Читать книгу Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss - Страница 28

b. Bündelung von Wissen – der Umgang mit dem Midrasch

Оглавление

Kollektion und KompilationBerühmt ist Raschis Auslegung zu Gen 3,8, bei der man bisher das Hauptaugenmerk vor allem auf seinen Anspruch der Auslegung nach dem ‚einfachen Wortsinn‘ (Peschat*), d.h. auf syntaktische und lexikographische Erklärungen, Beseitigung inhaltlicher Schwierigkeiten, französische Glossierungen u.ä. gelegt hat (Kamin 1986; Gelles 1981). Aber Raschis Ausführungen sind hier wahrscheinlich viel formaler zu verstehen. Es geht ihm weniger um eine neue Methode der Bibelauslegung, sondern um eine bestimmte Einstellung zu den traditionellen Quellen (Midrasch*) und um die damit verbundene literarische Neuformierung dieses ‚klassischen‘ jüdischen Bildungsgutes:

Raschi zu Gen 3,8(Zu dieser Textstelle) gibt es viele Midraschim und unsere Lehrer haben sie bereits an entsprechender Stelle in Bereschit Rabba oder den anderen Midrasch(-Sammlungen) einsortiert. Ich aber komme (jetzt nur), den einfachen Sinn des Verses [peschuto schel miqra] (darzulegen) und jene Aggada (zu bieten), die das biblische Wort (befriedigend) erklärt – jedes Wort dort, wo es hingehört.

Raschi sah seine Aufgabe in einer Erweiterung des Lehrprogramms, die wie folgt gefasst werden kann: Die von ihm getroffene Auswahl an aggadischem oder halachischem Midrasch-Material wird so präsentiert, dass der Bibeltext nicht weiter von der mündlichen Tradition überwuchert wird und durch die gekürzte Zusammenstellung auch wieder deutlicher zu erkennen ist. Auch bei Raschi geht es also um die Frage nach der Auslegung auf der Basis rabbinischer auctoritas und ihrer Relation zur eigenen ratio.

Raschis Peschat-Auslegung* (er benutzt den Begriff übrigens fast nie in isolierter Form; vgl. aber Raschi zu Hld 7,5) umfasst daher zu mindestens drei Vierteln eine Derasch-Auslegung*. Diese Auswahl trifft der Ausleger, der sich aber noch hinter den breiten rabbinischen Schultern versteckt. Terminologisch zeigt sich die Zurückhaltung Raschis, etwas ‚Neues‘ zu bieten, das nicht auf traditionelle Auslegungen zurückgeht, in dem Ausdruck we-omer ani ‚Ich meine |64|(aber) …‘ (vgl. Raschi zu Ps 114,2 u.ö.). Raschis Auslegung sucht also einen alten und für die Bedürfnisse der Zeit nicht mehr ganz adäquaten jüdischen Auslegungskontext durch einen neuen zu ersetzen. In der Kollektion und Neuzusammenstellung (compilatio) liegt das innovative Moment Raschis, das ihn damit zum Kompilator (im lateinischen Sinne) werden ließ.

Raschi war in der Tat der einzige, der den hier dargelegten Anspruch des Auswählens und Kompilierens meisterhaft und in dieser Form auch so konsequent eingelöst hat, sei es, dass er sich auf bestehende Midraschim beruft, diese verkürzt oder komprimiert präsentiert, sei es, dass er selbst quasi einen Midrasch bietet, in dem bestimmte und für den Midrasch typische Fragen aufgeworfen und in diesem Sinne gelöst werden. Als Beispiel sei Gen 4,8 angeführt: Da sagte Kain zu seinem Bruder Abel – und es war, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder (…). Raschis Kommentar erwächst aus dem Problem, dass wir nicht erfahren, was gesprochen wurde:

Raschi zu Gen 4,8Da sagte Kain zu Abel: Er begann mit ihm Worte des Streits und Zanks, um einen Vorwand gegen ihn zu haben, um ihn (dann) töten zu (können). Es gibt hierzu aggadische Midraschim, aber dies ist die inhaltliche Auflösung [d.h. die wörtliche Bedeutung] des Verses (jischuvo schel miqra).

Gen 4,8a ist ein syntaktisch problematischer und wahrscheinlich nicht ganz vollständiger Halbsatz, denn was gesprochen wurde, wird hier nicht mitgeteilt. Schon die Septuaginta* und in ihrer Folge die Vulgata* ergänzen an dieser Stelle die Aufforderung Kains an Abel, aufs Feld zu gehen. Der Midrasch ad loc. bietet eine bunte Palette von Möglichkeiten an, worum es gegangen sein könnte: die beiden Brüder wollten die Güter der Welt (bewegliche und unbewegliche) unter sich aufteilen und endeten im Streit; sie stritten um den Platz, auf dem der spätere Tempel erbaut werden würde; sie rangen um die Zwillingsschwester Abels … – eine ganze Reihe mehr oder weniger einleuchtender, die Geschichte aber nur unnötig aufblähender Details, die sich ohnehin niemand merken kann. Der Kommentar Raschis fasst all diese Derasch-Überlegungen* formal zusammen und kreiert damit eine eigene Lösung für das Problem, warum der Bibeltext an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen macht. Die Lücke in der Aussage wird inhaltlich zusammenfassend und übergreifend ausgefüllt, um den Sachverhalt des Satzes sowie seinen besonderen Ausdruck zu erklären.

Jüdische Bibelauslegung

Подняться наверх