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f. Bibelstudium in feindlicher Umgebung
ОглавлениеNeben diesen eher intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Auslegungen anderer, zeigen sich in den nordfranzösischen Bibelkommentaren aber immer wieder Spitzen und Nadelstiche, die zumeist weniger eine Zurückweisung christlich-exegetischer Auslegungen als vielmehr Selbstbestätigungen und Ermutigungen für eine in schweren Zeiten mental und physisch zunehmend geschwächte jüdische Gemeinschaft darstellen, vor allem zwischen dem ersten (1096–99) und dem dritten Kreuzzug (1189–92). Ein interessantes Beispiel dafür findet sich in Raschis Kommentar zu Gen 1,1. Raschi diskutiert die Frage, warum die Tora mit dem Schöpfungsbericht beginnt:
|95|Raschi zu Gen 1,1Im Anfang: R. Jitzchaq sagte: (Mit „Im Anfang schuf …“) hätte die Tora eigentlich nicht anfangen dürfen, sondern mit Dieser Monat sei euch der Anfang (der Monatszählung) (Ex 12,2), denn dies ist das erste Gebot, das Israel (als einer Kultgemeinde) gegeben wurde (…). Was (also) ist der Grund, dass (der Text mit) Im Anfang … eröffnet? Die Kraft seiner Taten hat er seinem Volk kundgetan, ihnen das Erbe der Nationen zu geben (Ps 111,6): Wenn nämlich die Völker der Welt zu Israel sagen sollten: ‚Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben Nationen eingenommen‘, so sagen sie ihnen: ‚Das ganze Land gehört dem Heiligen, er sei gepriesen. Er hat es erschaffen, und dem gegeben, der in seinen Augen gerecht ist‘ (vgl. Jer 27,5). Nach seinem Willen hat er es ihnen gegeben, und nach seinem Willen hat er es (wieder) von ihnen genommen und uns gegeben.
Im Zentrum dieser Deutung steht die Aussage, dass das Land Israel durchaus einmal anderen Völkern gehört habe, dass aber aufgrund der göttlichen Entscheidung das Land in den Besitz Israels gelangt sei (nach Raschi auch nicht grundlos, wie der Hinweis auf Israels Gerechtigkeit betont). Touitou (Touitou 1990) sieht hier eine Reaktion Raschis auf den ersten Kreuzzug (1096–99), zu dem Urban II. aufgerufen hatte und der 1099 mit der ‚Befreiung‘ des Heiligen Landes durch die Kreuzritter und der Einnahme Jerusalems endete, die vor allem als Befreiung des Heiligen Grabes verstanden wurde. Die Einnahme von Eretz Israel bedeutete natürlich Wasser auf die christlich-theologischen Mühlen, wonach der alte Israelbund endgültig durch den Neuen Bund Gottes mit der Kirche abgelöst sei, und stellte darin den jüdischen Erwählungsglauben und die damit verbundene Verheißung auf erneute Inbesitznahme des Landes und die Rückkehr der Juden einmal mehr in Frage. Raschis Auslegung ist allerdings sehr subtil formuliert: Man weiß nicht genau, ob sie auf die Zeit anspielt, als die Juden das Land einmal besaßen, oder ob sie eine Zukunftsaussage impliziert und damit die Hoffnung stärken möchte, dass einstmals das Land auf jeden Fall wieder an die Juden (zurück-)fällt, schon deshalb, weil es die Tora programmatisch an den Anfang stellt! Diese Auslegung richtet sich an eine angeschlagene und mutlose Gemeinde und zeigt, dass Raschis Bibelauslegung immer auch eine ‚seelsorgerliche‘ Aufgabe versah (zur weiteren Auseinandersetzung Rambans mit Raschis Kommentar siehe unten Kap. 6.3.a.).
Aktualisierende PsalmenauslegungDie Psalmen bieten sich wie kaum eine andere der biblischen Literaturen an, den Gegensatz zwischen ‚gerecht‘ und ‚frevelhaft‘ aufzuzeigen und als für die eigene Zeit geltend zu beanspruchen. Ps 6,11 lautet in der biblischen Überlieferung: Zuschanden und sehr verstört werden alle meine Feinde, sie weichen zurück [jaschuvu] und werden im Nu beschämt. Raschis Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem Verb jaschuvu (*שוב), das nicht nur ‚zurück-umkehren/zurückweichen‘ zum Ausdruck bringt, sondern, |96|sofern mit einem zweiten Verb verbunden, das Moment der Wiederholung impliziert:
Raschi zu Ps 6,11Was bedeutet sie weichen zurück und werden im Nu beschämt? [Es bedeutet]: ein zweites Mal. Rabbi Jochanan sagte (vgl. Jalqut Schim‘oni, Bd. 2, § 714 [zu Ps 31,1]): In den zukünftigen Tagen wird der Heilige, er sei gepriesen, die Frevler unter den Völkern der Welt richten und sie zur gehinnom (‚Hölle‘) verurteilen. Wenn sie dann gegen ihn zornig werden, wird der Heilige, er sei gepriesen, sie wieder (zur Erde) zurückbringen und ihnen ihre Evangelien (giljonim; Sg. gillajon) zeigen. Und er wird sie (danach) richten und sie (wiederum) verurteilen. (Dann) bringt er sie zur gehinnom (‚Hölle‘) zurück. Dieses (nochmalige Verurteilen zur gehinnom ist eine doppelte Beschämung (buscha kefula) (für sie).
Auch diese Erklärung entspringt dem unbedingten Wunsch, dass die Frevler unter den Christen (die Nennung der Evangelien zeigt einen eindeutigen Bezug auf die christliche Umwelt) ihre gerechte Strafe dereinst erhalten werden. Zentral ist hier der Begriff der Beschämung. Er spielt in der hebräischen Traditionsliteratur ohnehin eine große Rolle, meistens jedoch im Kontext von Scham und Verachtung (buscha u-khelima) Israels angesichts der Massaker durch die anderen Völker (vgl. EkhaR Petichta 24; Raschi zu Ps 14,6). Zugute halten kann man Raschi hier, dass er offenbar einen Unterschied zwischen den ‚Gerechten‘ und den ‚Frevlern‘ auch unter den Christen voraussetzt. Die Konkurrenzsituation zwischen Juden und Christen wird mit dem Bezug auf die Evangelien auf den Punkt gebracht: Die Christen, die auch nach Raschis Ansicht nicht zu den Götzendienern gehören, werden an ihren eigenen heiligen Schriften gemessen und deshalb zum zweiten Mal verdammt. Schärfer kann man den christlichen Erwählungsanspruch kaum zurückweisen.
In der ausgehenden zweiten Generation nach Raschi lässt sich erkennen, dass die jüdische Exegese unter dem Druck der Verfolgungen ihren exklusiv intellektuellen Zugang zur Bibel ein erstes Mal wieder aufgibt, um die an den narrativen Bibelauslegungen erprobte Technik der Nach- oder Neuerzählung nun unmittelbar auf die tröstende Anrede der Gemeinde anzuwenden: Aus Hos 2,1–3, einer in unpersönlicher 3. Pers. formulierten Verheißung der endzeitlichen Wiederherstellung Israels, wird bei R. Eli‘ezer aus Beaugency eine in der 1. Pers. formulierte göttliche Zusicherung:
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Hos 2,1–3Die Zahl der Kinder Israels in den Ländern ihrer Feinde wird am Ende der Tage wie Sand am Meer werden, denn auch dann noch, da sie sich im Land ihrer Feinde befinden, habe ich sie nie verworfen und verabscheut, um sie zu vernichten. Nein, ich werde sie dort fruchtbar werden und sich vermehren lassen, und dann werden alle Völker begreifen und erkennen, dass ich sie noch immer liebe. Und es wird geschehen, statt dass dort, wenn sie sich noch im Exil befinden, gesagt wird, dass sie nicht mein Volk seien, (man also meint), dass sie nicht im Exil wären, wenn sie mein Volk wären, wird |97|zu ihnen gesagt werden: Söhne des lebendigen Gottes, denn wenn auch ihre Väter gestorben sind – ihr Gott lebt (…).
Dieser Text reagiert unmittelbar auf den christlichen Vorwurf, dass das jüdische Exil ein Zeichen für das bleibende Verworfensein Israels sei. Auch diese Auslegung zeigt, wie kunstvoll in R. Eli‘ezers Auslegung der biblische Text mit seiner Erklärung verwoben ist. Der Peschat* wird unversehens zu einem göttlichen Manifest für die in der Diaspora befindliche Gemeinde.
Bibelauslegung zur ErbauungDer Bibeltext, vor allem die prophetischen Verheißungen, stellten für die nordfranzösischen Ausleger auch eine Quelle der Erbauung dar. Dies zeigt der Kommentar des R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12 (Siehe, ich öffne eure Gräber und lasse euch aus euren Gräbern heraufkommen als mein Volk und bringe euch ins Land Israel), der sich wie eine Predigt liest:
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12(Aus euren Gräbern), d.h. aus dem Land der (anderen) Völker (…) Und dies ist ein großer Trost (nechama gedola) für all jene, die um der Einheit des göttlichen Namens willen [d.h. als Märtyrer] gestorben sind. Aber (auch für jene), die nicht (eigentlich) umgebracht wurden (gilt diese Verheißung), da sie all ihre Tage Schmähungen (charafot), Schmach (qalon) und Erniedrigungen erdulden (mussten) und geschlagen wurden, weil sie nicht an die christlichen ‚Heilmittel‘ glaubten, und daran starben. Und (dieser Trost vollzieht sich nicht allein) durch (die) Sündenvergebung; vielmehr werden sie (wirklich) leben, auf ihren Füßen stehen und ins Land Israel gehen.
Der Hinweis auf die jüdischen Märtyrer verweist entweder auf den zweiten Kreuzzug von 1146, bei dem es vor allem in der Normandie zu Ausschreitungen und Übergriffen gegen die Juden kam (Battenberg 2000, 81–96), mehr noch aber auf die Judenverfolgungen, die 1171 durch eine Ritualmordaffäre in Blois an der Loire, nur knapp 40 km südlich von Beaugency, ausgelöst wurden (Einbinder 1998). Die Gräber, das sind die Länder der fremden Völker, d.h. jene Länder, in denen Israel in der Diaspora lebt. Anders als noch bei Raschi und Raschbam, zeigt sich jetzt bei R. Eli‘ezer aus Beaugency ein deutliches Bewusstsein für die ‚Uneigentlichkeit‘, in der das jüdische Volk unter den anderen Völkern leben musste.
R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Jes 24,23Die ezechielische Verheißung der Rückkehr in das Land Israel war für die Juden vor allem in Zeiten der Kreuzzüge nicht nur unrealistisch; sie stellte im Kontext des christlichen Erwählungsanspruches zunehmend eine Herausforderung an die eigene religiöse Standfestigkeit dar. Und je mehr man sich auch der literarischen Qualität der biblischen Schriften bewusst wurde, desto mehr klafften religiöser Anspruch und lebensweltliche Realität auseinander. So manche Auslegung R. Eli‘ezers wirkt daher schon fast wie die Beschwörung des Unmöglichen. Zu Jes 24,23 schreibt er:
|98|Da wird der Mond beschämt werden und die Sonne sich schämen: (…) Dies ist ein Bildwort (maschal), mit anderen Worten: (der Vers meint), dass (die Kinder) Israels durch ihren Wohlstand und ihre Erlösung mehr Licht und Freude erlangen werden, als das Licht von Sonne und Mond. In jedem Fall werde ich mein Herz nicht (soweit) zur Verzweiflung kommen lassen, dass es den (eigentlichen) Sinn dieses Verses (maschma‘ut ha-miqra) (aufgibt), wonach es (dereinst) wirklich (mammasch) so eintreffe, denn unser Gott ist zu noch viel mehr als diesem hier imstande (…).
Diese Auslegung wider den realgeschichtlichen Augenschein spricht einmal mehr dafür, dass R. Eli‘ezer biographisch wohl eher in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu verorten ist. Der zweite und dritte Kreuzzug (1146; 1189) und die Vertreibung durch Philipp II. August 1181 (Greive 1992, 82–90) hinterließ bei den Juden Mittel- und Westeuropas eine bis dahin nicht gekannte Verzweiflung, die offenbar nicht mehr mit den bisherigen religiösen Deutemustern aufzufangen war. Hier suchte der neue Umgang mit den biblischen und rabbinischen Quellen, der deutlich rationalistischer orientiert war und die literarische Qualität der Bibeltexte in den Vordergrund stellte, neue Wege, um die biblischen Schriften für den damaligen Menschen aktuell bleiben zu lassen.