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Оглавление|100|4.1. Voraussetzungen und Hintergründe
Mit R. Avraham ibn Ezra und der über mehrere Generationen aktiven Familie Qimchi betreten wir ein neues Feld der jüdischen Bibelauslegung, das sich trotz Überschneidungen und gemeinsamer Quellen grundlegend von der Bibelauslegung in Nordfrankreich unterscheidet. Dies beginnt mit der Sammlung und Sortierung verschiedener Wissensformen und geht dabei in eine wissenschaftlich orientierte Bibelauslegung über. Hatte noch Raschbam, in dessen Umfeld ausschließlich rabbinisches Lernen vorherrschte, ausführlich begründen müssen, dass es zwei Wege der Bibelauslegung gibt, den rabbinischen und den literaturtheoretisch orientierten (vgl. oben Kap. 3.3.b.–3.3.d.), so findet sich eine solche Begründung bei ibn Ezra gar nicht mehr: Er weist vier Arten der Bibelauslegung zugunsten einer fünften zurück, weil sein Umfeld zwar auch rabbinisches Lernen betrieb, dieses jedoch in einem Wissenschaftskontext neben der Sprachwissenschaft, Philosophie, Astronomie, Mathematik, Medizin und Psychologie als lediglich einer von vielen Wissenszweigen firmierte, die nicht nur ein enormes Entwicklungspotential in sich bargen, sondern sich durchgehend vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen hatten.
a. Der Beginn der christlichen Reconquista
Mit der Eroberung Cordobas durch die Berber 1013 und nach dem Niedergang der Herrschaft der Umayyaden 1031 (vgl. auch oben Kap. 1.2.c.) entstand eine Reihe kleiner Reiche auf spanischem Boden, zu deren politischer, finanzieller und wissenschaftlicher Elite sich auch die Juden zählen durften. In Sevilla, Granada oder Málaga bekleideten sie einflussreiche Positionen im Finanz- und Verwaltungswesen, suchten jedoch gleichzeitig, ihre eigene Literatur- und Kulturtradition zu festigen und auszubauen. Auf der anderen Seite begann die christliche Reconquista (1031–1260): 1095 markiert mit der christlichen Eroberung Toledos ein wichtiges Datum; 1115 fällt Tudela. Das aufsteigende christliche Spanien bot den Juden, anders als unter den Muslimen, anfangs ein günstiges Klima und eine Privilegierung durch die herrschende Schicht (Kirche und Adel). Insbesondere Lucena zeigt, wie sehr hier verschiedene Kultur- und Religionskreise aufeinander prallten: zum einen war die Stadt, wie auch Toledo, seit 1085 unter christlicher Herrschaft, von einer regen Übersetzertätigkeit vom Arabischen ins Lateinische geprägt; auf der anderen Seite war Lucena auch ein Zentrum der judäo-arabischen Hebraistik, bis dies durch die Almohaden-Kriege jäh zerstört wurde: 1146 wurden die Juden verfolgt |101|und zur Konversion gezwungen. Viele suchten den Verfolgungen zu entgehen, indem sie entweder nach Eretz Israel einwanderten oder, wie Mosche ben Maimon (Rambam/Maimonides; 1135–1204) nach Ägypten emigrierten. Mit dem Ende des Almohaden-Reiches 1212 und der Eroberung des Südens (Fall Cordobas 1236) durch Ferdinand III. von Kastilien und Léon (1199–1252) kommt die Reconquista zu ihrem ersten Abschluss. Unter Ferdinands Sohn Alfons X. (1221–84; ‚El Sabio/der Weise‘) gelangte die jüdisch-arabische Bildungskultur zur Blüte (Greive 1992, 31–43). Hermann Greive sieht hier den „Kulminationspunkt des gesamten Vermittlungsprozesses des wissenschaftlichen Kulturgutes der arabischen Welt an den Okzident“ (Greive 1992, 41).
b. Jüdische Bildungskultur in Spanien und der Provence
TalmudstudiumDie spanischen Juden zeigten ein intensives Bemühen, sich von den letzten Geonim in Babylonien zu emanzipieren. Zentren der Gelehrsamkeit waren Cordoba und Lucena, aber im Gegensatz zum talmudischen* Studium bei den aschkenasischen* Juden, unter denen das Studium von Tora und Talmud um seiner selbst willen (tora lischma*) betrieben wurde, waren die spanischen Talmudisten vor allem um die Explikation und Anwendung für die rituelle Praxis bemüht (Reichman 2007). Jitzchaq Alfasis (1013–1103) Hilkhot Rabbati seien hierfür exemplarisch genannt. Aber während man in Deutschland und Frankreich praktisch ausschließlich den Talmud und die Bibel studierte, verzweigt sich das jüdische Wissen in Spanien im 10. und 11. Jahrhundert in mehrere und für die weitere Entwicklung des Judentums grundlegende Wissensgebiete. Dazu gehörte vor allem anderen die Entwicklung der hebräischen Sprachwissenschaft (vgl. oben Kap. 1.2.c.). Die hier verfassten arabischen Grundlagenwerke wurden bald sukzessive ins Hebräische übertragen und setzten sich dann langsam auch in Westeuropa durch.
Arabisch-hebräische ÜbersetzertätigkeitEs war zuerst R. Avraham ibn Ezra, der die grammatischen Werke von R. Jehuda Chajjūğ für die Juden Norditaliens ins Hebräische übersetzte: den Sefer Otijjot ha-Noach (‚Buch über die sog. litterae quiescens [א, ה, י, ו]‘; Prijs 1950, 80–83) sowie den Sefer ha-Niqqud (‚Buch über die Punktation‘; vgl. auch Charlap 1999, 6). Der Sefer ha-Kefel (‚Buch über die Verdoppelung‘) wurde zunächst von Mosche ibn Gikatilla übersetzt (Rottzoll 2000, CXXIII), alsdann aber auch von ibn Ezra.
Die Werke von R. Jona ibn Ğanaḥ, insbesondere sein Wurzelwörterbuch (arab. Kitāb al-Uzūl, hebr. Sefer ha-Schoraschim) und seine Grammatik (arab. Kitāb al-Luma, hebr. Sefer ha-Riqma) wurden erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts von Jehuda ibn Tibbon ins |102|Hebräische übersetzt und gelangten so in die Bibliotheken auch der französischen und aschkenasischen Juden. Der Übersetzer Jehuda ben Scha’ul ibn Tibbon (1120–nach 1190) schreibt hermeneutisch ausgefeilt in seiner Einleitung zum Sefer ha-Riqma, dass eine Übersetzung stets unzureichend und der Inhalt des Werkes aufgrund der formalen Änderung (vom Arabischen ins Hebräische) auch inhaltlich nur unzulänglich zu übertragen sei, da jedem Wort auch eine spezifische Bedeutung (injan) zu eigen sei. Hierin steht ibn Tibbon in guter Tradition aller mittelalterlichen Grammatiker: Diese standen auf dem Standpunkt, dass jedes hebräische Wort aus zwei Komponenten bestehe, dem mar’e, d.h. der äußerlichen/schriftlichen Erscheinung, und (als semantischer Kategorie) dem injan, der Bedeutung eines Wortes. Gerade im lexikographischen Zusammenhang wurde daher nur zu oft davor gewarnt, mar’e und injan fälschlich zusammenzubringen, indem man (dies ist die dritte Dimension) ein falsches dome, d.h. eine falsche Analogie, ins Spiel brachte.
Philosophie und PoetikIn der Zeit der Almoravidenherrschaft ab 1086 beginnt so etwas wie eine zweite kulturelle Blütezeit für die Juden (Greive 1992, 27–30), in der die islamisch-arabische Wissenstradition auf fruchtbaren jüdischen Boden fällt. Vermittelt und angeregt durch arabische Dichtkunst erwuchs auch im jüdischen Spanien eine eigene profane wie religiöse Poesie, als deren wichtigste Vertreter Schelomo ibn Gabirol (1020–ca. 1058), Mosche ibn Ezra (ca. 1055–ca. 1140) sowie Jehuda ha-Levi (1075–1141) zu nennen sind. An ibn Gabirol zeigt sich exemplarisch, wie die Juden Spaniens die Anregungen ihrer Umweltkultur aufnahmen. Sein philosophisches Hauptwerk Meqor Chajjim (‚Quelle des Lebens‘; lateinisch bekannt als fons vitae), das ursprünglich auf Arabisch verfasst wurde und heute nur in der lateinischen Version vollständig erhalten ist, zeigt ein neuplatonisches Gottes- und Weltbild und wurde nicht nur von ibn Ezra, sondern im 12. und 13. Jahrhundert vor allem von den sog. Chaside Aschkenaz* (vgl. nachfolgend Kap. 5) rezipiert.
NaturwissenschaftenNeben Philosophie und Dichtkunst spielten auch die durch die Araber vermittelten Wissenschaften eine entscheidende Rolle: Astronomie, Mathematik, Psychologie, Kosmogonie und Logik sind Felder, die in die Kommentare der von diesem Kulturraum beeinflussten jüdischen Bibelausleger eingeflossen sind. Ganz ähnlich der Philologie, die die ‚heilige Sprache‘ in eine ‚wissenschaftliche Sprache‘ zu bringen suchte, wurden gerade Kosmogonie und Astronomie als ‚theologische Wissenschaften‘ adaptiert und prägten das Denken der Juden aus Spanien und der Provence. Insbesondere in der von der arabischen Gelehrsamkeit geprägten Gesellschaft lässt sich keine geradlinige Unterscheidung zwischen ‚heiligen‘ und |103|‚profanen‘ Wissenschaften ausmachen, im Gegenteil: Das Studium der Natur-Wissenschaften war ein Teil auch der ‚Theo-Logie‘. In dieser Zeit entsteht das Ideal des Universalgelehrten, das auch für die Juden prägend wurde. Das Talmudstudium allein reichte nicht mehr, und dies hing sicher damit zusammen, dass die Juden auch in wirtschaftlich-politischer Hinsicht mit den Nicht-Juden einen gemeinsamen öffentlichen Raum teilten. Die hiesigen Gelehrten verfassten weniger Bibelkommentare oder Talmudkommentierungen, sondern Schriften ganz verschiedener Genres. Neben grammatischen und philosophischen Traktaten und poetischen Werken finden wir Polemiken ebenso wie astronomische und medizinische Abhandlungen. Letztere wurden vor allem von Gerrit Bos ediert (Bos 2002ff.). Der wissenschaftliche Gewinn für alle Disziplinen, die sich mit der Wissenschaftsgeschichte des mittelalterlichen Judentums, Christentums und dem Islam beschäftigen, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Das profane Wissen fand seinen Niederschlag auch immer wieder in den Bibelkommentaren. Die jüdische Teilhabe an der allgemeinen Wissenskultur wurde intensiv gesucht und sollte spätestens von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zu enormen innerjüdischen Konflikten führen (vgl. im Folgenden Kap. 6.1.a.).
Midrasch-Sammelwerke des HochmittelaltersDas 11. und 12. Jahrhundert war gleichzeitig aber auch die Periode der späteren Midraschim*, z.B. Ester Rabba II (Langer 2016, 290; Börner-Klein/Hollender 2000) oder Midrasch Tehillim II (Langer 2016, 291). In Narbonne waren es neben dem Midrasch Rabba vor allem Texte aus der Schule des R. Mosche ha-Darschan (‚der Ausleger/Prediger‘; 11. Jahrhundert) aus Narbonne und des Tuvja ben Eli‘ezer (Kastoria/Mainz; 11. Jahrhundert), die intensiv rezipiert wurden. Mosche ha-Darschan war neben Tuvja ben Eli‘ezer der wichtigste Exponent für aggadische Auslegungen und Midrasch-Exzerpte im Hochmittelalter. Auf Mosche ha-Darschan, den Lehrer von Natan ben Jechi’el aus Rom (Verfasser des Sefer Arukh), geht das Werk Bereschit Rabbati zurück; der Kommentar des Tuvja ben Eli‘ezer ist unter dem Namen Leqach Tov (‚gute Lehre‘), einem Kommentar zur Tora und den fünf Megillot*, überliefert (verfasst 1107) und wurde wohl von ihm selbst mehrfach überarbeitet (zum Ganzen Stemberger 2011, 389–397; Langer 2016, bes. 241–248).