Читать книгу Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel - Hanna-Linn Hava - Страница 12
ОглавлениеFünf
Vielleicht ist es jetzt Zeit für eine kleine Abhandlung über Einsamkeit. Einsamkeit ist unsexy.
Also wäre es blöd von mir gewesen, euch dieses Thema gleich zu Beginn vor den unbedarften Kopf zu knallen.
Aber zu diesem Zeitpunkt folgt ihr mir bereits mit genügend Interesse, um euch auch mal was zumuten zu dürfen. Ich habe euch echt geschont bisher. Das fällt mir schwer, weil ich nie genau einschätzen kann, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen. Ich kapiere es schon irgendwann, aber meistens erst dann, wenn jemand heult. Deswegen habe ich eine effektive Strategie entwickelt: Ich sage gar nichts. Das bedeutet nicht, dass ich nicht reden würde. Ich kann eine stundenlange Unterhaltung mit euch führen, ohne auch nur einen Satz mit Informationsgehalt von mir zu geben. Dafür lasse ich euch munter drauf los plaudern. Ihr macht das gern. Und es fühlt sich für euch nicht so an, als würdet ihr dabei ausgehorcht und auf eure Schwächen und wunden Punkte getestet. Im Gegenteil. Ihr findet mich schnell außerordentlich sympathisch.
Zu Beginn übertrieb ich es dermaßen mit meiner grenzenlosen Empathie, dass alle Mädchen meine beste Freundin werden wollten und sich alle Männer in mich verliebten. Einfach, weil mein Interesse an ihnen so grenzenlos war. Was sagt euch das?
Das sagt euch bereits etwas über Einsamkeit, korrekt.
Ihr seid alle irgendwie einsam. Die Beziehungen, die ihr miteinander führt, sind alles Kompromisse. Niemals findet ihr jemanden, der wirklich bis in die tiefsten Tiefen eures Herzens blicken kann und euch wirklich aufrichtig versteht. Das Komische darin ist, dass ihr euch das zwar sehnlichst wünscht, es aber andererseits selbst bei eurem Gegenüber nie ernsthaft probiert.
Ihr wollt für das geliebt werden, was ihr wirklich seid und gleichzeitig schämt ihr euch für das, was ihr seid und versucht, es hinter tausend Masken zu verstecken. So wird das nie was.
Aber das ist mir egal. Ich habe mir dieses Spiel lange Zeit angesehen, anfangs irritiert, dann amüsiert und zuletzt konsterniert.
Trotz allem jedoch ist die Einsamkeit nur ein kleines Zimmer in eurem Zuhause, ein kleines Zimmer, das ihr gut verschlossen und größtenteils vergessen habt.
Solche wie ich wohnen in der verfickten Villa Einsamkeit.
Schon von Geburt an. Wenn das jetzt in irgendjemanden so was wie einen Hauch Mitleid erweckt: Schluck ihn runter.
Ich hab mich längst gemütlich in meiner Einsamkeit eingerichtet. Solange ich für mich bin, spüre ich sie auch nicht. Solange ich Menschen als fremde Spezies betrachte, die ich beobachte und analysiere, spüre ich sie ebenfalls nicht. Im Gegenteil, dabei fühle ich mich bestens unterhalten. Ihr seid eine ziemlich kurzweilige Spezies. Wenn ihr zu langweilig werdet, provoziere ich euch ein bisschen, und dann wird es ganz schnell wieder spannend.
Schwierig wird es dann, wenn ich anfange, jemanden von euch zu mögen. Schaut nicht so überaus skeptisch. Das kann mir unter Umständen schon mal passieren. Auf eine gewisse Art mag ich euch alle. Etwa so, wie ihr Hunde mögt. Sorry, das war herablassend. Aber nicht so beabsichtigt. Und ich verspüre jetzt auch keine Lust dazu, euch das so auszuführen, dass ihr wieder besänftigt seid.
Denn es geht jetzt um das, was ihr Liebe nennt und schon längst millionenfach durch Klischees und Kommerz missbraucht, gefoltert und verkrüppelt habt. Ich bleibe dennoch bei diesem Begriff, sonst überfordere ich euch.
Aber wir sprechen dennoch über verschiedene Gefühle. Wenn ihr jemanden liebt, dann wollt ihr eigentlich nur jemanden, der euch liebt. Ihr sucht euch einen Partner danach aus, wie sehr ihr euch von ihm gemocht und begehrt fühlt. Da ist nichts Verwerfliches daran. Im Gegenteil.
Es war jedenfalls ziemlich einfach, sie mir abzugewöhnen, die Liebe, aber wie mit allen schlechten Gewohnheiten: Zuerst einmal muss man beinahe daran verrecken, bevor man sich überwinden kann, damit zu brechen.
Dafür hatte ich dann leichtes Spiel mit dem Rest dieser nervigen Gesellschaft: Hass, Wut und Angst waren ziemlich easy zu eliminieren. Behalten habe ich die Einsamkeit.
Davor hat sie mich aber so was von kalt erwischt, diese Scheiß Liebe. Und für einen Moment fühle ich mich mit euch solidarisch, mit jedem von euch, der seinen ersten Liebeskummer durchlebt hat. Wir sind vielleicht von unterschiedlichen Planeten, aber was das betrifft, haben wir alle schon mal gelitten wie verrückt.
Damals jedoch hätte ich nicht damit gerechnet, dass mich jemals so was treffen würde. Nennt das ruhig Arroganz. Ich nenne es eine Bildungslücke.
Das kommt davon, wenn man sich bereits als kleines Mädchen mehr für Serienkiller als für Märchenprinzen interessiert.
Und wenn man dann völlig unvorbereitet nach Norwegen stolpert und in die Arme von jemandem fällt, der aussieht wie Legolas und einem sagt, wie süß er einen findet.
Hätte ich nur auf meine Kusinen gehört, die mich ständig zu Pyjama Partys mit High-School-Liebesfilm-Marathon einluden. Hätte ich nur Frauenzeitschriften gelesen anstatt Romane. Oder wenn schon Romane, dann wenigstens Jane Eyre und nicht Jack London. Hätte ich mich nur von Moritz küssen lassen, anstatt ihm eine reinzuhauen.
Dann wäre ich vielleicht ein klein wenig besser auf alles vorbereitet gewesen. Oder auch nicht. Ihr tut schließlich all diese Dinge und wollt dann trotzdem unbedingt sterben, wenn ihr unglücklich verliebt seid.
Davor kommt aber immer erst mal das Glück. Das Glück, jemanden entdeckt zu haben, der so hell für dich leuchtet, dass du erst daran merkst, wie dunkel es davor eigentlich war.
Das war Finn für mich. Ein Licht in einer Einsamkeit, die erst durch ihn einen Namen bekam.
Der Tag unserer Ankunft jedenfalls war strahlend hell. Ich stand wieder mal mit meinem gesamten Gepäck vor dem Bus herum und schämte mich. Diesmal waren die Gründe dafür leichter zu benennen: Ich befürchtete, Finn könne den positiven ersten Eindruck von mir längst bereut haben, nachdem ich mich im Bus wie eine Idiotin aufgeführt hatte.
Zum Glück waren wir bereits ohne viel Zögern in zwei Gruppen nach biologischem Geschlecht aufgeteilt worden. Trotz den verwirrenden Gefühlen von Scham, Schwindelresten und Glück, konnte ich es mir nicht verkneifen, diese Aufteilung als albern einzustufen.
Diese Besessenheit, Menschen nach der Form ihrer Genitalien zu ordnen, war albern. Und nein, das ist kein Plädoyer für die Gender-Debatte. Die Gender-Debatte ist ebenso albern. Die gleiche Besessenheit, Menschen bloß nicht nach der Form ihrer Genitalien zu ordnen. Radikales Gedankengut, die eine wie die andere Seite. Es gibt nun mal zwei verschiedene biologische Geschlechter und ein paar Ausnahmen dazwischen. Na und? Kein Grund, sich deswegen fertigzumachen.
Als viel bedeutsamer stufte ich zum Beispiel die Vorliebe für politische Ansichten ein. Und ein sinnvolleres Auswahlkriterium wäre immer noch sogar so was wie der gleiche Musikgeschmack anstatt der Tatsache, dass wir alle eine Vagina hatten.
Außerdem hätte dann die Chance bestanden, mit Finn in ein Zimmer zu kommen. Dies mochte dazu beitragen, dass ich so herzhaft über die Trennung von Mädchen und Jungen fluchte. Ein ganz klein wenig bestimmt.
So hielt ich mich an die sportliche Streberin, ihr erinnert euch an sie?
Sie hatte immerhin eine Vagina, gehörte also in meinen Club, und löste in mir latente Sympathiegefühle aus. Das schafften schon mal wenige Menschen, gleich welchen Geschlechts. Da war ich für faire Gleichberechtigung.
Außerdem machte sie den Eindruck von immenser Schüchternheit. Das gefiel mir auch. Mit schüchternen Menschen konnte ich gut umgehen, weil ich nicht schüchtern war, es aber längst überzeugend spielte. Also witterten sie in mir eine Leidensgefährtin und waren gleichzeitig dankbar dafür, wenn ich dann die Führung übernahm.
„Wollen wir zusammen in ein Zimmer?“, fragte ich freundlich. Dafür hatte ich ein Extra-Lächeln entwickelt, das nicht nur harmlos, sondern auch vertrauenerweckend wirkte. Hoffte ich wenigstens.
Bei dem Mädchen mit den schwarzen Zöpfen funktionierte es. „Ja, gern“, sie lächelte so dankbar zurück, dass sie mir ein wenig leidtat. Mädchen wie sie waren das ideale Opfer für jeden charmanten Psychopathen.
Zum Glück für sie war das einzige Furchtbare, was ich mit ihr vorhatte, eine funktionierende soziale Bindung auf Zimmergemeinschaftsbasis. Und ihre Stimme war klar und angenehm, sie roch nicht seltsam, sie las Bücher, sie würde sich eignen.
„Ich heiße Lily“, sagte ich immer noch sehr freundlich.
„Und ich Lotta“, erwiderte sie.
„Fängt beides mit L an, das passt doch!“ Ich war stolz auf mich. Gemeinsamkeiten zu finden und herauszuheben förderte die Bindung zwischen Personen. Ich wusste das, war aber normalerweise trotzdem nicht gut darin.
„Luna fängt auch mit L an!“, krähte es da hinter uns. Ich zuckte zusammen. Das Mädchen, das einfach meine Taktik zur Verschwesterung klaute, hatte sich irgendwie dazu geschlichen. Oder nein, jemand wie sie schlich nicht. Jemand wie sie stampfte. Nicht, weil sie zufällig klein und dick war und nicht anders gehen konnte, sondern weil sie gehört werden wollte.
Obwohl sie nicht viel älter als wir sein konnte, hatte sie etwas von einer 50-Jährigen. Das mochte an ihrer halblangen blonden Dauerwelle liegen. Oder dem bunten Blumenkleid und den Gesundheitssandalen. Oder an der Art wie sie redete.
„Ich wurde nach der Mondgöttin benannt, weil meine Mutter fand, ich war schon gleich nach der Geburt so weiß und golden“, plapperte sie. „Habt ihr vielleicht ein Hustenbonbon für mich? Mein Hals ist sehr empfindlich, und die Luft auf der Fähre war total feucht. Bestimmt sehe ich ganz schlimm aus nach der langen Fahrt, habt ihr geschlafen? Ich habe kein Auge zugetan, bestimmt schlafe ich erst mal 20 Stunden!“ Sie lachte so fröhlich, als wäre das eine echt gute Nachricht für alle.
Ich mochte sie nicht. Aber ich fand sie interessant. Und es war immer praktisch, jemanden im Team zu haben, der gern und viel redete.
„Magst du auch zu uns ins Zimmer, Luna?“, fragte ich, etwas bemühter freundlich diesmal, und verkniff mir jeden Kommentar zu Müttern, die ihre Töchter nach einer Mondgöttin benannten.
„Oh, das ist so lieb von euch! Ich hatte schon Angst, dass hier alle so arrogant sind! In meiner Klasse sind alle ziemlich arrogant, das sind ganz schlechte Schwingungen! Ich hab auch viel Schokolade dabei, falls das Essen hier schlecht ist. Schokolade ist sehr wichtig bei Nährstoffmangel, sagt meine Mutter.“
Einen winzigen Moment erstarrte mein Lächeln, als sich auf der Zunge dahinter folgende Worte bildeten:
„Hast du bereits einmal in Erwägung gezogen, die geistige Gesundheit deiner Mutter in Frage zu stellen? Die Kriterien sowohl bei der Auswahl deines Namens als auch deiner Frisur und Kleidung legen dies zumindest nahe, und wenn sie dich wirklich mit Schokolade füttert, um dich vor Nährstoffmangel zu schützen, dann solltest du unter Umständen das Jugendamt informieren und dich zur Adoption freigeben lassen, bevor deine geistige und körperliche Gesundheit vollständig ruiniert sind.“
Aber da Finn nicht in unmittelbarer Nähe war, funktionierten meine Filter. Ich schaffte also ein: „Ich mag Schokolade.“
Das war immer noch besser als vieles, was ich sonst so produzierte, wenn ich darauf konzentriert war, etwas anderes lieber nicht zu sagen.
„Ich auch!“, bestätigte Lotta.
„Wir passen wirklich gut zusammen!“, rief die kleine Luna. Sie schwitzte jetzt schon so stark, dass feuchte Löckchen an ihrer rosa Stirn klebten.
„Wir sind die L-Girls die auf Schokolade stehen!“
Ich wechselte einen raschen Blick mit Lotta.
Zum Glück bestätigte der ihre identisches Entsetzen. Wenn ich mich nicht völlig irrte, und ihre aufgerissenen Augen eigentlich signalisierten, dass sie dringend aufs Klo musste. Der Gesichtsausdruck von Entsetzen und heftigem Pinkeldrang lagen leider recht dicht beieinander.
In dem Moment legte Finn von hinten den Arm um mich. Ich zuckte nicht mal zusammen, so rasch hatte ich ihn bereits an seinem Geruch erkannt. Das war übrigens sein Glück. Sogar meinem eigenen Bruder hatte ich mal einen Zahn ausgeschlagen, als er mich ohne Vorwarnung von hinten anfasste. Zum Glück nur einen Milchzahn.
„Das könnt ihr vergessen, Mädels!“, sagte er. „Lily und ich haben schon ein eigenes Zimmer reserviert.“
Ich kicherte dann eben mal wieder dümmlich. Das hatte ich anscheinend schnell gelernt.
Mehr musste ich zum Glück aber auch nicht tun, dann war schon wieder der stets wachsame Lukas zur Stelle und sammelte Finn wieder zu den restlichen Penisträgern ein, die geschlossen zu ihrer Unterkunft geführt wurden.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Lotta und Luna starrten mich beide an. Diesmal meinte ich Ehrfurcht in ihren Gesichtern zu erkennen.
„Kennt ihr euch etwa?“, fragte Luna ungläubig.
„Flüchtig“ sagte ich. Aber da war sie wieder, diese Leichtigkeit, die die letzten Schatten des Schwindels auflöste.
Und als ich meinen Rucksack auf das schmale, quietschende Bettgestell in dem engen, miefigen Zimmer pfefferte, sang ich irgendein Lied vor mich hin, von dem ich nicht einmal mehr wusste, dass ich es jemals gehört hatte. Natürlich hatte sogar ich das im Lauf der Jahre nebenbei als Allgemeinwissen aufgeschnappt: Verliebte verhielten sich sprichwörtlich dämlich. Nur hätte ich diese Diagnose niemals mir selbst gestellt. Weil ich mich zwar gewiss sehr oft sehr dämlich verhielt, aber nie irrational. Nach meinen eigenen Maßstäben jedenfalls. Und denen traute ich schon damals mehr als den euren.
Aber ich hätte es bis zu diesem Zeitpunkt absolut ausgeschlossen, mich zu verlieben. Was ich bisher davon erfahren hatte, war mir wenig reizvoll erschienen:
Ein Mensch war von einem anderen Menschen grundlos völlig besessen, verlor dabei jeden Bezug zur Realität und litt unendlich. Was bitte schön sollte daran attraktiv sein?
Sex hingegen war eine spannendere Option. Dabei schienen die Leute wirklich so richtig Spaß zu haben. Ich freute mich bereits darauf, endlich alt genug zu werden, um Sex zu haben, seit ich 8 Jahre alt war.
Als ich das in eben jenem Alter meiner Mutter freudig verkündete, reagierte sie mit einem gewissen Entsetzen. Nicht nur das. Meine Eltern beraumten eine Gesprächsrunde ein, in der sie mir sehr seltsame Fragen stellten. Das taten sie mit so vielen umständlichen Worten und hilflosen Blicken, dass ich ewig brauchte, um zu kapieren: Sie machten sich Sorgen, ich könnte versuchen, meinen Plan sofort in die Tat umzusetzen. Was ich hingegen sofort kapierte: Das Thema Sex war den Menschen offensichtlich extrem peinlich. Ich testete das noch einige Male, indem ich auf Familienfeiern die gesamte bemitleidenswerte Verwandtschaft danach befragte, wie oft sie im Monat Geschlechtsverkehr hätten und welche Praktiken sie dabei bevorzugten. Die Reaktionen waren so eindeutig, der Arger, den ich mir dadurch einhandelte, so gewaltig, dass die Sachlage sehr schnell eindeutig war: Aus irgendeinem Grund war das Thema Liebe ganz legitim, obwohl es so kompliziert, unangenehm und überflüssig war.
Und aus irgendeinem anderen Grund war das Thema Sex ein Tabu, obwohl es unkompliziert, erquicklich und dadurch ziemlich erstrebenswert schien.
Ab da verlor ich nie wieder öffentlich ein Wort darüber, obwohl ich für mich den einzig logischen Schluss zog: Ich würde mich in meinem Leben niemals verlieben aber unheimlich viel Sex haben.
Und auch heute noch finde ich, dass das kein schlechter Plan war. Aber heute weiß ich auch, dass es tatsächlich bedauernswerterweise nicht nach logischen Regeln abläuft, wenn Menschen aufeinandertreffen, die sich anziehend finden.
Letztendlich macht das ja genau den Reiz aus.
Und letztendlich musste ich in diesem Sommer vor zwei Jahren eines herausfinden: Ich funktionierte in bestimmten Bereichen genauso fehlerhaft wie normale Menschen auch. Und das war eine sehr ungewohnte Erfahrung.