Читать книгу Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel - Hanna-Linn Hava - Страница 11
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Norwegen ist ein großartiges Land. Doch, wirklich, ohne jede Ironie diesmal: Norwegen ist ein absolut großartiges Land.
Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich vielleicht fröhlicher in den Bus gestiegen. Vielleicht auch nicht.
Wenn ich länger leben würde, wäre es mein erklärtes Ziel nach Norwegen auszuwandern. Die Vorteile liegen auf der Hand: Es gibt dort viel Natur und wenig Menschen.
Und die paar Menschen, die es gibt, sprechen eine lustige Sprache. Wenn sie überhaupt einmal sprechen. Dafür sind sie durchweg zurückhaltend und freundlich, wahrscheinlich, weil ihnen das große Glück bewusst ist, Norweger zu sein.
Als wir am frühesten Morgen von Bord der verfluchten Fähre stolperten, verliebte ich mich ohne zu zögern in das gesamte Land. Vielleicht war es die milde Luft mit dem wilden Duft nach Salz und Moos und Fels und Wald.
Vielleicht war es die helle Stille über dem schläfrigen Hafen. Vielleicht war es auch die Vorahnung, dass dies die ersten und letzten Tage meines Lebens werden sollten, in denen ich so etwas wie glücklich war.
Egal. Ich war ganz tief innen beeindruckt. Ihr kennt mich nicht, also könnt ihr nicht wissen, dass mich kaum etwas beeindruckt.
Als man mich im Alter von vier Jahren in einem Zirkus auf den Rücken eines Elefanten hob, ärgerte ich mich nur darüber, dass ich dort sitzen musste, wo sich das Kind vor mir vor Aufregung in die Hose gepinkelt hatte. Und mir tat der Elefant leid, der ständig durchnässte Kinder im Kreis schleppen musste. Und ich hatte Angst, dass wir nicht rechtzeitig für den Beginn von „Dunkle Epochen der Geschichte“ zu Hause sein würden.
Als wir zum Geburtstag meiner Großmutter mit dem Heißluftballon aufstiegen, war ich gerade an einer wirklich spannenden Stelle bei Alice im Wunderland angelangt und konnte nicht nachempfunden, was an einer öden Landschaft von oben spannend sein sollte. Also verbrachte ich die gesamte Fahrt über lesend auf dem Boden sitzend. Da war ich schon fünf.
Als der Mädchenschwarm Moritz sich für das Mädchen seines Herzens in der Klasse entscheiden sollte, und dies zum Ausdruck brachte, in dem er ausgerechnet mir einen Kuss auf den Mund gab, haute ich ihm dermaßen eine rein, dass seine Nase blutete. Da war dann wenigstens er beeindruckt, aber nicht positiv. Aber er fand Trost bei Mia, die war nämlich wiederum echt beeindruckt von ihm.
Als dann der Direktor mich danach öffentlich per Schulsprechanlage zu einem Einzelgespräch einbestellte, war das Einzige, was mich daran störte, die Tatsache, dass dies ausgerechnet nicht während meiner verhassten Mathe-Stunde geschah. Wir hatten dann übrigens auch ein interessantes Gespräch darüber, dass Gewalt keine Lösung darstellt.
Das war natürlich seine Meinung. Ich erklärte ihm, wenn Aggression nicht ein adäquates Mittel für Auseinandersetzungen sei, wäre sie dem Menschen rein evolutionstechnisch schon längst abhandengekommen. Und dann musste ich leider noch hinzufügen, dass er wohl eine Fehlbesetzung auf seinem Posten sei, wenn ihm derartiges Grundwissen fehlte.
Da war ich acht.
Danach musste ich zum ersten Mal die Schule wechseln. Und ab da erkannte ich übrigens so langsam, dass es die Leute nicht mochten, wenn ich sagte, was ich dachte. Oder so handelte, wie mir gerade war. Aber ich verstand noch nicht, warum.
Jetzt, wo ich es verstehe, tut mir so manches leid, was ich gesagt oder getan habe. Wirklich. Aber das ist ein anderes Thema.
Jedenfalls sah ich Norwegen und war definitiv beeindruckt.
Das war ein so ungewohntes Gefühl, dass ich ganz vergaß, unsichtbar zu sein. Ich vergaß meine Vergangenheit, ich vergaß meine Zukunft. Ich war nur noch, irgendwo dazwischen.
Und genau in dem Moment, in dem ich nichts weiter darstellte als ein Einsiedlerkrebs ohne Muschel, stand auf einmal Finn neben mir. Und sprach mich an.
Die Morgensonne ließ sein Haar leuchten, als stünde es in Flammen. Das lenkte mich so ab, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht verstand. Also strahlte ich ihn an. Weit darüber hinaus, was mein einstudiertes Lächeln sonst zu bieten hatte. Weil in meiner Überraschung das Glück mitschwang, gerade jetzt genau hier zu stehen und Norwegen entdeckt zu haben.
Daran lag es wohl, dass er so aufrichtig zurücklächelte, dass auch das mich irgendwie beeindruckte, auf eine ganz andere Weise, als Norwegen es tat.
„Ja, echt, oder? Der totale Horror. Zurück schwimme ich lieber, bevor die mich noch mal auf dieses Wrack kriegen!“
Ok, ich hatte das Einstiegsthema verstanden. Die Überfahrt. Die er anscheinend genauso wenig genossen hatte wie ich.
„Wir können die nächsten Wochen ja schon mal hier üben“, entgegnete ich und deutete auf die schimmernden Seen in der Ferne.
Finn lachte. Ich war geschockt. Zum ersten Mal seit langem hatte ich nicht erst meine Gedanken gefiltert, bevor ich sie aussprach und mein Gegenüber war weder gekränkt, irritiert oder gelangweilt.
„Ich bin so ein mieser Schwimmer, da reichen ein paar Wochen nicht“, sagte er, immer noch lachend. Währenddessen zog er eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche und hielt sie mir hin.
„Willst du auch eine?“, fragte er.
„Klar“, sagte ich. Und war wieder geschockt, anders kann ich das nicht formulieren. Diesmal über mich selbst.
Selbstverständlich rauchte ich nicht. Es gab keinen einzigen vernünftigen Grund, das zu tun. Es war eine dieser irrationalen Handlungen, für die ich die Menschen verachtete. Geld dafür auszugeben, um sich selbst langsam umzubringen: kein einziges Tier wäre so dämlich. Ich hatte dem rauchenden Anteil meiner Verwandtschaft leidenschaftliche Vorträge zu dem Thema gehalten. Kein Onkel traute sich mehr, in meiner Anwesenheit zu rauchen.
Und jetzt hielt ich eine Kippe im Mund und ließ sie mir von Finn anzünden.
Der Rauch, der mir die Kehle hinabrann, war viel beißender, als ich es erwartet hatte. Meine Lungen beschwerten sich. Aber ich ignorierte sie. Wenn ich wollte, konnte ich schon seit jeher echt hart im Nehmen sein, was meinen Körper betraf. Und gerade wollte ich ganz unbedingt.
Ich atmete aus, und verspielte Wolken tanzten zwischen unseren Gesichtern.
„Danke“, sagte ich und lächelte schon wieder, ohne es zu planen. Ich mochte komischerweise den gummiartigen Geschmack des Filters in meinem Mund, und ganz ehrlich: Ich liebte den Anblick des Rauchs. Vielleicht weil er sich in Finns elbischem Haar verfing.
Jedenfalls geschahen in diesem Augenblick zwei Dinge. Zum einen war ich ab da entschlossene Raucherin. Und zum anderen erleuchtete mich die Erkenntnis, warum es alles andere als dämlich war dies zu sein: Diese Entscheidung, sich gegen alle Überlebensinstinkte zu stellen und bewusst etwas zu tun, was uns tötet. Das war der ultimative freie Wille. Darin lag eine kraftvoll elegante Schönheit, die mich von da an fesseln und leiten würde.
So philosophisch verklärt klar war mir das damals natürlich nicht. Ich war einfach nur ganz verblüffend heiter. Das Warum war mir so was von egal.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Finn. Ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern.
„Irgendwie halt“, sagte ich spontan.
Finn lachte wieder. „Interessanter Name. Ich bin Finn.“
„Nein, du bist Legolas“, hätte ich fast gesagt, konnte es aber irgendwie hinunterschlucken.
Er gab mir einen kleinen Klaps auf die Schulter. Ich haute ihm deswegen keine rein. Nicht nur, weil ich inzwischen wusste, dass Gewalt gesellschaftlich unerwünscht war, sondern weil es mir nichts ausmachte, dass er mich berührte.
„Wir müssen los, die Alte macht Stress.“
Ganz eindeutig meinte er damit Brigitte, die machte nämlich richtig Stress. Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte uns seit wahrscheinlich einer guten Weile bei sich zu versammeln, denn sie klang maximal genervt. Das würde die nächsten Wochen sehr häufig der Fall sein.
„Leute, jetzt macht schon, wir haben noch zwei Stunden Fahrt vor uns!“ Weil anscheinend die Leute immer noch nicht schnell genug machten, griff sie doch tatsächlich nach einer quietschgelben Trillerpfeife und blies hinein, dass es schepperte.
Es war wohl nicht ihre erste Jugendfreizeit.
Finn zertrat seine Kippe auf dem Felsboden und ich tat es ihm nach, ohne mich über die Umweltverschmutzung zu kümmern. Ich musste entsetzlich krank sein. Die Umweltverschmutzung war ein anderes Thema, durch das ich mich zu den strengsten Vorträgen hinreißen ließ, vor denen die bereits zum Nichtrauchertum gezwungene Verwandtschaft schreckensbleich flüchtete.
Heute hatte in der Hinsicht niemand etwas von mir zu befürchten.
Wir schlossen uns dem wachsenden Haufen der immer noch von der Seereise gezeichneten Gestalten an. Sogar jetzt noch kann ich mich beinahe körperlich an das Prickeln erinnern, das ich empfand, als ich von Finn und mir als „wir“ dachte.
„Finn und Lily, richtig?“, empfing uns ein braungelockter Jüngling, der so jung gar nicht mehr war. Ich erkannte erst jetzt, dass es einer von Brigittes Assistenten sein musste und keiner unserer Leidensgenossen.
„Nee, falsch, Finn und Irgendwie halt“, konterte Finn grinsend. Ich kicherte. Bis dahin hatte ich nicht mal geahnt, dass ich kichern konnte.
Der Jüngling fand es weniger witzig. Aber sein Lächeln blieb da, wo es war. Natürlich. Blaues Outdoor-Karohemd, Sandalen mit Socken und ein Gitarrenkoffer über der Schulter. Christ. Dafür, dass er höchstens 22 Jahre alt war, kleidete er sich wie mein Opa. Na gut, mein Opa war ein rüstiger 90-jähriger Hobby-Ornithologe der sockig und sandalt fröhlich in Wäldern herumlag und „Juchheißa!“, brüllte, wenn er eine schwarzschnäblige Birkenmeise erspähte, also schon wieder irgendwie bewundernswert.
Aber mit Anfang 20 musste doch etwas Grundlegendes im Leben schiefgelaufen sein, wenn man sich freiwillig in einem derartigen Aufzug als Betreuer eines Jugendcamps zur Verfügung stellte.
Später sollte ich erfahren, dass Lukas, wie er hieß, wirklich nichts weiter als ein guter Mensch war. Er studierte Sozialarbeit, war ein begeisterter Kanu-Fahrer, engagierte sich für Obdachlose und war der aufrichtigen Meinung, Jesus sei das beste Vorbild, das man sich wünschen könne.
Nichts daran verdiente meine Kritik. Ich würde dennoch gemein zu ihm sein.
Aber das wusste er noch nicht. Er hielt Finn für den Störenfried. Na ja, das war auch nicht falsch.
Finns ganze Erscheinung trug den Titel „Störenfried“. Natürlich war das bewusst genau so von ihm gewählt, nicht anders, als ich mich absichtlich für „unsichtbar“ entschieden hatte. Aber wisst ihr was? Damals machte ich mich generell über alle Arten von selbstgewählten Rollen lustig. Ja, in finsteren Momenten mit schwarzem Humor gewiss auch über meine eigene.
Nur Finn durfte ungestraft sein Rebellentum auf naive Weise präsentieren. Ich sah verklärt darüber hinweg. Und ihr habt inzwischen längst kapiert, dass „verklärt“ kein Titel ist, den irgendjemand mit mir normalerweise in Verbindung bringen würde.
Obwohl, Lukas möglicherweise schon. Denn dieser erwischte mich ja ausgerechnet in diesem Zustand. Wahrscheinlich furchten deswegen Sorgenfurchen seine jugendliche Stirn, als er uns so zusammen sah; er befürchtete ein sich anbahnendes Techtelmechtel, das seine Aufsichtspflicht strapazieren würde. Denn auch Lukas war ein Veteran der Ferienlager-Bewegung, sowohl als aktiver als auch pensionierter Teilnehmer. Er hatte bereits alles gesehen. Er wusste, welch undenkbaren Dinge geschehen konnten. Und er war fest entschlossen, diese zu verhindern.
All dies spiegelte sich in dem Timbre seiner Stimme wider, als er fragte: „Habt ihr etwa geraucht?“
Meine spontane Antwort wäre gewesen: „Das ist eine durchaus korrekte und nicht unscharfsinnige Erfassung der Situation, Gratulation.“ Inzwischen wusste ich ja, dass dies zwar ebenfalls eine durchaus korrekte Äußerung wäre, aber aus einer Vielzahl von Gründen keine kluge. Denn was Menschen in so einem Fall normalerweise taten, war zu lügen. Das machte alle zufrieden, seltsamerweise auch die Belogenen. Lügen aber war in meiner Programmierung nicht vorgesehen. Inzwischen kann ich es übrigens ganz gut. Es ärgert mich zwar immer noch, wenn ich Unwahrheiten einsetzen muss, nur damit eine Konversation nicht ins Stocken gerät, aber ich kann es tun. Und nein, damit habe ich nicht meine Prinzipien verraten und bringe mich jetzt deswegen um. Das haben sich die Scharfsinnigen unter euch bestimmt gerade zusammengereimt. Hört auf mit so was. Damit geht ihr mir nur auf die Nerven. Aber okay, falls jemand es schafft, das Ende zu erraten, ohne bei diesem Buch bis ganz nach hinten zu blättern, bekommt er ein Schokoladeneis mit Sahne und bunten Zuckerstreuseln. Und das war jetzt eiskalt gelogen. So gut bin ich inzwischen darin.
Damals war ich es nicht.
Und weil ich dazu noch überrumpelt war von meiner neuen verblüffenden verklärten Beziehung zu Norwegen und zu Finn, tat ich etwas Dummes: Ich sprach meine spontane Antwort laut aus.
„Das ist eine durchaus korrekte und nicht unscharfsinnige Erfassung der Situation, Gratulation.“
Das Gesicht von Lukas veränderte sich so, als hätte ich ihn mitten hineingeschlagen. Finn neben mir lief knallrot an, als er versuchte, einen Lachanfall zu ersticken.
Ich lief ebenfalls knallrot an. Warum nur gehörte es nicht zu einem normalen Konversationsverhalten, fehlerhafte Sätze einfach so löschen zu können? Wir hätten eine bessere Welt! Ich jedenfalls hätte eine bessere Welt.
Aber in dieser Welt hatte ich unseren jungen, sympathischen Betreuer gleich mal ordentlich verbal verletzt. Weil er sich natürlich durch Ironie angegriffen fühlte. Obwohl ich es nicht mal ironisch gemeint hatte. Aber das brauchte ich gar nicht erst zu behaupten. Ich wusste, dass das alles nur noch schlimmer machen würde.
Mit der Unsichtbarkeit war es jedenfalls ab jetzt absolut vorbei. Ich griff automatisch zu dem einzigen Mittel, das mir noch blieb und lächelte harmlos. Ein weiterer Blick in Lukas Gesicht zeigte mir, dass er auch das nun als ironische Geste auffasste.
„Kommt jetzt“, sagte er schroff und so, als hätte er beinahe etwas anderes gesagt und ging zum Bus voran.
Wir folgten.
Finn ging so dicht neben mir, dass der feste Stoff seiner Jeansjacke an meinem Arm rieb wie die Zunge einer Kuh.
„Sowas hätte ich dir nie im Leben zugetraut“, sein Atem war dicht an meinem Ohr, seine Worte eine Mischung aus Flüstern und Lachen. Ich konnte sein Shampoo riechen, vermischt mit Schweiß und Rauch und Haut.
„Du siehst so süß und schüchtern aus!“
Ich bin mir immer noch ganz sicher, dass dies das erste Mal war, dass ein Typ mich süß fand. Ich weiß auch noch genau, wie ich mich darüber wunderte. Nein, das ist viel zu milde ausgedrückt. Ich weiß noch genau, was das für ein Schock war. Kein negativer. Ungefähr so, wie wenn nach dem Saunagang der Schwall kaltes Wasser kommt. Nur überras chender.
Deswegen stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße. Mein Gehirn streikte, als es versuchte, diese Information zu verarbeiten und eine angemessene Reaktion zu finden. Aber da kam nur ein „Error“ und löste fast einen Systemabsturz aus. Der Wechsel von „unsichtbar“ über „frech zu Betreuern“ zu „süß“ kam zu schnell und ohne Vorankündigung. Ich fühlte den Schwindel kommen und konnte ihn nicht aufhalten.
Inzwischen kann ich auch das. Habt ihr inzwischen gemerkt, wie viel ich inzwischen kann? Im Vergleich zu früher jedenfalls. Ich kann mit Sicherheit vieles besser als ihr. Dinge, die ihr niemals lernen werdet. Aber das kann euch so was von egal sein. Denn das was ich nicht kann, darauf kommt es nun mal an. Und das sind Dinge, die ich niemals lernen werde. Und zwar nicht deswegen, weil mir keine Zeit mehr dazu bleibt. Ich könnte die nächsten hundert Jahre damit zubringen, fleißig zu lernen, zu trainieren, zu wiederholen, zu studieren, zu verinnerlichen – vergeblich. Jedem Menschen sind geistige Grenzen gesetzt. Eure verlaufen in einem harmonischen Kreis, der von einem gütigen Schöpfer gezogen wurde. Und zwar so, dass der all das beinhaltet, was ein menschlicher Geist benötigt, um ein intaktes soziales Wesen zu sein. Ihr schafft es zweifellos dennoch, euch seit Jahrtausenden wie asoziale Arschlöcher aufzuführen, aber das ist euer Problem.
Bei meinen Grenzen hingegen war der Teufel Architekt; er dehnte sie stellenweise bis in Gefilde aus, die ihr nicht betreten könntet, ohne wahnsinnig zu werden. Und dann wiederum zog er sie in anderen Bereichen so eng, dass ihr mich mit meiner vollsten Zustimmung als geistig zurückgeblieben bezeichnen dürft.
Und das mit dem Teufel ist nicht einmal so weit hergeholt.
Vor kurzem noch, wenn man die Menschheitsgeschichte als Ganzes nimmt, hättet ihr mich als Hexe verbrannt.
Jetzt kann ich eure Empörung beinahe greifbar spüren. Aber das ist eine selbstgerechte Überhöhung eurer selbst. Ihr seid weder bessere noch schlechtere Menschen als eure Vorfahren. Ihr passt euch nur den gegebenen moralischen und gesellschaftlichen Regeln an. Wenn die euch vorgeben, dass Hexen verbrennen ein nettes Hobby ist, dann macht ihr das. Wenn es ein Tabu ist, Jungen Röcke anzuziehen, dann macht ihr das nicht, obwohl es nichts gibt, was dagegenspräche.
Wenn es als normal gilt, eine ganze fühlende und denkende Spezies wie das unterschätzte Schwein nicht nur zu versklaven, sondern als billiges Material anzusehen und unter den qualvollsten Bedingungen massenweise zu vermehren, nur damit ihr euer tägliches Schnitzel für 1,99 im nächsten Discounter bekommt, dann hinterfragt ihr das nicht.
Wenn irgendwo anders auf der Welt andere Völker genau das gleiche mit Hunden machen, dann fangt ihr an zu heulen und haltet das für böse.
Aber wir wollen jetzt nicht anfangen, darüber zu diskutieren, was Menschen an Vorwänden einfällt, um anderen Spezies und sich selber Böses anzutun und sich dennoch als der Gute dabei zu fühlen. Wir wollen auch nicht darüber diskutieren, ob nicht alles, was ihr als böse bezeichnet, ganz normale menschliche Verhaltensweisen darstellt.
Sonst mache ich euch nur Angst, weil ich euer Weltbild durcheinanderbringe. Dann schützt ihr euch, indem ihr euch über mich ärgert. Und dann rennt ihr weg. Und ich muss doch alleine sterben.
Also erzähle ich euch weiter von Finn und dem Ferienlager. Vor allem die Mädchen unter euch wittern bestimmt schon seit einer Weile eine Geschichte über die erste große Liebe und große Emotionen und großes Drama. Das gefällt euch. Und an die männlichen Vertreter: Ja, irgendwann geht es auch um Sex. Fühlt ihr euch jetzt in typische Geschlechter Klischees gedrängt? Immerhin etwas.
Ich erzähle trotzdem weiter.
Als wir in den Bus stiegen, meldete sich ja der Schwindel bei mir an. Ihr erinnert euch. Der Schwindel ist ein alter Bekannter von mir. Als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen. Aber das heißt nicht viel, ich habe keine Freunde. Damals hielt ich ihn für meinen schlimmsten Feind.
Denn wenn er beschlossen hatte, mich zu überwältigen, dann tat er das einfach. Ich verfügte über kein Mittel, ihn aufzuhalten.
Und selbstverständlich tauchte er immer dann auf, wenn ich ihn so überhaupt nicht brauchen konnte. Die engen Stufen den Bus hinauf schaffte ich irgendwie, und irgendwie reichte es sogar bis zu meinem Platz, auf den ich mehr fiel als niedersank. Falls Finn irritiert von meinem Verhalten zu seiner Rückbank weiterzog, so bekam ich das nicht einmal mit.
Ich spürte nur die Erleichterung, zu sitzen. Mit zitternden Händen schaffte ich es, mir die Hörer in die Ohren zu stopfen und mein Hörbuch einzuschalten. Die beruhigende Erzählstimme streichelte sanft meinen Geist und drängte die Panik zurück.
Ich malte mit dem rechten Fußzeh fünf Mal ganz schnell ein winziges Gesicht und zählte drei Mal auf zehn, einmal in Blau, einmal in Türkis und einmal in Grün.
Der Schwindel blieb. Wenn ich versuchte, ihn genau zu beschreiben, versagte ich.
Ein Arzt hatte mich bereits daraufhin untersucht und nichts Abnormales gefunden. Herz und Kreislauf, alles unauffällig. Er schob es auf schnelles Wachstum, was ein Witz war, wenn man meine 162 cm bedachte.
Mir machte der Schwindel mehr als nur ein bisschen Angst. Er war brutal. Er lähmte meinen Körper, so dass ich kaum noch Kontrolle darüber hatte. Als säße ich weit entfernt in einem Turm und blickte auf meine nutzlosen Gliedmaßen hinab. Auch mein Kopf war dann außer Kontrolle. Wie an der Schwelle zu einer Ohnmacht, nur dass diese nie kam. Geräusche taten mehr weh als sonst. Gesprochene Sätze machten keinen Sinn mehr. Ich war wie in rosa Zuckerwatte gehüllt, nur dass diese mir Schmerzen zufügte.
Versucht das mal einem Arzt zu erklären. Ich war damit bereits bei meinen Eltern gescheitert.
Als ich das mit der aggressiven rosa Zuckerwatte geschildert hatte, war mir mein Vater nur lachend mit der Hand durchs Haar gewuschelt.
„Du hast eine so unglaubliche Fantasie! Bestimmt wirst du einmal eine fantastische Schriftstellerin!“
Er hatte nicht mehr gelacht, als ich daraufhin erzürnt meine Zimmertür hinter mir zugeschmettert hatte. Das war mir strengstens verboten, seitdem er das Schloss zum dritten Mal hatte auswechseln müssen.
Im Bus gab es kein Zimmer als Rückzug. Es gab mich, meinen Platz und den Schwindel.
Mit geschlossenen Augen, den Sprecher im Ohr, der nur für mich die beruhigende Geschichte von Fritz Haarmann, dem Werwolf von Hannover erzählte, ohne dass ich auch nur ein Wort verstand. Aber es half mir beim Einschlafen.
Und Schlaf, das wusste ich, würde den Schwindel vertreiben.
Und wenn ich erwachte, würden wir unsere Unterkunft erreicht haben. Und dort würde der Alptraum weitergehen, der sich heute so schockierend schnell in etwas Anderes verwandelt hatte. In etwas Seltsames. In etwas beinahe Wunderbares.
Und ich würde ohne meine Rüstung der Unsichtbarkeit lernen müssen, mit neuen Waffen zu kämpfen.
Und ein Teil von mir würde in der Schlacht fallen, und ein anderer Teil von mir würde zu neuer Macht gelangen.
Aber hey, das ist mir erst heute bewusst. Damals war ich nichts weiter als verwirrt. Seht ihr es vor euch, wie der rote Bus langsam mit mir durch enge Straßen kurvt, vorbei an Wasser und Steinen? Wie der Tag träge erwacht, wie vereinzelte Sonnenstrahlen immer wieder durch lichte Wolken stechen und den roten Lack aufleuchten lassen als wäre er aus Feuer?
Vielleicht sitzt in diesem Moment der Teufel am Steuer, der auch meine Grenzen gebaut hat.