Читать книгу Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel - Hanna-Linn Hava - Страница 10
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Die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen ist zu Recht ein beliebtes Motiv in Film und Buch. Wahrscheinlich hat jeder von euch zumindest einmal darüber nachgedacht oder eine Situation erlebt, in der er sich sehnlichst wünschte, diese Superkraft zu besitzen, oder etwa nicht?
Mit 14 hatte ich mir diese bereits erarbeitet. Es war so viel leichter gewesen, als ihr vermuten würdet. Weil es einen zwingenden Punkt gibt, der größtenteils unbekannt ist.
Ihr wollt alle schöner aussehen, als ihr es tatsächlich seid. Keine empörten Widerworte bitte. Ich unterstelle niemandem maßlose Eitelkeit. Und falls doch, kann euch meine Meinung egal sein, macht euch doch nicht so abhängig vom Urteil anderer. Aber zu spät. Das wurde euch schon unumkehrbar indoktriniert.
Ihr seht die Makellosigkeit eurer Vorbilder, ihr brütet über den tausendfach gefilterten Instagram Bildern, die euch mit überirdisch perfekten Körpern angreifen. Und dann kapituliert ihr, ohne überhaupt zu wissen, dass gerade die Deckung eures Selbstbewusstseins unter einer Attacke zusammengebrochen ist, und ihr bestellt euch brav die lippenvolumenvergrössernden Cremes, die wimpernverlängerndenundstärkenden Mascaras und die sauteuren Leggins aus viel zu billigem Material.
Ihr schleicht gedemütigt ins Fitnessstudio, um aus Hühnerbrüsten etwas Männliches, oder ihr schnallt euch verschämt wattierte BHs um, um aus Hühnerbrüsten etwas Weibliches zu machen, und ihr übt den coolen Blick oder den sexy Schmollmund tausende von Malen im abgeschlossenen Bad.
Wenn ihr euch jetzt ertappt fühlt, beruhige ich euch in einem Anflug von Mitgefühl: Keine Sorge, ihr tut das alles, weil ihr völlig normal seid. Euch bleibt nichts anderes übrig, und ihr greift auf eine Verhaltensweise zurück, die das Überleben der menschlichen Spezies bis jetzt entscheidend mitgesichert hat: Ihr passt euch den gegebenen Umständen und Schönheitsidealen an. Kompliment also.
Ein Freak wie ich denkt anders. Und dass so jemand eben nicht langfristig überlebensfähig ist, habt ihr ja bereits mitgekriegt. Ihr seid ja nur noch mit dabei, weil ihr schon sensationslustig darauf giert, endlich meinen Tod mitzuerleben. Da braucht ihr noch ein bisschen Geduld. Ich bin gerade so schön am Erzählen.
Und zwar davon, wie der Wunsch nach Schönheit das Unsichtbarwerden verhindert.
Es ist ein ziemlich simples Gesetz: Wir sind aufgehübschte Leute gewohnt. Nicht nur das. Wir sind es gewohnt, aufgehübschte Leute an der Art ihrer Aufgehübschtheit einzuordnen. Und wir sind es gewohnt, dass aufgehübschte Leute auch gesehen werden wollen.
Und dann existieren diejenigen, die so dermaßen nicht in dieses Normbild passen, dass sie auch schon wieder auffallen. Die extrem Fetten. Die extrem materiell Unbegünstigten. Die extremen Nerds. Nicht die coolen Nerds, sondern die, deren Kleidung von Mami ausgesucht wird, die beim Reden sabbern und im Sportunterricht mit ihren X-Beinen verzweifelt versuchen mitzuhalten. Die Opfer, um es kurz zu machen.
Und genau in der Mitte zwischen den Aufgehübschten und den Opfern existiert ein winziger Punkt der absoluten Neutralität. Wer sich in diese Neutralität hüllt, der wird unsichtbar. Ein Quäntchen zu wenig bedeutet bereits, als Opfer wahrgenommen zu werden. Und ein Quäntchen zu viel schubst einen in den sichtbaren Normbereich.
Ich hatte hart daran gearbeitet, diesen Punkt so genau wie möglich zu treffen, und nach einigen Monaten des Herumexperimentierens und der Rückschläge hatte ich ihn im Alter von zwölf Jahren ziemlich exakt erreicht.
Natürlich gab es Tage, an denen ich schluderte und sichtbar wurde, und natürlich bewahrte ich es mir vor, in bestimmten Situationen nachlässig zu werden.
Aber so insgesamt kümmerte ich mich jeden Morgen dann, wenn andere vor dem Spiegel standen und ihre Make-Up Maske auftrugen oder ihre Haare in einen Gel-Helm verwandelten, darum, sorgfältig die Rüstung meiner Unsichtbarkeit anzulegen.
Auch am Tag meiner Abfahrt ins Straf-, äh, Entschuldigung, Ferienlager, hatte ich mir selbstverständlich diese Mühe gemacht. Da sogar besonders. Ich wusste schließlich, dass der erste Eindruck der wichtigste war. All die, welche mich beim Kennenlernen als unsichtbar wahrnahmen, würden über spätere Fehler in der Rüstung eher hinwegsehen. Und ihr seht bitte über den Umstand hinweg, dass es sich bei dem Ausdruck „Unsichtbarkeit wahrnehmen“ um ein Paradoxon handelt. Es nervt mich schon so ungemein, dass ich auf diese unzulängliche Form der menschlichen Kommunikation namens Sprache zurückgreifen muss. Mir fällt gerade auf, wie fertig mich dieser Umstand eigentlich macht, so dass ich dem später noch ein ganzes Kapitel widmen werde. Erinnert mich daran.
Aber jetzt saß ich erst mal im Bus. In meiner ganzen Unsichtbarkeit. Die bestand aus einem grauen, weiten T-Shirt mit einer dunkelblauen Kapuzenjacke darüber, Jeansshorts und grauen Sneakers. Ansonsten achtete ich darauf, dass meine Haare ordentlich, aber langweilig halblang geschnitten waren, natürlich ungefärbt in ihrem herrlichen deutschen Durchschnitts-Dunkelblond, ich hielt jedes Mittel von meinem Gesicht fern, das meine Augen größer oder meine Lippen röter machen würde, und ich trug stets irgendein besonders uncooles Accessoire. Heute war das eine Kette mit einem fürchterlichen bunten Schmetterling als Anhänger. Komischerweise funktionierte die Unsichtbarkeit am besten, wenn es ein derartiges eigentlich auffälliges Detail gab.
Bisher hatten mich auch alle in Ruhe gelassen. Ich registrierte zwar die verstohlenen Blicke, mit denen die anderen sich und auch mich gegenseitig musterten, aber ich wusste schon lange, dass sie dabei viel weniger wahrnahmen als ich, meist dafür jedoch im Gegensatz zu mir die Dinge, auf die es ankam. In meinem Fall sollten sie also eigentlich den Köder schlucken und mich, unbewusst als zu langweilig zum Befreunden und zu langweilig zum Mobben eingestuft, sofort wieder vergessen.
Bis auf Finn. Der hatte mir zugelächelt. Ich spürte, wie mir beim Gedanken daran sofort wieder die Röte ins Gesicht flog.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Aber sogar das Erröten war eine praktische Waffe. Es machte meine Schüchternheit glaubhafter.
Alles in allem würde diese verfluchte Reise eine schwierige Schlacht werden, aber so langsam begann ich wieder darauf, auf meine Superkräfte zu vertrauen, stöpselte meine Ohrhörer ein, zog mir die Kapuze ins Gesicht und versuchte bei meinem schon tausendmal gehörten Klassiker „Die zehn brutalsten Serienkiller der Geschichte“ zu entspannen, um die Fahrt übelkeitsfrei zu überstehen.
Was natürlich nicht geschehen würde. Die Bus fahrt verstrich zwar ohne Kotzen, war aber dennoch geprägt durch Sterbenselendigkeit. Das dachte ich, bis die Fähre in die tiefschwarze See stach und ich begriff, was sterbenselend wirklich bedeutete.
Mit rebellierendem Magen und bleierner Müdigkeit torkelte ich so oft vom Liegesitz zum Klo und zurück, dass ich diesen Weg bald blind beherrschte. Überraschend oft stieß ich dabei mit Leuten aus meinem Bus zusammen, denen es wohl zumindest ähnlich ging, denn wir tauschten nie mehr als verstörte Blicke aus bleichen Gesichtern, was irgendwie eine sehr angenehme Form der Kommunikation war, denn diese beherrschte ich mit Bravour.
Anscheinend bestand damals mein Repertoire an Mimik aus drei verschiedenen Basis-Blicken: böse, verstört oder, mit einiger Anstrengung, harmlos lächelnd.
Inzwischen ist das anders. Ich habe bewusst gelernt, selbst die kleinsten Muskeln meines Körpers zu benutzen, um eine differenzierte Ausdrucksweise zu kreieren. Was leider komplett für den Arsch war. Jetzt stehe ich hier, um zu sterben und ärgere mich darüber, dass ich so viel Zeit damit verschwendet habe, mir eine aussagefähige Mimik anzutrainieren. Ach nein, ich ärgere mich nicht wirklich. Reine Koketterie. Eigentlich bin ich ja schon stolz darauf, was ich da geleistet habe.
Aber wie gesagt, damals war ich noch jung und dumm und nur Meisterin über drei Gesichter, und ich saß auf der Fähre fest mit einem Haufen Irrer. Also eigentlich mit einem Haufen normaler Menschen, aber Menschen verhalten sich so irrational, dass es mir manchmal absolut irre erscheint.
Nein, falsch, inzwischen weiß ich ja, dass ich die Irre bin, nicht die anderen. Und dass das, was ich damals als irrationales Verhalten empfand, in Wirklichkeit ein der menschlichen Evolution zuträgliches Verhalten sein muss.
Die Natur reguliert sich bekannterweise selbst, und wenn etwas so widernatürlich ist, wie ich es bin, dann wird das auf die eine oder andere Weise eliminiert. Pech gehabt, Natur, da komme ich dir zuvor und eliminiere mich lieber selbst.
Aber wie sollte ich nicht glauben, dass Menschen völlig verrückt seien, wenn ich aus der engen, stinkenden Klokabine in den engen, stinkenden Vorraum torkelte, und ein Mädchen sich dort vor dem schmutzigen Spiegel mit zitternder Hand den Lippenstift auffrischte, während ihr noch Kotze im Ausschnitt hing.
Da waren wir beide, eingepfercht in einen Blechkasten, der nur durch irgendwelche nicht verständlichen physikalischen Gesetze auf der Wasseroberfläche hing und nicht einfach auf den Meeresgrund sank, da waren wir, immer in Gefahr, eben doch zu sinken und obendrein ausgeliefert unsren eigenen schwachen Körpern, die uns mit besagter Sterbenselendigkeit quälten – und sie dachte als einziges daran, hübsch auszusehen?
Ich hingegen hatte meine Zeit damit verbracht, einen Teil meines spärlichen Internetguthabens aufzubrauchen, um meine Überlebenschancen im Falle eines Unglücks zu googeln, und vor allem die Methoden, um es zu steigern. Ich hatte die Fluchtwege studiert, hatte Informationen über den Lebenslauf unseres Kapitäns eingezogen, hatte den Zustand der Rettungsboote inspiziert und mir eine riesige Portion extrem fettiger Pommes heruntergezwungen, um im Notfall nicht so schnell an Unterkühlung zu sterben.
Mindestens Letzteres war eine dumme Idee gewesen, weil die Pommes längst wieder unverdaut im Klo gelandet waren.
Aber dennoch – Lippenstift wäre das allerletzte gewesen, an das ich jemals gedacht hätte. Obwohl ich zugeben musste, dass ich, als ich sie so verzweifelt an sich herummalen sah, nicht umhinkam, mir vorzustellen, wie ich gerade aussah und was Finn davon halten würde.
Das waren sehr fremde Gedanken für meinen Kopf. Ich schob es auf eine Art Unzurechnungsfähigkeit durch die Seekrankheit.
Trotzdem warf ich beim Hinaushuschen einen Blick in den Spiegel, aber ich konnte nicht viel erkennen, entweder weil der Spiegel zu schmutzig oder ich zu unsichtbar war.
Und in der Tür stieß ich dann mit Brigitte zusammen. Was sie spontan als Gelegenheit ansah, mich in den Arm zu nehmen, die dumme Kuh. Das hätte ich zumindest beinahe laut ausgerufen. Mir fiel noch rechtzeitig ein, dass es keine gute Idee wäre, meine Betreuerin bereits am ersten Tag zu beleidigen. Also beschloss ich ebenfalls spontan, das am letzten Tag nachzuholen. Dadurch konnte ich ihre schwitzige Nähe, ihren warmen feuchten Atem und ihren Geruch nach Deo, Schweiß und Käsebrot besser ertragen.
„Arme Kleine“, raunte sie mit mitleidigem Ton zu nahe an meinem Ohr. „Brauchst du eine Tablette gegen Übelkeit? Du kannst jederzeit zu mir kommen!“
„Wenn du dir jemals die Zeit genommen hättest, genauestem die Nebenwirkungen dieser Tabletten zu studieren, würdest du niemals daran denken, derartigen Giftmüll fremden Kindern anzubieten!“, wollte ich ihr erklären, tat es aber nicht. Sogar in meinem desolaten Zustand klappte die Filterfunktion noch.
„Danke, das werde ich“, knirschte ich hingegen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann wand ich mich möglichst höflich aus ihrer christlichen Umarmung und schleppte mich auf meinen Liegesitz zurück.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Und wünschte mir sehnlichst, unsere Fähre würde in einen Sturm geraten und kentern.