Brenner, ein blonder Enddreißiger, dann sehr pünktlich gewesen und hatte ihm und Katie vor der Hütte kurz hupend den mitgebrachten Sportflitzer, einen flotten BMW i8, überlassen, während Brenner selbst den in Udine besorgten Leihwagen in eine völlig andere Richtung steuerte, um mögliche Verfolger auf eine falsche Fährte zu locken. Das war ein alter Trick, aber nichtsdestotrotz wirksam. Brenner gehörte zur „speziellen Fahrbereitschaft“ des BND in Pullach, er hatte Freysing schon vielfach in Europa mit Transportmitteln versorgt. Sie kannten einander seit Jahren sehr gut.
Es ging nach dem eiligen Auschecken zusammen mit Katie in dem neuen Wagen zunächst die Via Nazionale 110 hinauf zur offenen Grenze am Plöckenpaß und durch die malerische österreichische Bergwelt.
Am bekannten Plöckenhaus legten sie eine kurze Rast ein, da sie bei ihrer schnellen Abreise am frühen Morgen das Frühstück hatten auslassen müssen.
Dann führte sie die Fahrt weiter über Kötschach-Mauten nach Oberdrauburg, wo im Dunst des späten Morgens die Ruine der fernen Hohenburg zu erahnen war. Im Draubachtal passierten sie gegen neun Uhr das imposante Schloss Bruck bei Lienz. Immer wieder blickte er dabei sorgsam in den Rückspiegel.
Sie sprachen unterwegs nur sehr wenig, hielten aber lächelnd oft und intensiv Händchen, beinahe wie verliebte Teenager. Im Autoradio lief dazu das Stück „Boom Boom“ aus dem Debut-Album von „Femme Schmidt“; später dann irgendwann „Shadowman“ aus „Above Sin City“ von derselben Sängerin.
Der Staatsstraße 108 folgend, fuhren sie durch das östliche Tirol weiter, bis sie in das kleine Städtchen Matrei kamen. Nach wie vor keine Verfolger.
Das Navigationssystem leitete sie von dort aus zielsicher in und durch den Felbertauerntunnel nach Mittersill und dann weiter über die Pass-Thurn-Straße nach Kitzbühel; schließlich am „Wilden Kaiser“ vorbei auf die Inntalautobahn in Kufstein-Nord, wo sich Katie dann entschied, bis München mitzufahren. Das Misstrauen, so es überhaupt noch bestanden hatte, war verschwunden.
Nur einmal mussten sie irgendwo auf dem Weg durch die Alpen einen unbeabsichtigten kleinen Umweg fahren, als sie auf eine Straßensperre stießen. Diese galt jedoch nicht etwa ihnen, sondern war aufgrund einer Überschwemmung durch die Frühjahresschmelze erforderlich geworden.
Es war ansonsten eine ruhige Fahrt mit insgesamt eher mäßigem Verkehr: Die Winterurlauber waren schon weg und die Sommerurlauber noch nicht da. Sie waren jetzt schon auf bundesdeutschem Gebiet und absolut sicher, nicht mehr verfolgt worden zu sein. Nicht umsonst hatte er beim Bezahlen der Rechnung im Landgasthaus nebenbei die Bemerkung fallen lassen, über die Schweiz nach Frankreich fahren zu wollen; die Richtung, die Oskar Brenner mit dem Leihwagen eingeschlagen hatte. Erst, als sie von der A93 auf die A8 in Richtung der bayerischen Landeshauptstadt wechselten, sammelte sich mehr Blech auf den Straßen, aber sie nutzten permanent die Überholspur.
Kaum vier Stunden nach ihrem Aufbruch erreichten sie den Flughafen „Franz-Josef-Strauß“. Sie waren nicht gerast, um das geschulte Gendarmenauge nicht auf sich Aufmerksam zu machen, aber gleichwohl zügig vorangekommen.
„Heute ist nicht alle Tage, wir sehen uns wieder, keine Frage!“ meinte „Sax“ zu dem Zeitpunkt.
Ein intensiver Abschiedskuss, und mit einem letzten Winken nahm sie ihr weniges Gepäck aus dem Kofferraum. Dann war sie Vergangenheit. Katie war nun in einer Sackgasse gelandet, nachdem sich Günter Freysing als BND-Agent entpuppt hatte. Ihr unter wahrlich vollem Körpereinsatz mühsam aufgebauter Kontakt zur DEMTAG war mit der Flucht Dr. Julius Stahlmanns in den Nahen Osten abgerissen und ihr Einsatz damit wohl beendet.
Die Überwachung der DEMTAG würden ein paar freundliche Herren vom MAD oder BKA übernehmen - Inland war nicht das Geschäft des BND – und sicher bald den Vorstandsbossen ein paar unangenehme Fragen über die Herkunft der Pläne für den Prototypen stellen, der nun seinerseits wohl gerade schon von Experten des Verteidigungsministeriums auseinandergenommen wurde.
Anschließend würde man den Franzosen einen Wink geben, wenn sich der Diebstahlverdacht bewahrheitete, den Katie geäußert hatte - dann konnten sie ihr eigenes Leck dichten.
´Alles nicht mehr meine Aufgabe… - diplomatischer Kram!´, dachte Freysing.
„Eigentlich wollte ich sie eine Weile aus dem aktiven Dienst heraushalten“, weckte ihn dann Stoessner aus seinem halben Tagtraum, „bis sich die Wogen in Skopje etwas geglättet haben, aber erstens kommt es anders…“
„…und zweitens wie man grad´ nicht denkt.“ ergänzte Freysing.
Der Generalmajor bedeutete ihm gnädig mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Er tat es nicht etwa, um seinem Agenten das Stehen zu ersparen, sondern um selbst nicht länger zu seinem Gesprächspartner aufblicken zu müssen.
Etwas sehr gravierendes musste vorgefallen sein, dass man ihn von München nicht in sein Unterschleißheimer unauffällig auf den Namen „Gernot Flöter“ als „Musiklehrer und Orchesterspieler“ gemietetes kleines Häuschen fahren ließ, und auch nicht in die noch bestehende alte Zentrale in der bayrischen Landeshauptstadt beorderte, wo er auch sein kleines Büro besaß.
Ein weiterer Bediensteter der Pullacher Fahrbereitschaft, den Freysing nur vom Sehen her erkannte, hatte ihn am Flughafen erwartet und war erschienen, just in dem Moment als Katie außer Sicht im Gebäude verschwunden war, um den nächsten Flieger nach Paris zu buchen.
Der Mann hatte ihm während der kurzen Instruktion nur einen Flugschein in die Hand gedrückt, um selber den BMW i8 zu übernehmen. Die Logistik des BND funktionierte tadellos. Kurz nach 13 Uhr landete seine Maschine pünktlich in Tegel – der neue, „Willy-Brandt“, fristete immer noch sein Dasein als irgendwann in der Zukunft zu eröffnender Geisterflughafen - von wo aus er mit einem Taxi zum neuen BND-Komplex in der Bundeshauptstadt gelangte. Der Fahrer, ein redseliger eingebürgerter Vietnamese, plapperte akzentuiert ohne Unterlass, und so er hatte irgendwann auf „Durchzug“ geschaltet. Er fühlte sich unausgeruht und schlafbedürftig.
Nun saß er in dem modern eingerichteten Büro dem von Präsidentenbildern und deutschen Hoheitssymbolen umrahmten Generalmajor Stoessner gegenüber, dem neuen Leiter für Operative Einsätze der Sektion, seitdem dessen Vorgänger nach einem dieser kleinen Geheimdienst-Skandälchen aus dem Amt geschieden war. Er mochte den neuen Chef der Militär-Abteilung TE (Terrorismus und Internationale Organisierte Kriminalität) nicht sonderlich, aber das beruhte seines Erachtens nach auf Gegenseitigkeit.
Mehrfach hatte Freysing überlegt, den Dienst zu quittieren; so richtige Verwendung schien man für ihn sowieso nicht mehr zu haben und seine Arbeit war lange Zeit geprägt von gewöhnlicher nachrichtendienstlicher Tätigkeit.
Früher einmal, ja früher, da war es anders gewesen.
Besser? Nein, nicht besser, aber eben anders.
Beinahe wehmütig dachte er zurück an seine recht bewegte Vergangenheit. Begonnen hatte alles während seiner Studienzeit in Leipzig. Nach einer kurzen Etappe als vom BND angeworbener, junger „Spion“ in der früheren „DDR“ während der aufregenden Zeit vor und während der „Wende“, als Deutschland schließlich wiedervereinigt wurde, zählte neben Ost- und Südosteuropa später in erster Linie der Nahe Osten zu seinem Einsatzgebiet - nur unterbrochen von einer Stippvisite in die Südstaaten der USA, wo es um die Aushebung einer größeren Neonazizelle gegangen war, die in Mitteldeutschland ihren Ursprung hatte. Die Jahre gingen turbulent durchs Land.
Dann wieder Nahost; das Spionagegeschäft verlagerte sich dort allerdings nach dem 11. September 2001 mehr und mehr auf die Unterbindung terroristischer und weniger auf feindliche Regierungsaktivitäten. Und hinter allem standen freilich mehr und mehr handfeste kriminelle wirtschaftliche Interessen.
Während jener Zeit hatte er eine relativ feste, über sechs Jahre andauernde Beziehung mit einer mehr als bemerkenswerten etwas jüngeren Frau – Susanne Heydt - begonnen, die allerdings in der ganzen Zeit nichts über seine wahre Tätigkeit zu hören bekam, und sehr viel nachgedacht über sein Leben und die Zukunft. Aber es war zu Ende gegangen, wie alles einmal zu Ende geht. Er war kein Mann für eine endgültige wirklich familiäre Bindung.
Die Zeiten, in denen er sich an dunklen Orten mit der „Opposition“ herum prügeln „durfte“, schienen indessen vorbei – bis ihn der Auftrag „Stahlmann“ unlängst in die Türkei geführt hatte. Endlich wieder im ´richtigen´ Einsatz!
Die Operativ-Abteilung war personell nahezu auf null reduziert, fast war er der letzte verbliebene Agent der alten Schule, er kannte nur noch vier weitere Männer und zwei Frauen, die ähnliche Aufgaben wie er selbst zu erledigen hatten; ihre Einsatzgebiete waren auf verschiedene Regionen der Welt verteilt.
Natürlich besaß der BND an den verschiedensten neuralgischen Orten rund um den Globus ein mehr oder weniger dichtes Netz an Spitzeln, Informanten und halboffiziellen Vertretern, aber Männer seines eigenen Schlages – eben freie „Feldagenten zur besonderen Verwendung“ - waren eher selten geworden. Er kam sich vor wie der letzte Überlebende einer allmählich ausgestorbenen Rasse.
„Den letzten reißen die Bestien…“ sinnierte er leise und nachdenklich.
„Wie meinen?“
„Die beiden, die ich in Skopje zu Allah schicken musste. Sie waren hinter uns her. Es hieß, sie oder ich – und sie waren darauf aus, uns zu töten.“
„Hm!“ grunzte Stoessner. „Und das Mädchen?“
„Swimming Pool.“ zitierte Freysing die Insiderbezeichnung für den DGSE.
Stoessner runzelte kurz die Stirn.
Auf dem kurzen Flug von München nach Berlin hatte Günter Freysing seinen Bericht ins IPad getippt und der befand sich jetzt bereits im hausinternen Computersystem. Stoessner hatte fraglos noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu lesen. Er setzte ihn daher nur kurz ins Bild; offenbar gab es wesentlich Wichtigeres zu besprechen, wenn man ihn so schnell hierher beorderte.
„Sie sind vertraut mit dem Einsatz unserer Fregatte „Baden-Württemberg“?“ fragte Stoessner deshalb auch bald, zum Zweck von Freysings Hierseins kommend.
Dieser begann mit den Fakten, die er kannte.
„Die Baden-Württemberg, ja… - im Rahmen einer Gemeinschaftsoperation mit UN-Mandat vor der somalischen Küste auf Piratenjagd. Es ist nach der Fertigstellung im Februar oder März diesen Jahres ihr erster regulärer Einsatz…“
Stoessner unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.
„Die Fregatte ist letzte Nacht am Eingang des Golfes von Aden vor der somalischen Küste spurlos verschwunden!“
Einen Augenblick herrschte absolute Ruhe im Raum, man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können und es hätte sich angehört wie ein Pistolenschuss.
„Was meinen sie mit… „verschwunden“?“ fragte Freysing nach dem Moment.
„Verschwunden! Im Sinne von weg. Nicht mehr da!“. Stoessner war erregt.
„Satellitenüberwachung, AWACS, Radar, U-Boot-Sonar, Sichtkontakt mit anderen Schiffen…?“, hakte Sax gestikulierend nach. „Der Golf von Aden gehört zu den meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt, und damit auch zu den meistüberwachten.“ Noch etwas fiel ihm ein: „Was ist denn mit Bad Aibling?“
Die kleine Stadt in Oberbayern war vor einigen Jahren weltweit nicht nur als Moorheilbad bekanntgeworden, als sich herausstellte, dass dort jahrelang eine Abhörstation der USA im Rahmen des „Echelon“-Projekts betrieben wurde, mit Wissen und Billigung der Bundesregierung. Schließlich hatte man aber die gesamte Anlage an den deutschen Staat, sprich an den BND, verkauft, der seit dieser Zeit von dort aus den Telefon- und Internetverkehr des Nahen Ostens und Nordafrikas belauschte. Auch das lange Zeit „Streng geheim“ natürlich.
„Ergebnislos, allesamt. Es scheint, als habe sie von einer Sekunde auf die andere aufgehört, überhaupt zu existieren. Natürlich gab es reichlich Telekommunikation dort, nachdem die NATO dort die großangelegte Suche begann. Aber bislang nichts, dass uns wirklich weiterbrächte.“
„Das heißt, die ganze hochmoderne Elektronik da draußen und da oben ist nicht imstande, eine hundertfünfzig Meter lange Fregatte in einem überschaubaren Abschnitt des Arabischen Meeres ausfindig zu machen?“
Er deutete mit der Hand in Himmelsrichtung aus dem Fenster, das zum Grüngürtel hinaus ging, welcher das Areal des BND zur Chausseestraße hin begrenzte. Damit spielte er unter anderem auch auf die quasi lückenlose Satellitenüberwachung an, mit der man jederzeit die Position jedes Kriegsschiffes oder anderen Schiffes auf der Welt ausfindig machen konnte, sofern es über Transponder verfügte – und das war nahezu jedes heutzutage.
„Ganz genau!“
Günter Freysing erinnerte sich an den Vortrag, den ihm Stoessner über die modernen Methoden der Spionage schon bei seinem Amtsantritt gehalten hatte. Von „Humint“, also der Nachrichtenbeschaffung durch Menschen, hielt er offenbar gar nichts. Relikte! Nur einen kleinen Auszug seiner Rede hatte er zu Beginn des Meetings erst wiederholt, als er Freysing wegen des seines Erachtens nicht zeitgemäßen Vorgehens in der „Stahlmann“-Sache tadelte.
„Die NATO hat sofort einige weitere nähere Schiffe in den Bereich beordert, in dem die Baden-Württemberg unterwegs ist. Vergeblich. Keine Spur von ihr. Der letzte Funkspruch kam heute Morgen so gegen 5:30 Uhr somalischer Ortszeit, hier also um 3:30 Uhr. Da kam die Meldung, dass sie einen verdächtigen multiplen Radarkontakt haben und eine Aktion unmittelbar bevor stünde.“
„Und danach nichts mehr?“
„Nein, gar nichts. Sie sind im Rahmen des Auftrags auf Funkstille gegangen und haben sich an die Piratenverfolgung gemacht. So weit war das über die Satellitenaufzeichnung nachvollziehbar. Dann ist sie verschwunden. Djibouti hat sie als erstes verloren. Ein AWACS der Amerikaner hatte sie eben noch auf dem Radar, dann war sie weg. Die Suche blieb bis jetzt ergebnislos. Sowohl technisch als auch auf Sicht. Nichts.“
In Djibouti befand sich, wie freilich auch Sax wusste, die Leitstelle der internationalen Gemeinschaft, die im Golf von Aden und um die Küsten Somalias militärisch die Handelsschifffahrt vor Piratenübergriffen schützen sollte. Mehrere Staaten, darunter die USA, Deutschland und Frankreich, besitzen dort einen ständigen Stützpunkt.
„Gesunken?“
„Es gibt dort weder Untiefen noch gefährliche Strudel, außer bei einer kleinen jemenitischen Inselgruppe, aber die ist wohl zu weit weg von der gemeldeten Route.“
„Versenkt?“, verbesserte sich Freysing.
„Wer sollte die Fregatte versenken? Somalische Piraten sind dazu wohl nicht in der Lage!“ meinte Stoessner abfällig. Einen Feindkontakt mit Schusswechsel hätte man sicher sofort gemeldet. Außerdem, zurzeit gibt’s wohl keinen Feind, der deutsche Fregatten versenkt.“
„Wenn sie die Zeit dazu hatten, was zu melden.“, meinte „Sax“ nachdenklich. „Und Feinde haben wir genug. Al Quaida hat oft genug gedroht, Deutschland als Ziel und nicht mehr als Rückzugsraum zu behandeln. Es gab ja schon mehrere terroristische Planungen, aber sie konnten stets rechtzeitig vereitelt werden. Ein deutsches Ziel außerhalb unserer Landesgrenzen…“
Stoessner unterbrach ihn: „Eine „Baden-Württemberg“ sinkt nicht von jetzt auf gleich, selbst nicht bei einem Angriff mit Torpedos oder Haftminen. Das dauert seine Weile. Es hätte einen Notruf gegeben. Oder wenn nicht den, dann zumindest eine Störung des örtlichen Funkverkehrs. Den gab es aber nicht. Es gab einfach gar nichts mehr. Und solch ein Attentat? Auf hoher See? Dafür käme wohl eher ein Aufenthalt in einem Hafen in Frage!“
„Wir wissen also gar nichts!“ stellte Günter Freysing fest.
„Jedenfalls nicht viel. Deswegen habe ich Sie ja herholen lassen, Freysing. Angeblich sind sie unser Bester.“ Aus Stoessners Mund klang es abfällig.
„Sie schicken mich nach Somalia?“ fragte Freysing etwas ungläubig nach. Sein Einsatzgebiet, seine Schwerpunkte zumindest, hatten in den „guten alten Tagen“ schließlich immer mehr in Europa oder im Nahen Osten gelegen.
„Ich schicke sie nach Hamburg!“ stellte Stoessner trocken fest. „Während Sie sich mit diesem Mädchen in der italienischen Ferienhütte vergnügt haben, sind wir schließlich nicht untätig gewesen.“
„Sie glauben doch nicht etwa den Blödsinn der Amerikaner, die behaupten, dass die somalischen Piraten mit islamistischen Gruppen unter einer Decke stecken?“ entgegnete Freysing skeptisch.
Nach wie vor galt Hamburg als ein Nest der Islamisten. Allerdings, Hamburg war auch der Heimathafen der „Baden-Württemberg“. Alte Agentenregel: Wenn du irgendwo nicht weiter kommst, fange wieder am Anfang an.
Die neue Fregatte war in Hamburg vor rund zwei Monaten ausgelaufen, um ihre Vorgängerin abzulösen, die bisher am Horn nahezu den gleichen Auftrag erfüllt hatte und nun bald außer Dienst gestellt werden sollte.
„Wo soll ich suchen?“
„Kapitän Frier hat das Kommando über die „Baden-Württemberg“ erst kurz vor ihrem Auslaufen zum Horn von Afrika übernommen, nachdem der bisherige erste Mann auf der Brücke abgelöst werden musste.“
„Abgelöst werden musste?“ Günter Freysing wiederholte die Worte langsam und bedächtig, als wittere er einen Hinweis.
„Ja. Komische Sache. Kapitän Novotny hat seinen Posten auf sanften Druck hin aufgegeben, um einer Entlassung wegen Trunkenheit im Dienst und einem Strafverfahren zu entgehen. Ein Unfall während der Testfahrt auf der Nordsee. Da soll er ziemlich besoffen gewesen sein. Wurde aber alles etwas unter den Teppich gekehrt, von wegen Pressefreiheit und so… und außerdem, lebt Kapitän Friers Familie auch dort oben.“
„Dünn.“
„Sehr dünn. Ja. Aber das ist alles, was wir im Moment überhaupt haben. Vor Ort in Afrika sind die Kollegen am Ball.“ Das war eine schlichte Untertreibung für das, was das Verteidigungsministerium in Bewegung gesetzt hatte, um die Fregatte zu finden. „Da unten brauchen wir sie nicht!“
„Ich soll also nach Hamburg fahren und ein bisschen im Umfeld von Novotny und Frier stöbern.“
Freysing klang etwas enttäuscht; er hatte auf einen aktiveren Part gehofft. Andererseits dachte er sich, dass es der einzige Anhaltspunkt war, den der Dienst wohl überhaupt hatte. Und wer weiß, vielleicht lag ja in den amerikanischen Gerüchten doch ein kleines bisschen Wahrheit. Nicht, das er daran glaubte, aber er wollte es zumindest nicht gänzlich außer Acht lassen.
Allerdings brachte sein Auftrag, nach Hamburg zu gehen, auch noch ein weiteres kleines Problem mit sich. Inlandsermittlung ist dem BND untersagt, und so würde er früher oder später die örtlichen Polizeibehörden hinzuziehen müssen – das, wo er doch lieber frei und unabhängig tätig wurde. „Sax“ war nicht begeistert.
Generalmajor Stoessner setzte, Freysings lautlose Überlegungen wohl erahnend, seinen strengsten Blick auf.
„Genau. Aber tun sie es diesmal bitte etwas diplomatischer als auf ihrer letzten Mission. Keine Mädchen. Keine Leichen. Keine Probleme.“
„Aber Atmen und Trinken darf ich noch?“
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